Beim Indianermann

„Seine Indianer wohnten in einem Mini-Camp in einer Bücherwand, die bis zur Decke reichte und vollgestellt war mit Indianerbüchern. Die Indianer waren genau so groß wie meine Elastolin-Figuren, aber verblüffend naturgetreu und wunderschön angezogen. Sie waren in kleine bunte Decken gehüllt, trugen winzige Federhauben oder klitzekleine schwarze Hüte, hatten dunkle Haare und Gewänder aus echtem Stoff. Mütter trugen ihre Babys in Tragen auf dem Rücken, die Krieger hielten Miniaturwaffen und hatten Schmuck, der kleiner war als die kleinsten Stecknadeln. So was konnte man bestimmt nur mit einer Lupe herstellen! Wir bewunderten die bemalten Tipis, die hölzernen Gestelle zum Trocknen von Fischen und Tierfellen, die gefleckten Pferde mit echten Mähnen und Schweifen, die winzigen Knochen und Krallen. Wir hätten stundenlang einfach nur da stehen und alles anschauen können. Richtige Szenen waren hier aufgebaut, genau wie im Film. Winnie sah aus, als würde sie jeden Moment ausklinken. „Hamse die etwa echt alle selbs’ jemacht?“ Er nickte.

Der Indianermann verriet uns sogar, woher er das Material für seine kleinen Figuren hatte. Die Knochen stammten aus dem Gewölle von Eulen, das er vorsichtig mit einer Pinzette zerteilt hatte, die Bärenklauen waren in Wirklichkeit die mit feinsten Werkzeugen gefeilten Krallenspitzen sehr kleiner Vogelarten. Es musste eine Wahnsinnsfrickelei gewesen sein, und unser Gastgeber gestand, dass er pro Indianer mindestens fünfzehn Stunden gebraucht habe.

Wir bekamen Limonade und Chips und hörten gebannt zu, wie der Indianermann uns noch mehr aus seiner Kindheit erzählte. Köln hatte damals in Schutt und Asche gelegen, weil so viele Bomben auf die Stadt gefallen waren, und der kleine „Indianerjunge“ war in den Steinbergen herumgeklettert und mit Pfeil und Bogen zwischen den Trümmerwällen umhergestreift, während die anderen Jungen Fußball spielten. Einmal hatte er auf einen roten Mercedes gezielt, weil er einen idealen Büffel abgab. Leider war der kleine Junge ein guter Schütze, traf den Büffel voll in die Flanke und machte eine fette Katsche in die Fahrertür. Der Fahrer sprang laut schimpfend aus seinem Büffel und verfolgte den Bogenschützen wütend durch die Trümmer, doch der rannte schnell wie der Wind in sein Versteck in der Krypta der St. Mechternkirche und wartete mucksmäuschenstill, bis sein Feind abgezogen war. „Und der hat Sie echt nich’ erwischt?“, fragte Winnie. „Nein, glücklicherweise nicht. Obwohl mein Kostüm so bunt war, dass man es schon von weitem leuchten sah. Aber ich kannte das Trümmerfeld glücklicherweise wie meine Westentasche.“ Wir waren schwer beeindruckt.

„Haben Sie auch Federn?“, fragte Winnie. Er grinste. Was für eine Frage! Natürlich hatte der Indianermann Federn! In allen Größen. Auch von ganz seltenen Vögeln, die unter Naturschutz standen. Er hatte sogar zwei große Schubladen voller Federn! In einer Vitrine im Nebenraum bewahrte er seine Federhauben auf, die er zum Teil selbst restauriert hatte. Dass man dafür jedes Mal eine Einfuhrgenehmigung vom Zoll brauchte, hätten wir nicht gedacht. Dass Federn bei Indianern eine ganze Menge ausdrücken konnten, wusste ich von Winnie. An ihnen konnte man ablesen, ob ein Krieger im Kampf verwundet worden war, ob und wie er seine Feinde getötet hatte und welche besonderen Heldentaten er vollbracht hatte. Nur ganz bestimmte, extrem mutige Menschen durften Federn tragen. An den Seiten und hinten an den Hauben hingen lange schmale Fellstücke. „Hermelin“, sagte Winnie. Hier konnte sie endlich mit ihrem Wissen glänzen, und ich bewunderte sie aus vollstem Herzen.

(……) Es war ein bisschen wie im Museum und wie in der Schule, aber auch wie in einem Film, in den man rein zufällig geraten ist, ohne seine Rolle zu kennen. Zum Schluss sprachen wir noch über Wölfe, und ich konnte endlich mitreden. Die Zeit verging so schnell, dass wir völlig überrascht waren, als Rita plötzlich vor der Tür stand und uns abholen wollte. Es fühlte sich an, als kämen wir aus einer anderen Welt. Rita war bester Laune, hatte aber keine Lust reinzukommen, denn sie machte sich nicht viel aus Indianern und dachte wohl, wir wären dem Indianermann schon genug auf den Keks gegangen. Aber so wirkte er ganz und gar nicht. Vielleicht merkte er ja, dass Winnie in Wirklichkeit eine Lakota war, die nur durch einen dummen Zufall bei der Wiedergeburt bei Klaarenboms in Kattendonk gelandet war.“ (Aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)

Den Indianermann gibt es übrigens wirklich, und er ist tatsächlich genau so nett wie ihn die kleine Marlies im Buch beschreibt.

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Klosterschule Niersbeck (1)

Manche Jahre haben ihren eigenen unverwechselbaren Klang. Das Jahr 1966 singt in meiner Erinnerung mit den Stimmen von Frank Sinatra und Roy Black, Udo Jürgens, den Beatles und The Mamas and the Papas und ist untermalt von Liedern wie Strangers in the Night, Ganz in Weiß, Merci Cherie, Yellow Submarine und Monday, Monday. Kronprinzessin Beatrix der Niederlande heiratete Claus von Amsberg, ein Weißwal verirrte sich in den Rhein, Bundeskanzler Ludwig Erhard trat nach drei glücklosen Jahren von seinem Amt zurück, Tante Maria und Tante Katrinchen schafften endlich ihr Plumpsklo ab und bekamen ein richtiges Badezimmer, Tante Finchen gönnte sich einen neuen Fernsehapparat, und Winnie und ich wechselten pünktlich nach dem vierten Schuljahr von der Kattendonker Volksschule auf das katholische Mädchengymnasium in Niersbeck.

Es begann mit einem Schock. Gleich am ersten Tag wurden wir getrennt. Winnie protestierte, ich klammerte mich stumm an meine Schultasche, doch es half alles nichts. Die Ordensschwestern blieben hart. „Wir können hier keine Ausnahme machen, Mädchen, wo sollte das sonst hinführen!“ Niersbeck war eine beliebte Schule mit einem hervorragenden Ruf, sogar die Prügelstrafe war hier verboten, und es gab in diesem Jahr so viele Sextanerinnen, dass man sie auf drei Klassen verteilt und der Einfachheit halber nach Herkunftstort und Alphabet platziert hatte. Wir konnten von Glück sagen, dass wir noch in derselben Klasse waren und uns wenigstens aus der Ferne sehen konnten, auch wenn wir uns dabei fast den Hals verrenkten.

Blick auf die kleine Brücke im Schulpark (BFL)

Nur in den Pausen konnten Winnie und ich zusammen sein und uns in die Tiefen des Parks zurückziehen. Doch selbst dort war man nicht ungestört, denn überall lauerten Ordensschwestern. In der ersten Zeit erstarrten wir jedes Mal vor Ehrfurcht, wenn wir ihnen begegneten. Sie erschienen uns mit Vorliebe zu zweit und verbargen sich hinter Bäumen und Büschen, um im geeigneten Moment unverhofft hervorzutreten, ein Phänomen, das mir nur noch einmal im Leben begegnete: bei der Highway Patrol in der Wüstenlandschaft des Mormonenstaats Utah, wo buchstäblich hinter jedem Kaktus ein perfekt getarnter Streifenwagen lauerte.

Am Schwanenweiher (BFL)

Zur Verwirrung der Sextanerinnen sahen die Ordensschwestern zunächst alle gleich aus. Doch schon nach wenigen Wochen hatten sich unsere Augen an sie gewöhnt, und bald konnten wir sie mühelos unterscheiden, denn sie schritten, niesten, lachten, kicherten und hüstelten höchst individuell. Mit der Zeit schafften wir es sogar, sie am leisen Wuuusch ihrer jeweiligen Gewänder zu identifizieren, wenn sie um die Ecke bogen. Während unserer ersten Schuljahre trugen sie noch eine schwarze Ordenstracht mit langem Schleier, der an einem hufeisenförmigen weißen Rahmen befestigt war. Vor ihrem Bauch baumelte ein großes silbernes Kreuz, und ihre Füße steckten je nach Witterung in altmodischen, aber sicher überaus praktischen Schuhen oder Sandalen. Novizinnen erkannte man an ihrer Jugend und der reinweißen Tracht. Sie blieben leider nie lange, schwebten wie exotische Vögel durch den Park und entschwanden meist irgendwann nach Afrika in die Mission. (Aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)

Das alte Physikhaus (BFL)

Der alte Park mit den riesigen Bäumen, der zu meiner „richtigen“ Schule gehört, hat sich im Laufe der Zeit tatsächlich stark verändert. Wie sehr, stellte ich fest, als ich beim Schreiben im Internet nach alten Postkarten suchte. Auf einigen war sogar noch zu sehen, wie die Anlage zur Zeit der Jahrhundertwende aussah. In den ersten Jahren floss die Niers übrigens noch durch den Park, wurde jedoch 1927 auf Wunsch der Ordensschwestern umgeleitet, möglicherweise fühlten sie sich gestört, da Fremde auf dem Wasserweg ungehindert mit ihren Booten in das Schulgelände gelangen konnten.  Auch meine eigenen Fotos vom Klassentreffen Ende der achtziger Jahren sind inzwischen schon ein echtes Zeitzeugnis.

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Künstlerin vom Niederrhein: Ulla Genzel

Ulla Genzel kommt aus Kevelaer, einem bekannten niederrheinischen Wallfahrtsort, und ist in ihrer Heimat inzwischen eine bekannte Künstlerin. Auch „mein Dorf“ (damals war es noch klein) pilgerte jedes Jahr nach Kevelaer, und ich kann mich nur allzu gut an die schmerzenden Blasen unter meinen Füßen erinnern. Mein erster Roman „Mit Winnie in Kattendonk“ (mein Fantasiename für Grefrath) spielt am Niederrhein, und ich finde den Zufall bemerkenswert, dass Ulla ausgerechnet in Winnekendonk wohnt – das klingt fast wie mein Buchtitel! Ihr wimmeliger Markttag weckt bei mir gleich alte Erinnerungen.

Markt in Winnekendonk

Wenn ich Ullas Bilder sehe, bekomme ich jedes Mal Heimweh. Nach meiner Kindheit, meiner Freundin Winnie, nach alten Scheunen und bunten Blumenwiesen, nach Weiden mit friedlich grasenden Kühen und Pferden, nach Weihrauchduft und Kevelaer, nach kleinen Flüssen und Kopfweiden – eben nach dem Niederrhein, wo er am schönsten ist. Ich kenne Ulla aus einer kreativen fb-Gruppe und inzwischen sind wir längst „richtige“ Freundinnen. Wir haben vieles gemeinsam, etwa die Liebe zur Natur und zum farbenprächtigen Herbst, wir mögen beide St. Martin (natürlich mit den alten Liedern!) und den stillen Winter, frischen Schnee und geheimnisvollen Nebel.

Aber der Niederrhein ist natürlich zu allen Jahreszeiten wunderschön. Momentan gibt es dazu (bis zum 24. April) eine Ausstellung mit Ullas Bildern im Foyer des Gelderner Bürgerbüros. Sie heißt „Jahrszeiten am Niederrhein“.

Schaukel für Dana

Viele von Ullas Bilder haben kleine Geschichten. Die üppige Blumenwiese mit der Schaukel für Dana hat Ulla für die Tochter einer Freundin gemalt.

Der Duftgarten der blinden alten Dame

Ulla Genzel ist gelernte Gärtnerin und hat mir erzählt, dass sie vor vielen Jahren einen Duftgarten für eine blinde alte Dame angelegt hat, die nicht immer blind gewesen war und sich daher die Farben und Formen der Pflanzen und Blumen sehr genau vorstellen konnte. Sie wußte daher auch, welche Blumen sie am liebsten in ihrem Garten haben wollte, und der Duftgarten wurde mit viel Liebe angelegt und gärtnerisch gepflegt. Anhand der verschiedenen Düfte konnte sie sich sehr sicher darin bewegen und wußte genau, wo sie gerade war. Und so wanderte die zierliche alte Dame so oft es das Wetter zuließ zu ihrer kleinen Bank am Ende des Gartens und genoss auf dem Weg all die vielen, vielen Düfte, blieb stehen, atmete tief ein, berührte die Pflanzen. Sie sagte, dass sie ihren Garten sehr wohl sehen konnte, wenn auch nur in ihrer Vorstellung. Ulla hat dieser ganz besondere Duftgarten damals so gerührt, dass sie ihn gemalt hat. Es war eins ihrer ersten Ölbilder.

Die kleinen Vorschaubilder können Sie anklicken und sehen sie dann in Groß.

„Im Dezember 1960 wurde ich in Kevelaer geboren und bin auch dort aufgewachsen“, erzählt Ulla über sich. „Ich erlernte den Beruf der Gärtnerin, da sich schon früh die Liebe zur Natur bei mir abzeichnete. Schon seit frühester Kindheit habe ich gerne gemalt, auch um meinem Großvater nachzueifern, der wunderschöne Bilder in Öl malte. 1987 nahm ich Unterricht bei einer Kevelaer Künstlerin, um das Aquarellmalen zu erlernen. Sie gab mir einen Satz mit auf meinen Weg, der mich bis heute begleitet: „Male was du siehst, nicht was du weißt!“ Zwei Jahre später gründete ich eine Künstlergemeinschaft und wir machten unsere erste Ausstellung. Ich verkaufte die meisten meiner Bilder, doch ich war todunglücklich. Irgendwie waren die Bilder wie meine Kinder, ich konnte mich kaum von ihnen trennen. Nachdem sich die Künstlergemeinde aufgelöst hatte, malte ich jahrelang nur für mich selbst und für meine Freunde und meine Familie. Vor drei Jahren entdeckte ich das Acrylmalen und war sofort begeistert, denn man kann Acryl verwenden wie Aquarell oder auch wie ÖL. Ein guter Freund meldete mich ohne mein Wissen bei einer Ausstellung an. Ich hätte ihm am liebsten den Kopf abgerissen! Doch ich machte mit. Und auch diese Ausstellung wurde ein Erfolg. Seitdem male und male ich, die wundervolle Natur um mich herum, am liebsten aber die niederrheinische Landschaft. Inzwischen ist Malen kein Hobby mehr, sondern eine Passion. Mittlerweile bin ich freischaffende Künstlerin. Wenn ich male, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt, und ich wünsche mir, dass man das meinen Bildern auch ansehen kann.“

Ich finde, man sieht es ihren Bilder nicht nur an, man fühlt es auch!

Seit meiner letzten Lesung in Kevelaer bin ich stolze Besitzerin eines kleinen Gemäldes von Ulla, das den Namen „Kattendonk“ trägt und durch mein erstes Buch inspiriert wurde. Vielleicht fällt ihr zu „Niersbeck“ (mein Fantasiename für Mülhausen) ja auch ein kleines Gemälde ein? Für mein Pferdekapitel hat Ulla mir übrigens den Namen ihres Lieblings Butterblume geschenkt.

Besonders gefreut hat mich, dass Ulla als erste Testleserin meines neuen Buches an einigen Stellen so lachen musste, dass ihr Hund verblüfft zu bellen anfing. Ein größeres Kompliment kann ich mir gar nicht vorstellen!

Ich freue mich schon sehr auf meine Lesung in Kevelaer im Rahmen der Landpartie am Niederrhein, die am 10. und 11. Juni stattfindet. Spätestens dann sehen wir uns wieder!

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Wo in aller Welt liegt Kattendonk?

Die Orte in meinen beiden Niederrhein-Romanen wird man auf realen Landkarten vergeblich suchen, denn sie existieren ausschließlich auf der imaginären Vergangenheitskarte in meinem Kopf. Mit etwas Glück kann man sie aber trotzdem finden, am besten bei Dämmerung an besonders nebligen Herbsttagen. Kattendonk liegt unmittelbar an der alten Landstraße zwischen Grefrath und Hinsbeck, wo es niederrheinischer gar nicht sein kann, und beginnt gut tausend Schritte hinter dem ehemaligen Grefrather Krankenhaus. Grotekerk befindet sich einige Kilometer weiter auf der linken Seite derselben baumbestandenen Landstraße, kurz vor der Kurve mit den Bauernhöfen und der weißen Windmühle. Die Klosterschule Niersbeck mit dem malerischen Park, den mächtigen Bäumen und dem Schwanenweiher verbirgt sich gut versteckt hinter dem Fluss, der Grefrath von Oedt und Mülhausen trennt, und hat möglicherweise einige Gemeinsamkeiten mit dem 1888 gegründeten größten Gymnasium im Kreis Viersen, das sich dort heute rein zufällig befindet. Nur meine geliebte Dorenburg habe ich nicht verändert, denn sie lag schon immer in einer ganz besonderen Zeitfalte und öffnet mir heute bei jedem Besuch aufs Neue das Tor zurück in die Kindheit.

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