Rooms and Stories – „Englischer November“

Themse bei Ebbe, Gravesend  (BFL)

Englischer November

Es war der kälteste Winter seit vielen Jahren, und das kleine Haus, das Marilyn und ich für etwas mehr als 100 Pfund im Monat gemietet hatten, besaß nur eine lächerlich schwache Heizanlage, die durch ein verstaubtes Gitter im Kamin warme Trockenluft in die Zimmer blies. Uns war ständig kalt, wir tranken mindestens zwanzig Tassen Tee am Tag und waren bestens mit Wärmflaschen, Wollhosen und Nachtjacken ausgestattet. Selbst im Haus trugen wir dicke Strickpullover und hatten wegen des Dauerschnupfens stets eine Notration Otriven und Disprin griffbereit. Fast jede Woche gab es Streiks, doch man gewöhnte sich schnell daran, weil keiner sich beschwerte, und es im Grunde ganz unterhaltsam war, denn man wusste nie, wer als nächstes streiken würde. Die Krankenhäuser, die Ärzte, die Elektrizitätswerke, die Polizei? Die Müllabfuhr, die Lastwagenfahrer, die Minenarbeiter, die Krankenschwestern, die Busfahrer, British Rail? Schlimm wurde es nur, wenn man abends auf einem leeren Londoner Bahnhof stand und nicht nach Hause kam, weil kein einziger Zug mehr fuhr. Auch die Gebirge aus schwarzen Müllsäcken, in denen sich sogar tagsüber die Ratten vergnügten, waren kein schöner Anblick.

            Eines Morgens, es war Anfang November, standen die Menschen vor den Bäckereien Schlange, redeten sich warm und stampften mit den Füßen die Kälte nieder. Es sah aus wie auf den Nachkriegsfotos meiner Eltern. Ab morgen würden die Bäcker streiken, informierte mich der Fahrer, als ich mit fragendem Blick in den Schulbus stieg. Marilyn hatte verschlafen. Sie stand immer zu spät auf, weil sie erst um fünf ins Bett ging und am besten einschlief, wenn es anfing, hell zu werden. Ich hatte längst aufgegeben, sie pünktlich zu wecken, weil es ohnehin nichts half und sie davon nur schlechte Laune bekam. Trotzdem schaute ich immer kurz in ihr Zimmer, bevor ich mich auf den Weg machte. Meist lag sie auf der Seite und war unter Deckenschichten und Kissenbergen verborgen. Nur ihr dunkles Haar, das sie nachts zusammenband, war zu sehen.

            Später stand ich im warmen Lehrerzimmer am Fenster und sah sie mit wehendem Schal aus dem Bus springen und zum Schulgebäude hasten. Kurz darauf stürmte sie herein, ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen und hatte gerade noch Zeit, einen eiligen Schluck Tee zu trinken. Mit viel Milch, weil er sonst zu heiß war. Ich hängte ihren Mantel an den Haken, während sie ihr Unterrichtsmaterial zusammenklaubte und hinaus auf den Flur lief. Sie fing zum Glück später an als ich, aber sie war trotzdem kein einziges Mal pünktlich. Und sie schaffte es jeden Tag, den Toast anbrennen zu lassen. Wir hatten keinen Toaster und legten die Brotscheiben auf ein Gittergestell über den Gasflammen, und bis heute muss ich an Marilyn denken, wenn ich verbrannten Toast rieche.

            Sie trug ihr Haar lang damals, dickes gewelltes Haar über einem birkenschlanken Hals. Haar, das viel zu üppig war für die kleine zierliche Person. Haar, das man sich um die Hand schlingen konnte, das Stunden zum Trocknen brauchte und auf dicke Wickler gedreht werden musste, damit man es überhaupt bändigen konnte. Föhnen konnte man es nicht, weil es dann wie eine dunkelbraune Löwenmähne abstand, also wurden zwei Abende in der Woche zum Lufttrocknen geopfert. Wir saßen auf dem Sofa im Wohnzimmer mit der Sonnenblumentapete und lasen uns irische Kurzgeschichten vor oder sahen fern. Manchmal bis zwei Uhr morgens. Samstags gab es die berühmten „Midnight Movies“, Gruselfilme, die Marilyn sich allein anschauen konnte, ohne vor Angst umzukommen. Um sie zu ärgern, stahl ich mich vor drohenden Mordszenen oder Vampirauftritten gelegentlich schnell aus dem Zimmer und wartete im Flur, bis sie entsetzt nach mir schrie, weil Christopher Lee gerade zugebissen hatte, Nosferatu lange Schatten warf oder John Christie die Würgeschlinge zückte. Mit der Zeit wusste ich genau, wann ich hinausgehen musste.

            Wir hatten die Warnung des Busfahrers nicht ernst genommen. Schon am nächsten Tag war tatsächlich im ganzen Ort kein Brot mehr zu bekommen. Auch kein Mehl, denn die vorsorglichen Hausfrauen hatten sich rechtzeitig eingedeckt und sämtliche Regale leer gekauft. Aber wir hätten ohnehin nicht selbst Brot backen können. Auch Knäckebrot und Zwieback waren ausverkauft. Am Ende gingen wir in das elegante „Delikatessen“ am Echo Square, das wir normalerweise nie betraten, und kauften teuren, luftdicht verpackten Pumpernickel, der schon ewig im Regal gelegen hatte und aus Deutschland importiert war. Ein hungriger Engländer hätte das rabenschwarze Zeug wahrscheinlich auch in höchster Not nicht angerührt. Die Dame hinter der Theke war offenbar froh, den Ladenhüter endlich loszuwerden, und strich immer wieder über die Verpackung. „Really good stuff!“ Danach ernährten wir uns von steinharten Ingwerplätzchen, die man stundenlang in Tee tunken musste, um seine Zähne nicht zu gefährden.

            Fast jeden Abend ertrugen wir die lästigen Kontrollanrufe von Marilyns Verlobtem, der zu Recht fürchtete, dass sie ihn nicht sonderlich vermisste, und sie mit Vorwürfen und Liebesschwüren überschüttete. Ich saß im Wohnzimmer und konnte mich nicht konzentrieren, während Marilyn verzweifelt den Hörer ans Ohr presste und „oui“, „non“ und  „mais pas du tout“ sagte. Danach war sie oft in Tränen aufgelöst, weil sie seine Eifersucht nicht ertrug, mochte jedoch nicht darüber reden. Es war eine komplizierte Beziehung, wie fast alle ihre Beziehungen. Zum Ausgleich liefen wir anschließend eingemummt wie Eskimos hinaus in die Nacht, warfen unsere Strickmützen in die Luft und sangen die „Marseillaise“ und „Auld Lang Syne“, rannten und hüpften hinunter zum Hafen, um die Möwen zu stören und den Lotsen auf ihrer Fahrt zu den großen Schiffen zuzusehen, die weiter nach London wollten und bei uns kontrolliert wurden. Ihre gelben und roten Lichter spiegelten sich in der Themse, und wir hielten uns lachend umschlungen, während unsere dicken weißen Atemwolken sich vermischten. Einen der Lotsen kannten wir näher. Er wohnte auch in der Kitchener Avenue, nannte uns „the two strange ladies“ und lud uns gelegentlich ins nächtliche Lotsenhaus ein. Wir bekamen Tee in großen hellblauen Tassen, die so schwer waren, dass man sie mit beiden Händen halten musste. Die Lotsen rauchten und erzählten von merkwürdigen Funden auf den ausländischen Schiffen, die anschließend versiegelt werden mussten und gar nicht erst nach London weiterfahren durften. Unser Lotsenfreund hatte seinen eigenen Teebecher, kein anderer durfte ihn anrühren, darauf legte er Wert. Es war der Kopf von Prinz Charles, und die Ohren waren die Henkel. Danach rannten wir die Royal Pier Road hinauf, wo im Sommer die Seeleute ihre Tätowierungen zur Schau stellten und den englischen Mädchen nachpfiffen, bis zur Anlegestelle der Tilbury Fähre, die im Winter bei Regen, Nebel und Schnee nicht verkehrte, was damals bedeutete, dass sie ziemlich selten fuhr.

            Am schlimmsten waren in diesem Winter die vielen Power Cuts, die als Druckmittel für höhere Löhne eingesetzt wurden und schlagartig die Stadt in Finsternis tauchten. Wie im Theater, wenn plötzlich das Licht ausgeht, und das Publikum erschrocken den Atem anhält. Angeblich wurden die Unterbrechungen im Radio angekündigt, doch wir hatten kein Radio. Bei meinem ersten Power Cut wohnte ich noch allein in unserem Haus. Ich nahm an, die Hauptsicherung wäre herausgesprungen, weil ich überall im Erdgeschoss das Licht hatte brennen lassen und gleichzeitig gebügelt und Radio gehört hatte. Vielleicht war das zu viel für den Stromkasten, wo immer er auch sein mochte? Ich fand mich in dem fremden Haus noch nicht zurecht und beschloss, mir nebenan Unterstützung zu holen. Doch draußen sah ich zu meinem Schrecken, dass nicht nur unser Haus dunkel war, sondern die ganze Straße. Und nicht nur unsere Straße, sondern die ganze Stadt! Hatte ich etwa einen kompletten Blackout verursacht? Mr. Bambridge von nebenan lachte dröhnend und klärte mich auf, äußerst umständlich und mit ehrlichem Mitgefühl für die Streikenden, denn sein Sohn arbeitete auch im Elektrizitätswerk. Beim nächsten Power Cut war ich schon besser vorbereitet, beim zehnten hatten wir uns daran gewöhnt. Mit der Dunkelheit kamen die vertrauten Abschiedsgeräusche. Das Radio verschluckte sich, der Wasserkessel verstummte, der Plattenspieler zog die Töne lang. Es folgten Stille und Kälte, denn auch die Heizung funktionierte mit Strom. Die Taschenlampe lag irgendwo in der Küche, und auf der Ablage neben der Tür befand sich ein Depot aus Kerzen und Streichhölzern, das ständig aufgefrischt werden musste. Doch leider waren die Kerzen wegen der regen Nachfrage oft tagelang ausverkauft. Mit etwas Übung konnte man sie sogar im Finstern finden und anzünden, ohne sich die Finger zu verbrennen. Nachdem Marilyn eingezogen war, fand ich die Power Cuts nicht mehr ganz so schlimm. Mitunter machte es sogar Spaß, wie Kinder unter die Wolldecken zu kriechen, einander zu wärmen und Gespenstergeschichten zu erfinden, während man auf das nervöse gelbe Aufflackern der Laterne vor dem Haus wartete. Wenn es geschneit hatte, war es sogar hell genug, um Marilyns grüngraue Augen und die steilen Falten zwischen ihren Brauen zu erkennen. Wenn wir doch nur immer zusammen sein könnten, dachten wir.

            So lange die Läden geöffnet waren, konnte man auch bei Stromausfall einkaufen, denn in den Geschäften in der Kitchener Avenue gab es genug Kerzen und Paraffinlampen, auf kleinen Gaskochern wurde frisches Teewasser für die durchgefrorenen Kunden gekocht, und von allen Seiten erhielt man Mitgefühl und aufmunternde Ratschläge. „Could be worse!“, meinte Mrs. Brisbane, die einen gemütlichen Souvenirladen an der Old Road East besaß, der bei Stromausfall der beliebteste Treffpunkt der Gegend war. Manchmal zündete sie Räucherstäbchen an, die wie Glühwürmchen im Dunklen leuchteten, und stellte Laternen mit Stumpenkerzen ins Schaufenster, in deren Schein die indonesischen Stabpuppen zittrige Monsterschatten warfen. Nur beim Greengrocer war es schwierig. Im Dämmer konnte man weder den Einkaufszettel noch die Waren richtig sehen, die Kasse funktionierte nicht ohne Strom, und für die alte Waage war es auch zu dunkel. Mr. Mitchel, ein untersetzter kleiner Mann mit einem silbernen Haarkranz, musste mühsam auf kleinen Zetteln ausrechnen, wie viel man ihm schuldete. Meistens verrechnete er sich dabei und zerriss das Papier gleich wieder, doch seine gute Laune konnte das nicht trüben.

            Nur den Supermarkt besuchten wir ausschließlich tagsüber, denn er war weit weg, und wir hatten jedes Mal schwer zu schleppen. Marilyn kochte genau so ungern wie sie aß, und ich hatte keinen rechten Appetit, wenn ich allein essen musste. Daher war unser Speiseplan ziemlich eingeschränkt. Wir kauften vor allem Toast, Butter und Mais, aber nur die mit dem lachenden grünen Riesen, Orange Marmalade, aber nur Thick Cut, English Breakfast Tea von Twinings, Crumpets, Kartoffelchips und alle Arten von Plätzchen. Manchmal auch Heinz Ketchup und Sandwich Spread. Und Erbsen, Marilyns Lieblingsgemüse, aber nur tiefgefrorene, denn die englischen Dosenerbsen waren damals schon wegen der giftgrünen Farbe ziemlich ungenießbar. Fleisch kauften wir nie, denn Marilyn war Vegetarierin. Und Käse konnte sie nicht ausstehen. Der größte Teil unseres gemeinsamen Haushaltsgelds wurde leider nicht für Lebensmittel ausgegeben, denn Marilyn bestand darauf, jede Woche mehrere Riesenflaschen mit Putz- und Desinfektionsmitteln zu kaufen. Sie stammte aus Südfrankreich und wurde die Angst nicht los, dass sofort Heerscharen von Küchenschaben über uns herfallen würden, wenn sie auch nur ein einziges Mal vergessen sollte, Desinfektionsmittel auf jedes erreichbare Fleckchen zu schütten. Unser Haus war höchstwahrscheinlich das sauberste im ganzen Ort. Schon an der Eingangstür roch es eindringlich und scharf nach Chlor. Schaben bekamen wir nie zu Gesicht, was Marilyn einzig und allein ihrer Reinlichkeit zuschrieb.

            Ohne Power Cuts saßen wir abends mit untergeschlagenen Beinen im Esszimmer, hörten die Eagles und Simon and Garfunkel, tunkten Kekse in Tee und schrieben Tagebuch oder Briefe nach Hause. Wir bereiteten unsere Unterrichtsstunden vor oder übersetzten gemeinsam Gedichte von Jacques Brel, Verlaine und Baudelaire. Trotzdem herrschte eine melancholische Stimmung, denn unsere erste Trennung näherte sich unaufhaltsam. Marilyn flog bereits Ende November nach Frankreich und würde bis nach Weihnachten fort bleiben.

            Die Nacht vor ihrer Abreise war zu kostbar zum Schlafen, daher hielten wir uns mit Schokolade und Tee wach. Der Morgen kam trotzdem, und wir fuhren mit den schweren Koffern zum Londoner Flughafen. British Rail streikte ausgerechnet an diesem Tag nicht. Auch das Flughafenpersonal streikte nicht. Marilyn sagte leise „See you after Christmas“, und ihr ernstes kleines Gesicht wurde verschluckt von fremden Mänteln und Körpern. Ich fuhr hoch aufs Flughafendach und bezahlte 10 Pence, um ihren Air France Vogel schwerfällig abheben und in den Wolken verschwinden zu sehen. Es war kalt und unwirtlich, doch ich blieb trotzdem draußen, weil Frieren immer noch besser war als Tränen. Nicht abstürzen, Marilyn, nur nicht abstürzen. Danach fuhr ich zurück in die Stadt, ging in meine Lieblingsbuchläden in der Charing Cross Road und kaufte immer mehr Bücher, um Marilyns Gesicht zu vergessen. Im überheizten Zug las ich kanadische Wintergedichte und ließ mich vom Waggon durchrütteln. Am heimatlichen Bahnhof erwartete mich wie immer Königin Victoria auf ihrer Säule, und ich beschloss, trotz der schweren Bücher zu Fuß nach Hause zu gehen. Marilyn rief noch am Abend an, doch wir waren zu bewegt, um ohne lange Pausen sprechen zu können. Ich nahm mir fest vor, das Haus erst wieder zu verlassen, wenn sie zurück war. Doch schon nach wenigen Tagen besiegte mich die Einsamkeit. Außerdem musste ich unbedingt meine Briefe an Marilyn zur Post bringen.

Die ursprüngliche Fassung dieser Erzählung erschien 1989 in der Anthologie „Frauen schreiben Geschichte(n)“ im Marabuch Verlag, Köln, copyright BFL

Two Ladies (BFL)

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Rooms and Stories – Just a Phone Box

phone box (William Krause/unsplash)

Die rote Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Seite der Kitchener Avenue war mein nächtlicher, tröstlicher Anker bei Sonne, Regen, Nebel und Schnee. Aber sie war noch viel, viel mehr, denn sie erwiderte meine Liebe und war oft genug richtig nett zu mir. Möglicherweise war ich sogar ihr Liebling, weil ich ihr jeden Abend eine gute Nacht wünschte und jeden Morgen einen guten Tag. Als ich noch in dem kleinen box room schlief, hielten wir nachts stumme Zwiesprache und ich klagte ihr oft genug mein Leid. Sie erfuhr als erste, dass ich nach meinen stressigen Auftritten in den beiden englischen Schulen auf gar keinen Fall Studienrätin werden wollte oder dass ich mich verliebt hatte. Außerdem wusste sie mit der Zeit eine Menge über meine familiären Probleme. Mehr als mir lieb war, denn sie war Zeuge etlicher hochkomplexer Gespräche.

phone box (Linus Belanger/unsplash)

Meine Mutter tat sich wie erwartet äußerst schwer damit, dass ihre Tochter gegen ihren ausdrücklichen Rat im Ausland weilte, und erwartete mehrfach die Woche (insgeheim wahrscheinlich sogar täglich) lange Telefonate mit genauen Details. Schließlich war sie, anders als ich, eine passionierte Marathonsprecherin und wollte alles aus dem Leben ihrer  verlorenen Tochter wissen. Von unserem Privatanschluss wollte ich sie nicht anrufen, weil das die gemeinsame Telefonrechung ins Astronomische hochschnellen lassen würde, außerdem fand ich es unfair, das Haustelefon stundenlang zu blockieren. J. und C. wollten oder mussten schließlich auch telefonieren. Immerhin wurde J. bereits jeden Abend von ihrem französischen Verlobten besprochen. Ich bat meine Mutter daher, nicht jeden Abend anzuläuten, und wir einigten uns auf einen Kompromiss.

Wir beschränkten uns auf zwei Telefonate die Woche, sonntags rief sie bei uns an, und Mitte der Woche begab ich mich in die rote Telefonzelle gegenüber. Im Winter war es dort sehr kalt, im Sommer sehr warm, so dass man die Tür aufhalten musste, was gar nicht einfach war. Meist roch es nicht sehr angenehm, und man musste den Einwurfschlitz ständig mit Münzen füttern, was überaus lästig war. Die Gespräche wurden damals noch dauernd von lauten, nervenden Pipp-Pipp-Pipp-Pipps unterbrochen, die anzeigten, dass auf der Stelle frische Coins erforderlich waren. Ich hatte mir vorsorglich eine größere Sammlung davon zugelegt. Bei Ferngesprächen waren die Münzforderungen besonders häufig und störend, denn sie ertönten gefühlt im Sekundentakt. Normalerweise. Wenn J. mit Frankreich telefonierte, war dies auch immer der Fall. Bei Telefonaten nach Deutschland ebenso. Es sei denn, ich rief meine Mutter an.

phone box (Sergey Omelchenko/unsplash)

Ich kann es mir nur so erklären, dass die Phone Box entweder Mitleid mit mir hatte oder meine Mutter erfrischend dynamisch fand. Vielleicht auch beides. Ich warf die ersten Münzen ein, sie ließ meine Mutter und mich kurz reden, rief laut Pipp-Pipp-Pipp und blieb danach komplett still, als würde sie den Atem anhalten und gebannt zuhören. Ich war irritiert, aber natürlich auch angenehm überrascht, vor allem finanziell. Ich konnte so lange telefonieren, wie ich wollte oder konnte. Meine rote Phone Box gab keinen Mucks von sich. Allerdings nicht immer. Manchmal griff sie rettend ein und pippte genau im richtigen Moment wie verrückt los, woraufhin meine Mutter genervt und beleidigt aufgab, weil man sie mitten in ihren Ermahnungen unterbrochen hatte.  Nach besonders schwierigen Gesprächen gab die Phone Box mir sogar alle Münzen zurück. Wäre sie ein Mensch gewesen, hätte sie mir wahrscheinlich verschwörerisch zugezwinkert oder mitfühlend übers Haar gestrichen, denn die Replikenwechsel mit meiner Mutter ähnelten eher den Verhören der Heiligen Inquisition als einer normalen Konversation. Die Phone Box verstand offenbar gut Deutsch und lauschte so gebannt, dass sie die Pippser vergaß. Ich habe sehr viele Telefone aus dieser Zelle angerufen. Sie reagierte nur bei dieser einzigen Nummer so großzügig und verständnisvoll. Bei allen anderen bestand sie auf schnellsten Münzwurf, sonst war Schluss mit der Verbindung. Ich spielte mehrfach mit dem Gedanken, der Post den verrückten Netzfehler zu melden, aber sobald ich dies erwog, funktionierte meine rote Freundin mit einem Mal völlig „normal“.

Buzby (BFL)

Einmal gab mir die rote Lady sogar ein Geschenk. Sie ließ es aus dem Nichts vor meine überraschten Füße rollen. Es war ein runder Button mit Buzby, dem orangefarbenen Maskottchen der Post Office Telecomcommunications. Ich war hocherfreut, denn ich hatte einen soft spot für den komischen Cartoon-Vogel, der hoch oben auf den Telefondrähten lebte und ein Dauertelefonierer wie meine Mutter war. Er surrte durch Fernsehspots, sprach mit der Stimme von Bernard Cribbins, zierte Tassen, Aufkleber und Poster und hatte sogar einen großen Kurzauftritt am Piccadilly Circus. Die Buzby-Sätze waren ziemlich witzig: „Absence makes the voice grow fonder“ (eine Abwandlung von „Absence makes the heart grow fonder“, etwa „Die Liebe wächst mit der Entfernung“) oder „Give them the gift oft he gab“ (Jemand, der „the gift oft he gab“ hat, ist auf Deutsch „nicht auf den Mund gefallen“). Mir schenkte meine rote Telefonzelle den Satz „Make someone happy“ (die Kurzversion des berühmten Buzby-Satzes „Make someone happy with a phone call“). Was ihr in meinem Fall eindeutig gelang. Ich verließ sie totally happy, habe den Button immer noch und werde ihn ewig in Ehren halten! Man bekommt schließlich nicht alle Tage ein Geschenk von einer roten Telefonzelle!

Wo mag sie wohl heute sein? Bestimmt nicht mehr an ihrem alten Platz in der Kitchener Avenue. Vielleicht ist sie jetzt ein Bücherschrank? Beherbergt einen Defibrillator? Oder schmückt einen Garten? 

phone box (Mark Aleandri)

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Rooms and Stories – England

London Bus (BFL)

Die ersten viereinhalb Monate in Gravesend schlief ich in dem winzigen box room im ersten Stock. Mehr als Schlafen konnte man dort kaum, denn der Raum war klein und eng wie eine Abstellkammer, lag auf dem Treppenabsatz des Hauses und war gerade mal so lang wie das schmale Bett und nur so breit wie das Bett und ein schlanker Schrank mit Regalabteil. Außerdem gab es noch einen Stuhl, den ich für abgelegte Wäsche benutzte, und ein Miniaturregal mit zwei Brettern, das an der Wand neben dem Kopfende des Betts befestigt war. Normalerweise würde so ein box room als Abstellkammer oder Gästezimmer dienen, doch ich hatte das Pech, darin wohnen zu müssen.

Ich kann mich noch genau erinnern, wie unser netter Landlord, Mr. Holman, mir die Kammer (mit Schräge hätte sie perfekt zu Harry Potter gepasst, doch den gab es damals natürlich noch nicht) zum ersten Mal zeigte. Wohlweislich warnte er mich, bevor er die Tür aufschloss. „I am afraid you‘ve got the tiny room, dear. The French girl was faster, so she got the big one. I’m very sorry. It’s actually REALLY tiny!” Obwohl ich derart vorbereitet war, blieb mir beim Anblick des Zimmers vor Schreck die Luft weg. Ich bemühte mich, gefaßt zu erscheinen, aber ich glaube nicht, dass es mir gelang. Leider neigte ich schon immer zu Klaustrophobie, in einigen Lebensphasen sollte dies später sogar richtig problematisch werden, doch damals war es zum Glück noch auszuhalten, sonst hätte ich den box room nicht eine Nacht ertragen.

Wir befanden uns im September 1977, es würde ein Winter voll harter Streiks folgen, aber davon ahnte ich noch nichts. Streiks gab es damals in Deutschland nicht, jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Im Moment sind sie auch hier an der Tagesordnung, gestern und heute streiken in Köln Busse und Bahnen, vorige Woche das Flughafenpersonal und die Müllabfuhr, und für den 27. März rechnet NRW gar mit einem Mega-Streik inklusive Verkehrschaos.

postbox (Johannes Plenio/unsplash)

In den folgenden Tagen spürte ich zum ersten Mal so etwas wie einen Kulturschock. Alles war so anders. Die Sprache, die Leute, das Essen, der Tagesrhythmus. Ich hatte unbedingt weggewollt aus Deutschland, mein bisheriges Leben war vor kurzem in tausend Stücke zersprungen, ich wollte endlich alles hinter mir lassen, die gescheiterten Beziehungen, den Unifrust, die Probleme mit meiner dominanten Mutter, das Studentinnenheim mit der strengen Hausordnung und den tiefkatholischen Spionen überall. Ich hatte mir viel ausgemalt in den Wochen vor der Abreise, doch mit so einem winzigen Zimmerchen hatte ich nicht mal in meinen Katastrophenvorstellungen gerechnet. Beim Anblick des Harry Potter-Zimmers wäre ich am liebsten in Tränen ausgebrochen und hätte mich an Mr Holmans väterlichen Hals geworfen, aber er war viel kleiner als ich und es gab ja auch noch genug andere, größere Räume in dem Haus in der Kitchener Avenue, das wir uns zu dritt teilten. Three girls.

Während der ersten Tage war ich allein. C., die schon seit längerem hier lebte, war verreist, J. war noch in Frankreich, so dass ich die mir zugänglichen Zimmer im Erdgeschoss in Ruhe erforschen konnte. Die Zimmer der beiden anderen Frauen waren verschlossen, wahrscheinlich hätte ich mich ohnehin nicht hineingetraut, höchstens mal kurz hineingespäht. Unten im Flur stand ein Telefon auf einem kleinen Tisch, immerhin eine mögliche Verbindung zur Außenwelt, aber noch gab es leider keinen Fernseher, der mich ablenken konnte, den würden J. und ich uns erst später gemeinsam in einem Laden leihen. A rented tv set. Ob ich mich hier wohl irgendwann heimisch fühlen würde? Mir kamen beträchtliche Zweifel. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz und traute mich nicht, irgendetwas anzurühren. Die Waschmaschine gehörte C, der Kühlschrank und der Plattenspieler auch. Mir gehörte gar nichts. Ich kam mir vor wie ein Eindringling.

Am nächsten Tag erkundete ich die Straße und die verschiedenen Läden, ging hinunter bis zum Echo Square, wo es ein Delicatessen Geschäft gab, und verbrachte den Abend bei den Holmans, die einen riesigen stacheligen immergrünen Baum genau vor der Tür hatten, der auf Englisch monkey puzzle tree und auf Deutsch Schuppentanne oder Chilenische Araukarie heißt, und zwei freundliche schwarze Scotch Terrier, die Star und Kirsty hießen und sehr intensiv nach Hund rochen. Es gab Lamm, die englische Version schmeckt und duftet leider sehr nach Hammel, dazu Peppermint Sauce und gebackene Kartoffeln.

(Jason Thompson/unsplash)

postbox (Jason Thompson/unsplash)

Als ich am nächsten Morgen aus dem Fenster sah, bot sich mir ein schreckliches Bild. Zwei junge Männer schleppten riesige Schweinehälften an unserem Haus vorbei. Es gab eine Metzgerei einige Häuser weiter, die sich für mich allerdings als sehr hochschwellig herausstellte. Ich hatte schon als Kind Probleme mit dem Geruch von Fleisch, aber englische Metzgerläden rochen zumindest damals äußert dumpf und unangenehm für meine empfindliche Nase, das Fleisch sah zudem irgendwie grau aus und schien völlig ungekühlt in den Theken zu liegen. Ich habe bei diesem butcher nur sehr selten etwas gekauft, zumal J, mit der ich meistens gemeinsam kochte und aß, Vegetarierin war, nur ungern aß und beim Anblick von Fleisch so reagierte, dass man komplett den Appetit verlor. Das einzige, was sie mochte, waren Weißbrot und Plätzchen.

Das Bett im box room war eigentlich eine geniale Konstruktion, denn es besaß einen Unterbau mit Schublade, in der man seinen Koffer und anderes verstauen konnte. Leider gab es im Haus keinen Keller, wie bei den meisten englischen Häusern, und nur einen gefährlichen Speicher, den man über Holzbalken balancierend betreten musste, weil man sonst durch den Boden gefallen wäre. Behauptete zumindest unser Vermieter Mr. Holman.

Völlig neu für mich war das sash window. Mein erstes Schiebefenster! Dummerweise war es undicht, und beim ersten heftigen Regen wurden Bett und Bücher ziemlich in Mitleidenschaft gezogen und ich wachte mitten in der Nacht in einem nassen Bett auf. Mr. Holman reparierte es zügig, nachdem ich es notdürftig und erfolglos mit Verbandsmaterial und Handtüchern versucht hatte. Zwischen Bett und Wand gab es noch eine schmale Klappkonstruktion, eine Art tiefes Geheimfach, in dem man einiges verstauen konnte. In meinem Fall waren es natürlich noch mehr Bücher, denn ich hatte eine große Tasche mit Literatur mitgebracht. Wir hatten in der Uni eine endlose Leseliste bekommen, die ich dringend abarbeiten musste. Außerdem hatte ich, aus welchen Gründen auch immer, ziemlich viele französische Autoren mitgebracht. Camus, Sartre, Baudelaire, Flaubert, Prevost. Nachts las ich fast alles von Sartre in meinem kleinen box room und beschloss nach der Lektüre, dass der Existenzialismus nichts für mich war. Zu hoffnungslos. Zu kalt. Zu deprimierend. Und seit dem Regenguss auch etwas wellig. Aber ich las auch E. E. Cummings und W. H. Auden in diesem Zimmer.

phone box (Mark Aleandri)

Durch das Schiebefenster sah man die Straße und den Himmel. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lehnte eine einsame rote Telefonzelle an der Mauer. Schräg unter einer Straßenlaterne, deren Licht das Dunkel orange und irgendwie jenseitig beleuchtete. Ich liebte die Telefonzelle vom ersten Moment an und sie erwiderte meine Liebe, aber das ist eine andere Geschichte. Rechts über der Szene leuchtete ein besonders heller Stern, wir nannten ihn morning star. In meiner Erinnerung leuchtete er jede Nacht, war aber möglicherweise nur am Winterhimmel zu sehen, denn im Januar zog ich in das Nebenzimmer, wo das Bett weit weg vom Fenster stand. Es waren sogar drei Fenster, um genau zu sein, denn der Riesenraum hatte einen Erker, ein bay window, in dem ich mir todsicher eine Lesebank eingerichtet hätte, wäre es mein Haus gewesen. Strenggenommen war es eine zweigeschossige Auslucht, denn im Erdgeschoss war ein ebensolcher Erker.

Ganz in der Nähe des Hauses gab es einen Briefkasten und eine Bushaltestelle. Bis heute liebe ich die roten englischen Briefkästen, Telefonzellen und Busse. Hoffentlich wird es sie noch lange geben. Wenn ich an meine Zeit in England denke, sehe ich vor allem zwei Farben: Grau und Rot. Und das Rot scheint im Laufe der Jahre immer stärker zu leuchten.

Im Januar des folgenden Jahres geschah das Wunder. The French girl, inzwischen meine Freundin und Vertraute, schlug eines Abends spontan vor, die Zimmer zu tauschen. Ich kann bis heute nicht begreifen, warum sie ihren Raum nicht mochte, aber sie fand ihn zu groß, fühlte sich darin verloren, wollte lieber ein warmes kleines Nest wie den box room, in dem sie sich sicher und geborgen fühlte. Wir zogen gleich am nächsten Tag um und waren danach beide glücklich und zufrieden.

Irgendwann werde ich die beiden Zimmer in Miniaturformat nachbauen. Sie passen perfekt in meine Mäusewelt. Ich muss nur noch ein sash window in der Größe 1:12 finden. Und das passende bay window. Ich habe diese Zeit auch literarisch verarbeitet, unter anderem in der Erzählung „Englischer November“.

Postbox (BFL)

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Hathaway und der Transportkennel

Hathaway (BFL)

Als Stellaluna sich von ihrer Kastration erholt hatte, war endlich Hathaway an der Reihe. Es war höchste Zeit. Sein Urin roch bereits katerig streng, er war dabei, einen Fettschwanz zu entwickeln (beste Therapie: Kastration) und die freundlichen Deckversuche bei seiner Schwester hatten ihn hormonell offenbar in ziemliches Chaos versetzt. Ich hatte ehrlich gesagt leichte Bedenken, dass er vor lauter Testosteron womöglich anfangen könnte zu markieren, das kannte ich schon von Ben, aber Hathaway blieb zum Glück „brav“.

Alles wie gehabt. Jetzt zum dritten Mal. Hauptpraxis anrufen, Termin zur Voruntersuchung in Nebenpraxis machen (die junge Tierärztin war aus dem Urlaub zurück) und an einem Januarmittwoch mein Riesenkaterbaby in die Nebenpraxis zur Voruntersuchung bringen. Aber wie? Längere Strecken tragen kann ich ihn schon nicht mehr, dazu ist er zu schwer. Eine Nacht lang grübelte ich, wie ich ihn ohne fremde Hilfe am besten verfrachten könnte, denn meinem Mann, sonst ein hervorragender freiwilliger Kennelträger, ging es rückenmäßig gar nicht gut. Für die kurze Strecke ein Taxi bemühen? Der Fahrer hätte mich ausgelacht. Einen starken Nachbarn fragen? Mir fiel keiner ein. Ich grübelte weiter. Alles eine Frage der Logistik, und Nächte sind bekanntlich lang und bieten Schriftstellerinnen viel Gedankenspielraum, besonders in Richtung Katzastrophen und deren Bewältigung und Vorbeugung. Die Visionen, in denen mein Kater aus dem Kennel sprang oder stürzte, weil der Boden das Gewicht nicht aushielt oder die Tür nicht richtig zu war, machten mich ziemlich nervös. Genau wie die Aussicht auf eine katzengewichtinduzierte Wirbelsäulenverzerrung. Help!

Hathaway (BFL)

Als der Morgen graute, hatte ich endlich, endlich die rettende Erleuchtung und konnte einschlafen. Außer dem Kennel brauchte ich nur noch einen stabilen Koffergurt und die rote Sackkarre aus der Garage. Die Generalprobe sollte nach dem Frühstück stattfinden, ohnehin für alles die beste Zeit. Es klappte tatsächlich, auch wenn mein Mann beim Anblick der Karrenkonstruktion ungläubig fragte: „WAS MACHST DU DENN DA? Das klappt doch nie?“ Sogar besser als gehofft, weil der abenteuerlustige und stets gechillte Hathaway sofort begeistert mitspielte. Er ist erstaunlich angstfrei und inspiziert alles, was ihm vor die Nase kommt, auch wenn es noch so eng ist.

Die Sackkarre (aufwändig gesäubert, man will ja einen guten Eindruck machen) nebst festgezurrtem Kennel stand einladend an der Treppe. Hathaway kletterte gleich hinein, drehte sich einmal um sich selbst und machte ein Nickerchen. Dass er dabei leicht schräg lag, störte ihn nicht. Ich hätte nur die bereits eingehängte Gittertür verschließen müssen, aber noch war ja Zeit. Krispin und Stellaluna machten sich leider bald daran, die Konstruktion samt Hathaway im Gehäus umzukippen, und mussten abgelenkt werden. Das ist einfach, man muss nur eins der vielen Spielzeuge durch die Gegend zu werfen. Sofort sprinten sie los und apportieren begeistert wie Jagdhunde. Maine Coons können das offenbar automatisch, allerdings apportieren sie jeweils unterschiedliche Objekte, Stellaluna Piepsmäuse und Stofftierchen, Krispin kleine weiche Fellmäuse, Hathaway flache runde Gegenstände (wie Frisbees) und alles, was da raschelt und knistert.

Hathaway mit Kennel (BFL)

Ich benutze zum Transport immer denselben Kennel. Er steht jahraus jahrein im Wohnzimmer neben dem Sofa und hat all meinen Katzen als Lieblingsbett und Rückzugsort gedient. Mir ist wichtig, dass meine Katzen sich vor ihrem Kennel nicht fürchten, auch nicht nach unangenehmen Aktionen, sonst werden sie schon beim Anblick nervös und man muss sie mit Gewalt hineinsetzen. Es gibt Katzen, die fliehen schon, wenn sie das Objekt des Grauens nur von ferne sehen, meine Katzen steigen immer freiwillig hinein. Ich habe im Haus gleich mehrere gemütliche Kennel. Da sie aus Kunststoff sind, kann man sie problemlos säubern, falls mal ein Malheur passiert. Ist aber noch nie eins passiert.

Kurz vor dem Termin schloss ich den Kennel, was Hathaway dann doch etwas überraschte, und rumpelte ihn vorsichtig über die stark befahrene Straße zur Tierarztpraxis. Er saß schräg, aber gefasst. Die Tierärztin begrüßte mich wie eine alte Bekannte. „Das ist also der dritte! Meine Güte, ist der riesig!“ Ja, das ist er. Und außerdem sauschwer. Ich hoffte inständig, dass er nicht traumatisiert war von der rumpeligen Fahrt. Aber nein, der Transport hatte ihm nichts ausgemacht, er stieg aus, war entspannt und neugierig und ließ sich sogar ohne Gegenwehr an empfindlichen männlichen Stellen untersuchen. Er legte nicht mal die Ohren an.

„Gut, dass Sie es schon selbst gemerkt haben, meistens fällt es erst auf, wenn uns die Tiere vorgestellt werden.“ Sie tastete seinen Bauch ab und meinte: „Ich glaube, ich kann da was fühlen. Wenn wir Glück haben, sitzt das Ding in der Leistenspalte, dann braucht er nur einen Hautschnitt.“ Ich flehte zu allen Katzengöttern, dass sie recht haben möge. „Einen Body braucht er nicht, aber er muss zwei Wochen lang eine Halskrause tragen. Wie lange hat Krispin seinen Kragen denn getragen?“ Ich bin ein ehrlicher Mensch. „Nicht sehr lange.“ Sie wirkte nicht wirklich begeistert: „Letztendlich ist es ja Ihre Entscheidung. Wir Tierärzte können nur sagen, was wir für das Beste halten.“ Zum Glück fragte sie nicht auch noch nach Stellalunas rotem Anzug.

Hathaway (BFL)

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Bye Bye “Wrigley’s Spearmint Gum”

In der letzten Zeit verschwinden ärgerlicherweise dauernd meine Lieblingssüßigkeiten aus den Regalen, meist zum Glück nur vorübergehend. Doch der Totalverlust meines geliebten Kaugummis trifft mich jetzt tatsächlich so hart, dass ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen muss, denn Wrigley’s Spearmint Gum ist für mich nicht nur eine vertraute Kindheitserinnerung, sondern vor allem eine Erinnerung an meinen Vater. Immer wenn ich Wrigley‘s kaue, denke ich sofort an ihn. Die Spearmint Streifen waren früher tatsächlich Kult, sie waren ein Stück Kulturgeschichte, besonders für Deutschland. Sie standen für den American Way of Life, schmeckten nach Frische, Freiheit und Frieden, nach großer weiter Welt, nach Abenteuer – und sie sind ein echter Klassiker, denn es gibt sie schon seit 130 Jahren!

die letzten…

Wrigley’s Spearmints haben mich während der gesamten Pandemie unter den Masken begleitet, denn ich ertrage die klaustrophobischen Dinger nur mit Pfefferminzgeschmack im Mund. Außerdem verhindert das minzige Kauen, dass ich unter der Maske Panikanfälle bekomme. Die Kaubewegungen sind dabei so gut wie unsichtbar. Perfekt! Nicht mal meine Mutter, eine erklärte Kaugummihasserin, würde da meckern.

Als es die Streifen eine Weile nicht gab, bin ich notgedrungen auf andere Produkte umgestiegen, doch die meisten trieben mir ob ihrer Schärfe die Tränen in die Augen. Nur Wrigleys waren mild und genau richtig. Tröstlich, väterlich, beruhigend. Sie gehörten außerdem zum ersten, was ich nach dem quälenden Covid 19-Geruchsverlust wieder unverzerrt schmecken und riechen konnte. Also doppelt und dreifach tröstlich und erinnerungsträchtig. Dieser Beitrag kann also nichts anderes werden als eine Liebeserklärung an die grauen Streifen in Silberpapier mit Zackenrand. Bye Bye Spearmint Gum!

Ursprünglich stammen die Streifen aus Chicago. Sie wurden von William Wrigley Junior „erfunden“, der von seinem Vater eine Seifenfabrik übernahm, und waren zunächst nur die kostenlose Beigabe zum Verkaufsprodukt Backpulver, das wiederum anfänglich die kostenlose Beigabe zum ursprünglichen Verkaufsprodukt Seife gewesen war, bevor Wrigley die beliebten Beigaben dann ebenfalls herstellen ließ. Eine geniale Idee übrigens, das mit der kostenlosen Beigabe. So ist auch der erste gedruckte Adventskalender entstanden, aber das ist eine andere Geschichte. Die Kaugummis waren schließlich so beliebt, dass Wrigley ganz auf Chewing Gum setzte. 1893 kam Wrigley’s Spearmint Gum auf den Markt, kurz danach Juicy Fruits. Heute gehört die Firma (leider) Mars. Und Mars fackelt offenbar nicht lange.

Bis vor kurzem konnte ich mir immer noch schnell an der Rewe-Kasse jede Woche ein weiß-grün-rotes Päckchen sichern, seit einigen Wochen geht das plötzlich nicht mehr, wie ich alarmiert feststellte, und nun habe ich den Grund gegoogelt. Seit Ende 2022 werden Spearmint Gums nicht mehr hergestellt. Die wenigen einsamen Streifen, die ich jetzt noch in der Jackentasche habe, werden die letzten sein. Für immer! Wenn ich nicht noch ein paar bei Ebay erwische (ich biete gerade auf zwei Siebener-Packungen). Für teuer Geld kriege ich wahrscheinlich eine, dann kann ich den Abschied zumindest gebührend zelebrieren. Mit je einem langsam und andächtig ausgepackten, wehmütig in den Mund geschobenen Streifen pro Tag, der so lange gekaut wird, bis er nach nichts mehr schmeckt. Und dabei denke ich an meinen Vater. Das zusammengeknüllte Silberpapier konnte man früher im Klassenzimmer übrigens immer toll durch die Gegend schnipsen. Wenn man schnell war und ein unschuldiges Gesicht aufsetzte, kam man sogar ungeschoren davon.

Mars gibt als Grund für das Aus an, dass die umzuckerten Dragee-Kaugummis beliebter seien. Wahrscheinlich stimmt das sogar, aber die Dragees werden die Kult-Streifen nie ersetzen können. Niemals! Schon die Verpackung ist legendär und minimalistisch: weiß, glatt, glänzend mit grünem Pfeil und roter Schrift und roten Extras. Die Streifenkaugummis von Extra und Orbit soll es übrigens auch bald nicht mehr geben. Es soll überhaupt keine Streifenkaugummis mehr geben! Nicht mehr zeitgemäß. Nur noch runde und die blöden Dragees in den praktischen Behältern.

Bubble (Hanna Lopez/unsplash)

Meine kleine Schwester bevorzugte übrigens als Kind Hubba Bubba (auch von Wrigley’s), und blies eindrucksvolle riesige (rosa) Bubbles damit, die irgendwann knallend zerplatzten und genussvoll vom Gesicht gepiddelt wurden. Unsere Mutter hat das die Wände hoch getrieben! Ihre Lieblinge waren allerdings auch minzig: pudrig aussehende runde Pfefferminzbonbons von FAAM. Rote runde lange Packung. Ohne die ging sie nie aus dem Haus und im Auto steckte sie sich immer als erstes ein FAAM in den Mund. Vielleicht als unbewußte kleine Hilfe gegen ihre Autophobie? Leider musste ich von Pfefferminzbonbons schon als Kind immer schrecklich niesen, was in Gesellschaft peinlich war. Also keine Bonbons für mich, auch wenn sie eine wirklich herrliche Luftveränderung im Mund machten und einem für kurze Zeit den Atem raubten.

Meine peinlichste Erfahrung (ach, ich hätte es eigentlich wissen müssen, dann wäre mir diese Schande erspart geblieben) mit Luftveränderung durch Pfefferminzbonbons hatte ich vor vielen Jahren bei einer Lesung der Krimi-Autorin Val MacDermot. Mich gelüstete nach einer Erfrischung, aber dann blieb mir davon förmlich die Luft weg und ich bekam einen dramatischen Erstickungsanfall. Ich saß wie gewöhnlich hinten, in der Nähe der Tür. Zum Glück. Alle drehten sich um und starrten mich an, die Lesung musste unterbrochen werden und ich verließ beschämt und angeschlagen die Stätte meiner Schande. Mit Wrigley’s wäre mir das nie passiert. Die sind mild.

Egal. Die Schwäche für Mint habe ich offenbar von beiden Eltern geerbt, wird mir gerade beim Schreiben bewusst. Dazu passt, dass ich unzählige sehr pflegeleichte und winterharte Minzepflanzen im Garten habe. Es gibt ja so viele: Ananasminze, Schokoladenminze, Marrokanische Minze, Krauseminze, Wasserminze. Schon bei leichten Berührungen duften sie intensiv, erfrischen die Gärtnerin und veredeln jeden Salat. Zumindest für mich.

Pink Bubble

Übrigens habe ich das Hubba Bubba Bubble Blowing nie gemocht, ich fühlte mich für die rosasüßen Späße wohl schon zu erwachsen. Vielleicht hatte ich auch Angst vor meiner Mutter. Nein, bei mir waren es immer nur Spearmint Gums. Während der Pandemie hatten sie bei mir ein absolutes Revival, ich kaue sie inzwischen täglich und bin davon nahezu abhängig. Den Produktionsstopp bei Mars empfinde ich daher als persönlichen Affront. Aber Mars hat ja voriges Jahr auch schon dauernd Probleme mit Twix und Balisto gemacht. Davon habe jetzt vorsorglich eine Notfallreserve in einem sicheren Küchenversteck, damit ich es mit niemandem teilen muss. So was hatte mein Vater auch, allerdings mit Haribo Lakritz und Katjes. In der Garage und im Keller. Lakritz mag ich übrigens gar nicht, aber zum Glück erbt man ja nicht alles.

Rosinenbomber in Berlin 1948 (Henry Ries/Wikipedia)

Wrigleys gibt es in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg. Zusammen mit Nylonstrümpfen, Zigaretten (Lucky Strikes) und Schokolade (Hershey Riegel) waren sie in der Nachkriegszeit echte Kultobjekte, eingeführt von Amerikanische GIs und von den aus den USA heimgekehrten Kriegsgefangenen. Für die traumatisierten Kinder in den zerbombten Städten waren diese Süßigkeiten sicher wahre Schätze, und die berühmten Rosinenbomber oder Candy Bombers warfen während der Berliner Luftbrücke natürlich auch Wrigley’s Spearmints ab, an niedlichen kleinen Fallschirmen.

Für etliche POWs (Prisoners of War) waren die Spearmints wahrscheinlich Kult und Erinnerung zugleich. Wie viele von ihnen später, als es ihnen endlich erlaubt war, als freie Männer in die USA zurückkehrten und sich dort niederließen, habe ich erst vor kurzem erfahren. Wirklich gewundert hat es mich nicht. Auch mein Vater hat diese Möglichkeit für kurze Zeit erwogen, aber er hatte niemanden, der in Amerika für ihn bürgen konnte und schließlich fehlte ihm auch die Kraft. Wie schade für ihn, sein Leben wäre dort sicher besser verlaufen. Bei seiner Entlassung aus der US-Gefangenschaft im Mai 1946 gab man ihm einen kleinen Zettel, auf dem alles aufgelistet war, was er außer der Kleidung, die er am Leibe trug, noch besaß. Darunter waren mehrere Stücke Seife (Palmolive), Zigaretten (Chesterfield, aber die meisten wurden den heimkehrenden POWs von der britischen Besatzung wieder abgenommen), ein Päckchen Tabak (Prince Albert), eine Tafel Schokolade und mehrere Päckchen Kaugummi. Sie ahnen, welche.

Die Vorliebe für Wrigley’s ist ihm genauso geblieben wie die Freude an Coca-Cola, das einzige Getränk, das ihm bis an sein Lebensende Freude gemacht hat und in ihm angenehme Erinnerungen an die USA weckte. „Meinst du, ich kann das trotz Diabetes trinken, Kind?“ Ich gebe zu, ich habe es ihm sogar ins Krankenhaus geschmuggelt, und im Heim packte ich es als allererstes in seinen kleinen Kühlschrank. Light und Classic. Wenn man mit fast neunzig Jahren Coca-Cola so liebt, soll man es auch kriegen. Mein Vater war ohne das sprudelnde Getränk irgendwie nicht er selbst. Vielleicht war es sein kühler kleiner Trost. Coca-Cola ist angeblich sogar gut gegen Kopfschmerzen und (zusammen mit Salzstangen) gegen Durchfall, habe ich als Kind gelernt.

Meine Mutter hasste alles Amerikanische, sie hielt sich lieber an ihre holländischen und niederrheinischen Wurzeln und liebte Käse und Schwarzbrot. Mein Vater hat seine Kaugummis daher nie vor ihr zu Hause genossen, sondern nur allein (oder mit mir) im Garten und im Wald. Meine Mutter machten Kaubewegungen aggressiv, was ich verstehen kann, denn mahlende Kiefer können durchaus bedrohlich aussehen, wenn auch sicher nicht bei meinem Vater und bei mir. Käse liebe ich übrigens auch. Und Schwarzbrot. Besonders das Kultige von der Kölner Bäckerei Zimmermann. Aus ganz Deutschland kommen die Leute und kaufen es. Davon habe ich einen Notfallvorrat im Kühlschrank. Letzten Freitag aufgestockt auf fünf Pakete. Man kann nie wissen.

Bei Ebay sieht es übrigens noch ganz gut aus. Für die eine Siebener Packung bin ich Höchstbietende.

 

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