Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Erinnerungen meines Mannes meine eigenen sind, so genau und oft hat er sie mir beschrieben. Um die starken Frauen in seiner Kindheit habe ich ihn immer beneidet, so eine charismatische Bezugsperson wie Tante Lotte, die einem bereits als Kind auf spielerische Weise die Welt der Literatur und Kunst erschließt, hätte ich auch gern gehabt. Hier im Haus gibt es vieles, das an sie erinnert, etwa der Tante Lotte-Schrank in meinem Arbeitszimmer und die von ihr gemalten Bilder im Wohnzimmer. Die habe ich aus dem Keller gerettet und wir haben sie dann rahmen lassen. Auf einem ist ihre Freundin Ida, Jans Großmutter, zu sehen.
Geboren wurde Charlotte Block am 30. Mai 1892 in Gießen, ihr Vater war der Staatsrat Rudolf Block, gestorben ist sie am 7. Juli 1973 in Darmstadt, wo sie sich nach dem Tod ihres Partners Heinrich Adolph erneut niederließ. Die Kinderbilder von Tante Lotte habe ich erst vor zwei Wochen gefunden. Merkwürdigerweise haben wir auch die Alben ihrer älteren Schwester Ilse. Ich glaube, sie war Fotografin. Beide Schwestern hatten keine Nachkommen. In Gießen besuchte Lotte die Höhere Mädchenschule, dort hat sie möglicherweise auch Jans Großmutter, Ida Strack, kennengelernt. Durch die Versetzung des Vaters siedelte die Familie im Herbst 1907 nach Darmstadt um.
Lotte lebte viele Jahre im Elternhaus meines Mannes im Haus am Nahrungsberg in der mittleren Etage, zusammen mit Jans Großvater Heinrich Adolph, in „wilder Ehe“, wie man diese Lebensform früher nannte. Vielleicht hätten die beiden geheiratet, wäre sie nicht Studienrätin gewesen, doch so hätte sie bei einer Eheschließung automatisch ihre Stelle und jeglichen Anspruch auf ihre Pension verloren. Das rechtlich festgelegte Lehrerinnenzölibat verbot damals Lehrerinnen zu heiraten, bei Missachtung folgte umgehend die Kündigung. Das war für die selbstständige, selbstbewusste Lotte, die ihren Beruf liebte, sicher unvorstellbar. In meiner Kindheit äußerten sich die Erwachsenen noch oft herablassend über Lehrerinnen. „Die hat keinen mitgekriegt“, „Die denkt, die ist was Besseres“ und „Alte Jungfer“ waren Bemerkungen, die ich oft gehört habe, vielleicht war die unfaire Behandlung dieser Berufsgruppe den meisten damals gar nicht bewußt. Frauen hatten in den Augen der Gesellschaft wohl nicht das Recht, einen Beruf auszuüben, und wenn sie trotzdem die Kraft und den Mut dazu aufbrachten und ihre Eltern ihnen gar die Möglichkeit gaben zu studieren, hatten sie oft einen schweren Stand. Die ersten Frauen wurden erst um 1900 an deutschen Universitäten zugelassen, Promotionen waren eine absolute Seltenheit. Wer sich als Frau für eine selbstständige Berufsausübung als Lehrerin entschied, verzichtete damit bewusst auf Familie und Kinder, was für einige sicher auch eine emanzipatorische Bedeutung hatte. Erst 1957 wurde die Zölibatsklausel für verfassungswidrig erklärt. In den Schulen, die ich besuchte, gab es nur zwei (!) verheiratete Lehrerinnen, alle anderen waren „Fräuleins“. Doch 1957 war Tante Lotte bereits 65 Jahre alt und Jans Großvater seit sechs Jahren tot. Eine Beziehung, wie Jans Großvater und Lotte sie führten, wäre in unserem Dorf völlig unmöglich gewesen, aber in der ohnehin toleranteren Stadt Gießen gab es damit offenbar keine Probleme. Offiziell unterstützte sie den Witwer wohl bei der Haushaltsführung und bei der Betreuung der beiden ältesten Kinder. Zuerst arbeitete sie an ihrer ehemaligen Schule, ab 1936 hatte sie dann eine Stelle am Lyzeum inne.
Charlotte Block wollte ursprünglich Künstlerin werden, erhielt bei einem gewissen Professor Beyer Unterricht in Malerei, bildete sich an der Technischen Hochschule in Darmstadt künstlerisch weiter und unternahm in diesem Zusammenhang auch ausgiebige Reisen nach Paris und Rom. Es gibt ein Foto von ihr mit Malerkittel im Kreise anderer Künstler in einem Atelier. 1916 gab sie das Kunststudium auf und besuchte stattdessen die Viktoriaschule in Darmstadt. Im Mai 1917 erhielt sie das Zeugnis der Reife an der Großherzoglichen Studienanstalt zu Darmstadt. Als gewählter Beruf ist im Zeugnis Kunstgeschichte angegeben, doch bald beschloss sie, Studienrätin zu werden, weil ihr Talent ihrer Meinung nach nicht ausreichte für eine Laufbahn als freie Künstlerin. Zusätzlich erhielt sie 1918 als Ergänzung auch noch ein Reifezeugnis für Latein vom Realgymnasium zu Darmstadt. Lotte studierte in Tübingen, Heidelberg, München und zuletzt auch in Gießen Deutsch, Englisch und Kunstgeschichte, schloß das Studium 2021 mit hervorragenden Noten ab und promovierte kurz darauf, damals noch eine Rarität für Frauen, mit ihrer Arbeit „Das Verhältnis von Dichtung und Malerei in Dante Gabriel Rossettis Schaffen“ zum Doktor der Philosophie. Die Präraffaeliten lagen ihr zeitlebens am Herzen, wie ich von Jan weiß, denn sie hat ihm viel dazu erzählt. 1922 beendete sie ihr Seminarjahr am Pädagogischen Seminar der Viktoriaschule in Darmstadt. Vor mit liegt eine große grüne Mappe mit all ihren Seminarscheinen und Zeugnissen. Irgendwie rührt es mich, dass wir beide Deutsch und Englisch studiert haben, sie hat sogar Seminare zu denselben Themen besucht wie ich, hat sich auch intensiv mit dem Nibelungenlied und Beowulf beschäftigt.
Tante Lotte war die beste Freundin von Jans Großmutter Ida, die 1918 kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes nach nur sechs Jahren Ehe mit 28 Jahren an der Grippe starb, möglicherweise waren es aber auch Komplikationen im Kindbett. Wann genau Lotte und Jans Großvater ihre Liebe entdeckten, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht hat die gemeinsame Trauer um Ida sie verbunden, vielleicht waren sie aber auch einfach voneinander fasziniert. Jedenfalls zogen sie wohl 1925 zusammen, nachdem Lotte sich hatte versetzten lassen. Danach war sie an zwei Schulen in Gießen tätig. Tante Lotte wurde neben der Großmutter Emilie Strack zur fürsorglichen Bezugsperson für die beiden älteren mutterlosen Adolph-Kinder. Hilde war damals 7, Heinz 5 Jahre alt. Marianne, die jüngste Tochter, wurde kurz nach der Geburt von Verwandten aufgenommen und wuchs weit weg in Hamburg auf, wodurch ihr Verhältnis zu den beiden größeren Geschwistern, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel, und wohl auch zu Tante Lotte, nie wirklich eng wurde, auch wenn es mindesten einmal im Jahr ein Treffen bei einem Gießener Fotografen gab, der die drei Kinder in trauter Harmonie mit und ohne Vater ablichtete. Später wurde Lotte auch Jans Bezugsperson und „zweite Oma“. In unserem Familienstammbaum habe ich sie bewußt als „Partnerin des Großvaters des Partners“ eingetragen, denn ich fände es jammerschade, wenn sie einfach vergessen würde.
Im Herbst und Winter durfte der kleine Jan nachmittags gegen fünf bei Tante Lotte auf dem Sofa die „heure bleu“ zelebrieren, eine kostbare Zeit, auf die er sich sehr freute. Wieder und wieder schaute er auf die Uhr und konnte es gar nicht abwarten, endlich nach oben zu laufen. Großvater Heinrich hielt sich während der Blauen Stunde immer in der Nähe auf, hörte den Gesprächen interessiert zu und freute sich am liebevollen Zusammensein von Enkel und Partnerin. Tante Lotte und der kleiner Jan machten es sich unter der großen lilafarbenen Häkeldecke auf dem Sofa bequem und Lotte begann zu erzählen, von Odysseus, Athene und Artemis, den Haimonskindern, Griseldis, der schönen Melusine, König Artus und Genoveva. Sie las ihm Gedichte vor oder rezitierte sie frei aus dem Gedächtnis, sprach vom Knaben im Moor und vom Erlkönig, brachte ihm auch die witzige Version mit Rede und Gegenrede „uff Hessisch“ bei, die Jan auswendig hersagen konnte. Im Internet finde ich zwar eine Version, bin mir aber nicht sicher, ob es wirklich dieselbe ist.
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? (So lossen, so lossen doch rieden!) Es ist der Vater mit seinem Kind. (Der kunnde ’ne Droschke sich mieden!) Er hat den Knaben wohl in dem Arm, (Sall hä’n uffen Buckel sich hangen?) Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. (Das kann me vun’n Vadder verlangen!)
Sie brachte ihm auch die Datierung der Goetheschen Dramen anhand eines kleinen Eselsbrücken-Gedichts bei, das ich leider vergessen habe. Die einzige Zeile, an die ich mich noch erinnere, ist „Maria, seine Jungfrau Braut, schrie hell und laut“ (gemeint sind hier eindeutig die Dramen Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, Braut von Messina und vielleicht auch Wilhelm Tell?). Ach, hätte ich es doch nur aufgeschrieben! Jetzt ist es zu spät! Jedenfalls hat der Knabe Jan seinerzeit mit der korrekten chronologischen Auflistung der Goetheschen Dramen das Aufnahmekomitee am Gießener Landgraf-Ludwigs-Gymnasium offenbar nachhaltig beeindruckt.
Auch mit der Malerei machte sie ihn vertraut, zeigte ihm Bilder von Rembrandt, Breughel und Feininger. Mein Mann erinnerte sich noch gut an das verblüffte Gesicht seiner Mutter, als der Kleine sie eines Tages still beobachtete, während sie in der Küche vor dem Fenster stehend prüfend ein Einmachglas gegen das Licht hielt, und dann urplötzlich verlauten ließ: „Jetzt siehst du genauso aus wie Rembrandts Sakia!“ Tante Lotte war damals natürlich schon älter und hatte auch schon weißes Haar. Manchmal malte der Großvater sie als Eule vor dem Mond, wie sie Pet, ihren kleinen Foxterrier, in den Klauen hielt. Irgendwo muss das Kinderbuch sein, in dem eine dieser Darstellungen sich erhalten hat. Ich glaube, es ist eine Uraltausgabe von den Heinzelmännchen von Köln, die ursprünglich Ida gehörte. Doch darauf hält die Eule keinen kleinen Hund, sondern zwei Mäuse in den Klauen.
Über Tante Lottes Sofa hingen viele Bilder, die sich ihrem kleinen Bewunderer, der gar nicht genug bekommen konnte von all den spannenden Geschichten, tief einprägten. Besonders beeindruckt war er von einem Detail des Isenheimer Altars, ich weiß aber nicht mehr genau, welches. Im Musée Unterlinden in Colmar hat er mir das Original mehrfach voll Begeisterung gezeigt, aber leider hat es mich enttäuschend wenig beeindruckt. Altäre sind so gar nicht mein Geschmack. Ganz im Gegensatz zum dunkel verblichenen Foto der Büste von Hypnos, dem Gott des Schlafes, den ich zunächst wegen seines geflügelten Hauptes für Hermes hielt. Leider fehlt der zweite Flügel, so dass man denken könnte, der Gott habe nur den einen. Hypnos, der Vater von Morpheus, dem Gott der Träume, war eine Erfindung des Dichters Ovid und wachte sicher gern über die schlafende und Geschichten erzählende Tante Lotte und ihren gespannten kleinen Zuhörer. Von ihrem Partner Heinrich wurde sie übrigens liebevoll-spöttisch „Eulonia Kürbiskaja vom Nahrungsberg“ genannt, denn sie hatte nicht nur eine Schwäche für Eulen, sondern auch für süßsauer eingelegte Kürbisse. Auch ich liebe Eulen und Kürbisse, aber letztere vor allem ausgehöhlt an Halloween und in Form cremiger Kürbissuppen.
Gelegentlich gab es in der Wohnung gar kleine Privatkonzerte für den staunenden Enkel. Jans Großvater war evangelischer Pfarrer, Studienrat und außerordentlicher Professor für Theologie (er hat über dreißig Bücher verfaßt, wie ich neulich gezählt habe) und war nicht nur ein Predigertalent, er hatte auch eine schöne Tenorstimme. Er sang gern zu Hause gemeinsam mit Tante Lotte Kirchenlieder, auch a capella, ohne Klavier- und Orgelbegleitung. Aus politischen und weltanschaulichen Gründen hatte er mit Jans Vater große Probleme, doch der kleine Jan bildete das versöhnliche Band zwischen den beiden Männern. Er liebte seinen hochgewachsenen Großvater, der ihn oben auf den Schultern durchs Haus trug und jedes Mal vor Angst schlotterte, wenn der Kleine übermütig an der Ofentür rüttelte. Heinrich Adolph starb plötzlich und unerwartet 1951 mit nur 66 Jahren während des Silvester Gottesdienstes, unbemerkt von der restlichen Gemeinde, aufrecht in seiner Bank sitzend, das aufgeschlagene Gebetbuch noch auf den Knien, den Gehstock ans Bein gelehnt. Dass er tot war, fiel den anderen erst auf, als er sich nach dem Gottesdienst nicht von der Stelle bewegte.
Als ich ein Bild für die Danksagung nach Jans Beerdigung suchte, konnte ich zu meinem Bedauern Tante Lottes Hypnos nicht finden und wählte stattdessen Hermes, der ja nicht nur als Götterbote unterwegs war, sondern auch die Seelen der Verstorbenen zu den Pforten der Unterwelt geleitete. Auch er hat ein geflügeltes Haupt, selbst wenn ihm die Schwingen nur aus dem Helm und nicht aus den Schläfen wachsen. Hermes war einer unserer Lieblinge, genau wie Odysseus, Athene und die rosenfingrige Eos. Jan hat mir die Ilias und die Odyssee zweimal komplett vorgelesen. Seine Lieblingsszene war die, als der greise Priamos nachts zu Achill kommt und um den Leichnam seines Sohnes bittet. Auf dem Melatenfriedhof gibt es eine Statue von Hypnos, die wir aus unerklärlichen Gründen nie gefunden haben. Doch vielleicht hat alles seine Zeit, selbst Statuen, und ich finde ihn beim nächsten Besuch auf Anhieb. Hermes hätte meinem Mann auch gefallen, ich weiß noch, wie wir ihn fotografiert haben. Es gibt mindestens sieben Versionen von ihm im Album. Tante Lottes Hypnos ist übrigens vor kurzem plötzlich wieder aufgetaucht wie ein echter deus ex machina. Ich suchte nach etwas völlig anderem, und da war er! Hatte sich an der Seite im Schrank versteckt und steht jetzt katzensicher in einem von Jans Regalen.