„Früher war alles besser“ (Printmedien)

„Früher war alles besser.“ Diesen Satz sagten die Erwachsenen, als ich klein war, und ich wusste genau, dass er nicht stimmen konnte. Denn „früher“ bedeutete Krieg und Holocaust, da konnte gar nichts besser gewesen sein! Es gab auch noch eine richtig schlimme Variante bei der Großelterngeneration, die „das hätte es bei Adolf nicht gegeben“ lautete und einem böse Schauern über den Rücken laufen ließ. Deshalb wurde der Satz auch eher hinter vorgehaltener Hand geäußert und wenn das Kind mit den Antennenohren nicht in Hörweite war.

Bald hörte ich den Früher-Satz noch öfter, und oft stimmte er auch. Ich lebte in einem Dorf, und früher war zum Beispiel der Käsemann jeden Freitag mit seinem Wagen gekommen und hatte Milch, Eier und Käse gebracht. Früher hatte der Bäcker jeden Morgen eine Tüte mit frischen Brötchen vor die Tür gestellt. Früher gab es noch die alten Damen in den gemütlichen, hochinteressant und wild durcheinander duftenden Tante Emma-Läden, die auch am Wochenende und abends ausnahmsweise öffneten, wenn man lieb an die Tür klopfte. Vielleicht war es früher für den Käsemann und den Bäcker und die Frau vom Tante Emma-Laden nicht so gut gewesen, aber für uns andere Dorfbewohner auf jeden Fall. Jetzt musste man seine Einkäufe alle selbst machen, da kam keiner mehr ans Haus und schwang die große Glocke.

In der Pubertät fing der Satz schließlich an, mich wirklich zu nerven, denn die Vergleiche und Vorwürfe betrafen plötzlich mich persönlich und waren nur noch vorwurfsvoll und kritisch. Früher hatten die Jugendlichen noch richtig schöne Haarschnitte, gute Manieren, hörten anständige Musik, hatten noch Anstand im Leib, waren ordentlich und fleißig, liefen nicht in unmöglichen Klamotten herum. „Als wir jung waren“, behandelte man seine Eltern und Lehrer noch mit Respekt, räumte ohne Widerworte sein Zimmer auf, aß alles, was auf den Tisch kam, püselte nicht mit seinem Freund in aller Öffentlichkeit herum …. Die Litaneien waren endlos. Ich glaubte den Erwachsenen kein Wort und schloss messerscharf, dass wahrscheinlich jede Elterngeneration mit Früher-Sätzen nur so um sich warf.

Offenbar ist es eine Frage des zunehmenden Alters, jedenfalls ertappe ich mich neuerdings zu meinem großen Entsetzen selbst immer öfter dabei, dass ich den ärgerlichen Satz sage. Wobei „früher“ bei mir vor allem „vor der Pandemie“, „bevor ich Covid hatte“, „vor dem Ukraine-Krieg“ und „als ich noch besser laufen konnte“ bedeutet. Aber manchmal auch „als noch nicht alles digitalisiert war“, „als noch nicht alle am Handy hingen“ oder „als es noch nicht so viele Pins und Tans und ID-Passwörter gab“, „als noch nicht alles so kompliziert war“. Für mich stimmen diese Frühersätze sogar. Immer mehr Läden schließen. Immer schwieriger wird es, einfache alltägliche Dinge „richtig“ zu kaufen statt einfach im Internet, und immer nerviger werden die Kontaktaufnahmen mit Behörden und Firmen.

Früher gab es nur echte Menschen am Telefon, heute gibt es immer mehr unerträgliches Gedudel mit nervigen Warteschleifen (Postbank, Vodafone, Telekom, Taxiruf, Hermes und DPD verdienen hier in meiner persönlichen Erfahrung eindeutig einen eigenen Beitrag, zu dem ich mich möglicherweise auch noch aufraffen werde), die einen auch nach stundenlanger Warterei („Die momentane Wartezeit beträgt länger als 40 Minuten“, bei der Postbank habe ich einmal am Telefon gehangen, bis der Akku leer war, nämlich vier geschlagene Stunden, aber es war auch echt dringend) noch gnadenlos rauskatapultieren. „Leider sind alle unsere Mitarbeiter gerade im Gespräch, bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal“, „leider rufen Sie außerhalb unserer Geschäftszeiten an, bitte versuchen Sie es später noch einmal“, dabei IST gerade Geschäftszeit! Oder sie schmeißen dich einfach nur so mit einem kurzen Knacks aus der Verbindung. Und es gibt immer mehr ärgerliche Bots, die sich langatmig und monoton mit „ich bin ihr persönlicher Sprachassistent und werde Sie jetzt durch den Reklamationsprozess/die Anmeldung/die Registrierung/die Buchung führen“ vorstellen. Auch bei Zeitungsverlagen, mit denen ich notgedrungen im Moment mehr kommuniziere, als mir lieb ist.

Früher war alles besser…..

Zum Beispiel, als unser wunderbarer Stammzusteller noch die Zeitungen auslieferte. Das ist zwar erst einige Monate her, aber gefühlt mindestens zehn Jahre. Seitdem ist eine Zeitung vor der Tür (oder gar durch den Briefkastenschlitz geworfen wie „früher“) fast wie ein Sechser im Lotto. „Die Zeit“ haben wir seit vier Wochen gar nicht mehr bekommen (heute kündige ich das Abo, ist eh viel zu viel Papier), die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ kommt nur noch alle drei Wochen. Sonntagsfrühstück mit Zeitung hat irgendwie was, jedenfalls für mich. Ich habe das Frankfurter-Abo schon vor zwei Wochen (schriftlich) zu kündigen versucht, aber die nette Dame, die mich daraufhin anrief, war so freundlich, dass ich mich doch noch mal habe überreden lassen. „Geben Sie uns bitte noch eine Chance, wir werden alles tun, damit Sie Ihre Zeitung wieder bekommen!“ Sie hat uns sogar für einen Monat umsonst die digitale Ausgabe freigeschaltet (wird nicht automatisch kostenpflichtig verlängert, hat sie versprochen). Ich wurde weich, die Zeitung kam dann auch tatsächlich am folgenden Samstag, aber nur EINMAL, am vorigen Wochenende glänzte sie bereits wieder durch papierlose Abwesenheit. Ich warte jetzt noch dieses eine Wochenende ab, nachdem der Herr am Telefon gestern auch äußerst nett war, dann werde ich das Abo endgültig kündigen. Übrigens ist die FAZ bisher die einzige Zeitung mit derart konstruktiven Menschen am anderen Ende. Jetzt liefern sie uns sogar die verpasste Ausgabe mit der Post nach! Ich werde sie mir wohl für den kommenden Sonntag aufsparen, damit ich was zu lesen habe, und mir dabei vorstellen, wir hätten eine Woche früher. Ach, früher…..

Früher war alles besser…..

Ich muss zugeben, es fällt mir schwer, den „Stadt-Anzeiger“ zu kündigen, denn er ist unsere altvertraute Tageszeitung, die wir uns allerdings schon seit vielen Wochen fast täglich selbst kaufen müssen, obwohl wir zig Jahre ein Abo haben. Früher rief man noch beim Verlag an und der Mensch am anderen Ende sagte fröhlich: „Das tut uns sehr leid, wir schicken Ihnen sofort einen Boten“, und kurz darauf hatte man die verpasste Ausgabe in der Hand und war glücklich und zufrieden. Jetzt nervt jeder Anruf dort enorm. Wenn man sich erst mal durch die vielen zeitaufwändigen „Drücken Sie die 1, drücken Sie die 2, drücken Sie die 3 etc“ gequält hat und endlich (als echter Beschwerde-Profi) „Mitarbeiter“ oder „Kundenservice“ in den Hörer brüllt oder auch nur eisern schweigt und den Bot quatschen läßt, bis ihm nichts mehr einfällt, statt die zehnstellige Abo-Nummer („Bitte wiederholen Sie …. Ich habe Sie leider nicht verstanden“), hat man einen hilflos wirkenden Menschen am Apparat, der wahrscheinlich wegen der 1 („Wenn Sie mit der Aufzeichnung des Gesprächs einverstanden sind, drücken Sie bitte die 1“) nicht so recht weiß, was er noch sagen soll, nachdem man schon unzählbar oft mit ihm telefoniert hat und sich immer noch nichts geändert hat. „Ich schreibe Ihnen die Ausgabe gut“ hilft herzlich wenig, wenn ich gern meine Zeitung lesen möchte. Auch „Morgen sollte es eigentlich wieder klappen!“ und „Ich werde es an den Zusteller/die höhere Ebene (whatever that means) weiter geben“. „Vielleicht weiß er ja nicht, was er bei Ihnen einwerfen soll, er ist ja vielleicht noch neu!“ hat bei mir dazu geführt, dass ich zwei Schilder an der Tür kleben habe, eins nur für Samstags (Freitagabends raushängen), das andere für die ganze Woche (klebt permanent und sieht häßlich aus), damit der geplagte Zusteller auch wirklich ganz genau weiß, was wir wann bekommen und nicht lange suchen muss. Helfen tut es NICHTS. Niente. Nada.

Nachdem Er- oder Sie-Zusteller einmal samstags die falsche FAZ eingeworfen hat, habe ich „Sonntagszeitung“ noch mal extra rot mit Filzstift unterstrichen und noch etwas dicker geschrieben, auch das hat nichts geholfen. Niente. Nada. Vielleicht kann er oder sie ja nicht lesen und daher kommt all das Chaos? Vielleicht ist das Zustellewesen ja ein Bot, ein Alien oder ein Android, der oder die oder das keinen Bock auf unsere Adresse hat?

Früher gab es noch einen Kiosk gegenüber, an dem man sich all seine Zeitungen sogar am Sonntag vor oder nach den Brötchen kaufen konnte. Doch der ist weg. Genau wie die Bäckerei, bei der man die Brötchen holte. Ersatzlos gestrichen. Genau wie die Metzgerei daneben und die alte Tierarztpraxis. Die neue Tierärztin hat keine offene Sprechstunde mehr, man muss in einem völlig anderen Ort anrufen und einen Termin machen, und sie kastriert nur Kater und keine Katzen und kommt auch nicht nach Hause, wenn man mehrere Katzen hat und nur um die Ecke wohnt. Ich habe keinen Schimmer, wie ich die drei Riesenkatzen zum Impfen dorthin bekommen soll. Sie passen nicht mehr in eine Transportbox und sind reichlich schwer. Egal. Mir fällt schon was ein.

Die diversen Zeitungsstapel, die der neue Zusteller oder der Ersatzzusteller vom neuen Zusteller oder der oder dem Was-weiß-ich-wer-auch-immer NICHT zugestellt hat, liegen häufig hinten unter der Brücke am Einkaufscenter, wo man sich dann problemlos das einem zustehende und bereits bezahlte oder gutgeschriebene Exemplar wegnehmen kann. Es sei denn, man war blöd genug, es sich kurzentschlossen selbst zu kaufen, weil man einfach nicht bis Nachmittags warten konnte. So wie ich. Offenbar bin ich schon so alt, dass ich nicht mehr aus meinen Fehlern lerne. Manchmal nehme ich mir dann zum Trost die „Rundschau“ oder die „FAZ“ Tageszeitung, eh sie vom Regen oder Wind erwischt wird. Die Printmedien sind selbst dran schuld, wenn sie aussterben. Zum Lesen muss man sie nämlich erst mal in der Hand haben.

Früher war alles besser…..

Früher bedeutet hier einfach nur, bevor der zuverlässige tolle ehemalige Stammzusteller seine (gewohnt freundliche) Abschiedskarte eingeworfen hat. Schade, dass ich sie nicht aufbewahrt habe, dann würde ich sie mir jetzt weinend als schöne Erinnerung an die Wand pinnen, als nostalgische Erinnerung an frühere Zeiten, als zeitungsmäßig noch alles gut lief. Der Stammzusteller kam meist gegen fünf in der Früh, das leise Briefkastengeräusch war vertraut und tröstlich, ganz besonders in der Pandemie. Anfangs kam wenigstens noch IRGENDWAS Gedrucktes, meist leider ausgerechnet der „Express“ (nicht im Abo und für mich leider unlesbar, dafür kam er immer doppelt) oder, wenn es besser lief, die „Rundschau“ (auch nicht im Abo und nicht so gut wie der „Stadt-Anzeiger“, finde ich jedenfalls), ab und zu kam auch die „FAZ“ (Tageszeitung), aber wir haben ja bewußt nur die Wochenendausgabe im Abo, und die kam leider nicht. Ein paar Mal lagen die armen Zeitungen draußen im Regen und trieften nur so, einmal hat sie der Wind doppelblattweise in den Zaun verweht. Und schließlich kamen sie dann überhaupt nicht mehr.

Heute ist die letzte Zustellung vom „Stadtanzeiger“ exakt eine Woche her. Ich lese ihn jetzt übrigens morgens mühsam digital im Handy, um mich schon mal langsam an den papierlosen Zustand zu gewöhnen. Allerdings unter ständigem Stress, dass ich das kostbare Ding mit Marmelade vollschmiere oder es mir von einer der Katzen in den Tee gestossen wird. Nur für letzten Mittwoch gab es angeblich beim Verlag ein Zustellungsproblem, für alle anderen Tage war nichts vermerkt. „Da seh ich hier leider gar nichts.“ Heute habe ich nicht angerufen und reklamiert, sondern lieber diesen Beitrag geschrieben, um meinem Ärger endlich konstruktiv Luft zu machen. Am Montag werde ich das Abo aber WIRKLICH kündigen. Echt jetzt. Ich schiebe es schon seit Wochen vor mir her und drohe auch am Telefon jedes Mal damit (der Mensch am anderen Ende der Leitung reagiert darauf mit neutralem Schweigen), aber weil ich an dem Blatt nun mal so hänge, warte ich immer noch ab. Mit Engelsgeduld. Aber Montag ist Schluss. Meine Entscheidung ist unumstößlich. Äußerst bedauerlich. Ach, wie war es doch schön, morgens beim Frühstück noch die gedruckte Tageszeitung zu lesen. Den „Guardian“ und die „New York Times“ lese ich ja schon lange digital, aber vor allem nachts und frühmorgens. „Country Living“ und „The New Yorker“ kommen zuverlässig mit der Post. Bin halt ein Zeitungsmensch. Als unser Keller neulich unter Wasser stand, waren die richtigen Zeitungen aus richtigem Papier, die ich alle gehortet hatte, übrigens ein wahrer Segen. Vor allem die großen. Ich muss mal das Foto raussuchen, das ich damals gemacht habe.

Fazit: Die Zeitungszustellung war früher EINDEUTIG besser, daran gibt es gar nichts zu zweifeln und zu rütteln. Zumindest hier im Kölner Westen.

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Rooms and Stories – Sidcup

Sie fühlt sich unsicher im neuen Land, bereits im Zug und im Taxi und erst recht im Linksverkehr in P.‘s rotem Morris Marina, den sie „Meerauto“ tauft. Immer noch kommt sie sich vor wie in einem Farbfilm ohne Skript, ihr Magen ist so aufgeregt, dass sie kaum etwas essen kann, was sich leider während des gesamten Aufenthalts nicht ändern wird.

Sein Haus hat eine blaue Tür und lustige Gardinen. Die Mutter, zart und schmal, von ihm zärtlich Mummikins genannt, eilt gleich nach draußen, um sie freundlich zu begrüßen und verwandelt ihren Namen gleich in Biatta. Später, in ihrem englischen Leben, begegnen ihr noch weitere Aussprachevarianten wie Bihty (Beaty) und, die etwas unangenehme Londoner Version, Bai-A-Ö, inklusive Glottal Stop. Mutter und Schwester sind sehr nett, im Hintergrund bewegt sich auch noch die Großmutter, die aber bis auf ihren lustigen Vornamen in den Tiefen der Erinnerung verloren gehen wird. Dass P.‘s Vater erst wenige Wochen zuvor verstorben ist, tut ihr unendlich leid. Sie hätte ihn gern kennengelernt und wagt sich sie Trauer, die seine Familie empfinden muss, kaum vorzustellen. Alle bemühen sich, sie davon nichts spüren zu lassen, doch sie registriert es trotzdem. Die Familie ist nicht mehr vollständig. Der Vater fehlt. Der leere Platz schmerzt.

Im Zimmer ihres Freundes setzt sie sich auf den Boden und sieht sich lange und genau um, was ihn amüsiert, aber sie findet Räume einfach wichtig. Sie verraten viel über ihre Bewohner und verhalten sich ihr gegenüber gelegentlich durchaus persönlich, heißen sie willkommen oder versuchen sie abzuschrecken oder schnell wieder loszuwerden. Genau wie Häuser. Manche wirken auf sie fast bedrohlich oder so kalt, dass sie fröstelt. Dieses Haus ist freundlich zu ihr. Beim Hereinkommen riecht es nach Lavendel, bald auch nach Toast und Tee. Zu Hause in Deutschland gibt es nie Toast, dafür Graubrot, Weißbrot, Rosinenbrot, Schwarzbrot und Brötchen. Hier gibt es für den Toast sogar eigene Toastständer! Sie hat allen Eau de Cologne mitgebracht, etwas typisch Deutsches, fand sie beim Kaufen, aber das ist ihr plötzlich peinlich.

Sein Zimmer ist hübsch grün gestrichen, mit vielen Büchern, orangefarbenen Vorhängen und einer orangefarbenen Bettdecke. Hier wird sie also schlafen. Einige Gegenstände im Raum kennt sie schon, den blauen Frosch, den gelben Fisch auf dem Kamin, das winzige Enzianfläschchen, das Foto, das P. von ihr im Garten ihres Elternhauses gemacht hat und das zu den besten gehört, die je einer von ihr machen wird. Es scheint fast so, als habe sie ihren Freund dabei sekundenlang in ihre Seele blicken lassen. Er wird noch ein weiteres Seelenbild aufnehmen, doch das weiß sie natürlich noch nicht. Aus einem ihr selbst unerklärlichen Grund hat sie ihm ein kleines Keramik-Rhinozeros mitgebracht, was ihr inzwischen ebenfalls peinlich ist, zum Glück kommentiert er es nicht und stellt es nur ruhig zu den anderen Sachen. Seine Mutter hat frische Rosen für sie auf den Schreibtisch gestellt. Ob sie vom kleinen Prinzen und der Rose weiß? Sicher ist es nur ein Zufall.

Auf dem Bücherregal über seinem Bett entdeckt sie ein Bild von Burg Eltz, das ihr gefällt. Diese Burg muss sie unbedingt besuchen. Am liebsten natürlich mit P., der immer noch nach Cedarwood duftet, auch seine Haare riechen noch vertraut nach Karamell und Nüssen. Sie lässt ihn raten, hinter welchem Burgfenster sie am liebsten schlafen würde, er rät sofort richtig. So gut kennt er sie. Das Türmchen erinnert sie an das Märchen von Rapunzel. Sie liebt Türme. Ein merkwürdiges, irgendwie unheimliches Foto gibt es noch hier im Zimmer, es zieht ihren Blick an wie ein Magnet, offenbar stammt es aus alten Zeiten, viele schwarzweiße fremde Menschen sind darauf zu sehen. Auf der Rückseite steht 1938, es wurde in einem Ballroom in Cambridge aufgenommen. Das Besondere daran ist das zerbrochene Glas im Rahmen. Das scharfzackige Loch hat im Laufe der Zeit die Form eines Herzens angenommen, und man muss aufpassen, dass man sich daran nicht verletzt. Den anderen Familienmitgliedern gefällt die Glaswunde offenbar nicht. Sie überlegt, ob das Glas schon so kaputt war, als er das Bild kaufte. Die Menschen auf dem Bild wirken sorgenfrei und entspannt. Was mag das Glas so zersplittert haben?

Clanger – in die Jahre gekommen

Auf dem Kamin thront eine Art gestrickter Ameisenbär, vielleicht auch eine Kreuzung aus Schwein und Maus, mit einem Schild, auf dem „Chief Clanger of Cambridge“ steht. Was genau ein Clanger ist, wird sie erst Jahrzehnte später herausfinden, als sie ihr Tagebuch wieder liest und nachfragt. P. schickt ihr einen Link, und sie hört und sieht tatsächlich die Clangers in Action. Es sind seltsame Fantasiegestalten, die mit anderen merkwürdigen Wesen, etwa einem Metallhuhn, auf einem blauen Planeten hausen und nicht sprechen, sondern nur melodische Pfeiftöne von sich geben. Das Sprechen in den Kinderfilmen übernimmt ein Erzähler mit wohltönender Stimme. Damals, bei der ersten Begegnung in P.‘s Zimmer, registriert sie vor allem und fragt nicht nach. Es gibt auch so schon genug Dinge, die sie nicht kennt und die sie erfragen muss.

Über dem Bett hängen zwei Fotos, eins zeigt seinen Freund D., der sie ständig mißbilligend anzustarren scheint, was sie stark irritiert, das andere zeigt ihn selbst. Oder vielmehr seinen Kopf. Unten im Garten aufgenommen, schwarzweiß und irgendwie scheinen sich die Pflanzen darauf zu bewegen. Offenbar stand, hockte oder saß er hinter einem Ginsterbusch, so dass es aussieht, als schwebe sein abgetrennter Kopf in der Luft. Beheaded, beheaded, survived. Auch sein Gesichtsausdruck ist unheimlich. Er schaut schelmisch zur Seite, erinnert sie an den Puck aus Shakespeares „Sommernachtstraum“, die dunklen Haare nach hinten gekämmt, mocking lips. Und ein bisschen sieht er auch aus wie die Büsten bei Madame Tussaud, denkt sie. Sie kennt die starren Wachsfiguren aus dem Museum in Amsterdam. Doch hier im Zimmer sieht ihr Freund zum Glück normal und lebendig aus, so dass sie die schlimmen Gedanken abschütteln kann. Auf der Schreibtischlampe klebt ein Schweinchen, dessen Geschichte er ihr nicht erzählen mag, aber es gibt bestimmt eine Geschichte, da ist sie ganz sicher. An der Tür hängt eine große schwarze Spinne. Doch sie mag Spinnen und findet sie lustig.

So entspannt wie auf dem Sofa seines Elternhauses hat sie ihn noch nie gesehen, in der Hand eine riesige Teetasse, eigentlich ist es ein hoher Becher mit Henkel, der „mug“ heißt, die Beine lässig übereinandergeschlagen. Er schaut sie plötzlich so verliebt an, als gäbe es nur sie beide auf der Welt. Dabei ist er sich eigentlich gar nicht so sicher, ob er wirklich noch so verliebt in sie ist nach der monatelangen Entfernung. Das sagt er einige Tage später auch zu einer Bekannten, die ihn anruft und nachfragt. „No“, sagt er und schaut sie dabei an, „but it’s still nice.“ Sie hört die Antwort, deutet seinen Blick und schon kennt sie die Frage. Vielleicht will er es auch nur nicht zugeben, denkt sie. Hoffentlich ist das so.

Fremd und vertraut zugleich, nah und doch fern, und so wird es bleiben. So auf dem Sofa liebt sie ihn sehr. Wenn er gähnt, sieht er immer noch so spitzzahnig und müde aus wie ein verschlafenes Füchschen. Sein Tee ist heiß, daher schlürft er ihn, und Mummikins sagt: „Oh, Peter! Don’t make such a noise!“ Überhaupt der Tee! Dass viele Engländer so dünn sind (englische Hunde dagegen eher rund, vermerkt sie im Tagebuch) liegt vermutlich an den Giftstoffen im Tee. Denn die Hunde trinken ja keinen. „Ungelogen, der extreme englische Teekonsum haut jeden Ausländer um. Eigentlich mag ich ja gern Tee, aber dieses dunkle Gebräu ist selbst für einen Elefanten zu stark. Ein Engländer schluckt davon pro Tag etwa fünf Liter. Das Zeug ist so heftig, dass man es nur mit Milch vertragen kann.“ Die Milch kommt als erstes in die Tasse, lernt sie, so mischt es sich besser, und so kann man auch besser dosieren. Und so ist es auch nicht zu heiß. An die Teegebräuche gewöhnt sie sich erst in ihrem englischen Leben, als sie aufhört, ihn mit Zucker zu trinken. Die Umgewöhnung dauert nicht lange, danach ist sie dauerhaft teesüchtig und rührt niemals mehr Zitronentee oder andere abartige Mischungen an. Tee wird wie englische Biscuits (Digestives!) zum festen Bestandteil ihres Lebens. „Have a nice cup of tea, dear.“ Das tröstet sogar in den schlimmsten Krisen und bei den schlimmsten Schmerzen von Leib und Seele. Zu jeder Jahreszeit. Auch „Rose’s Lemon and Lime“ Jelly wird sie ewig lieben nach diesem ersten Stay. Richtige englische Marmelade ist in Deutschland nur schwer zu bekommen, vor allem „Lemon and Lime“, man muss sie daher von Freunden und Verwandten importieren lassen.

An diesem ersten Abend geht sie mit ihrem englischen Freund in einen kleinen Wald in der Nähe. „Englische Bäume ähneln den deutschen“, spottet sie später in ihrem Tagebuch. „Wir fanden einen Pfad (foot path), streiften durch hohes Gras und stiegen über ein merkwürdiges Gatter (wooden stile)“. Ihre Körper sind immer noch auffällig distanziert, Hände und Lippen finden kaum zueinander, was sowohl an der langen Abwesenheit als auch an ihrem deutschen Freund liegt, den sie irgendwie mitgebracht hat und der sie unablässig mißbilligend beobachtet. Genau wie D. auf dem Foto. Auf Schritt und Tritt.

In der ersten Nacht, P. bleibt bis Mitternacht bei ihr, es ist die Nachtigall und nicht die Lerche, findet sie keinen Schlaf, weil die Zimmerwände anfangen zu schwanken, alles ist in Bewegung, der Boden wird zur Straße und zum ratternden Gleisbett, das Bett zum steigenden und fallenden Flugzeug. Ihre Ohren rauschen und knacken, ihr Körper steigt wieder hoch in den Himmel. Sie weiß nichts von ihrer „Hochsensibilität“, die bewirkt, dass alle Reize und Eindrücke intensiver verarbeitet werden, auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers im Raum, und ungewöhnlich lange und intensiv nachhallen. Nach Fährfahrten hat sie später manchmal tagelang das Gefühl, dass die Erde bebt und die Wände sich hin und her bewegen. Weil die anderen mit dieser merkwürdigen Variante ihrer Propriozeption so gar nichts anfangen können („Was du immer hast!“), fürchtet sie mal wieder, „nicht normal“ zu sein, und hält sicherheitshalber den Mund. Doch es ist nur die Hochsensibilität. Wie schade, dass Elaine Aron diese Besonderheit erst in den 1990er Jahren erforscht und benannt hat. Sie hätte diese Erklärung dringend früher gebraucht.

Mitten in der Nacht versucht sie schließlich, den schwankenden Wänden zu entkommen, indem sie aufsteht und sich ans Fenster stellt. Sie schaut hinunter auf den schlafenden Marina, in dessen Windschutzscheibe sich beruhigend und blaß der Mond spiegelt. „Der englische Mond ähnelt dem deutschen. Kein großer Unterschied.“ vermerkt sie im Tagebuch. Der amerikanische sieht völlig anders aus, wie sie von ihrem Vater weiß und später mit eigenen Augen sehen wird.

Die Türen im Haus lassen sich nicht abschließen, was sie etwas verunsichert. Sie steht jedes Mal Heidenängste aus, jemand könnte unverhofft ins Bad kommen. Die Haustüre hat als einzige einen Schlüssel, dafür aber keine Klingel, sondern einen Türklopfer. Sie hat tatsächlich noch nie im Leben einen Türklopfer gesehen. Und auch noch nie so komische eckige Stecker und Steckdosen. Die Wände im Gäste-WC sind lilafarben, an einer Seite hängt ein lustiges buntes Poster, auf dem Mäuse mit Hilfe eines Igels und eines Frosches die Sommerernte einbringen. Auf dem Boden neben der Toilette steht eine Sprühdose mit der Aufschrift „Air Mist“, was ihr deutsches Gehirn täglich aufs Neue zu Heiterkeitsausbrüchen verleitet. Es gibt auch „Body Mist“, wie sie bald bei „Boots the Chemists“ herausfindet. In Riesenmengen. Genau wie „Air Mist“. Und im Bad gibt es ein Schild, das man draußen an die Tür hängen kann und auf dem „engaged“ steht, was doch eigentlich verlobt heißt, auch das findet sie lustig. P. dagegen verstimmt ihre Feststellung, weil er dabei offenbar eher an ihren deutschen Freund denkt, dabei hat sie den diesmal gar nicht gemeint. Sie vermisst die vertrauten deutschen Klinken, hier gibt es offenbar nur Drehgriffe.

Im Morgengrauen schläft sie schließlich doch noch ein, ist aber schon wieder um halb sieben wieder wach. Und sehr müde. Zweieinhalb lange Stunden später klopft P. an die Tür und stellt erstaunt fest, dass sie schon auf ist. Jetzt wird sie London „richtig“ sehen, darauf freut sie sich. Wäre sie doch nur nicht so aufgeregt. Und wäre doch nur nicht alles so fremd. Auch ihr englischer Freund. Einfach alles. Warum ist sie nicht schon zu Weihnachten hergekommen? Vielleicht wäre dann jetzt alles leichter. Aber das hätten ihre Eltern ihr nie verziehen. Aber vielleicht wäre es im Winter auch nur noch fremder gewesen. Weihnachten in England. Sicher ganz anders und ungewohnt und dazu die vorwurfsvolle Familie in Deutschland.

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Rooms and Stories – Über den Wolken

Der erste Flug nach London Gatwick sollte ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Sie war aufgeregt, doch auf angenehme Weise, denn schließlich warteten auf sie lauter Abenteuer, ihr Freund P., ein neues Land, die weite Welt! Schade, dass er sie nicht vom Flughafen abholen konnte. Doch er hatte versprochen, sie in der Victoria Station zu erwarten, einem Ort, den sie nach diesem Tag für immer mit ihm verbinden würde, denn dort begrüßten und verabschiedeten sie sich später oft, auch wenn sie ihn in Cambridge besuchte.

Im Flugzeug sicherte sie sich einen Fensterplatz und bekam gleich zwei männliche Nachbarn, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine war jung und entspannt, der andere mittelalt und verkrampft. So spannend hatte sie sich das Fliegen nicht vorgestellt, vor allem den Start, der sie mit unsichtbarer Hand in den Sitz drückte und ihr die Ohren brausen und zuploppen ließ, fand sie wunderbar. Sie kam sich vor wie in einem gigantischen Riesenrad, das sie immer höher trug. Wie angenehm, die Verantwortung für ihr Schicksal völlig in die Hände des Piloten abzugeben, hier oben gab es nichts mehr, das sie tun konnte. Die Flugbegleiterinnen vollführten ihr Luftballet und sie las gehorsam die Broschüre mit den Sicherheitsmaßnahmen.

Bald konnte sie auf winzige Häuser und Kirchen, klitzekleine Autos und Schiffchen hinuntersehen, die Welt schrumpfte auf Miniaturengröße und verschwand schließlich gänzlich, als sie ein wenig schaukelnd durch die Wolkenschichten stießen. Da war sie, Reinhard Meys grenzenlose Freiheit, ohne Ängste, ohne Sorgen. Schon bald wurde es gleißend hell und sie glitten über einem Meer aus steif geschlagener Sahne und fluffigem Eischnee. Sie stellte sich vor, auf einer der großen Wattebäusche zu liegen, in Weichheit zu versinken und nur noch zu träumen. Bis in alle Ewigkeit. Ab und zu gab es Wolkenlöcher, durch die man weit, weit unten bunte Landschaften oder Wasser sah. Es gab auch ein paar Turbulenzen, bei denen ihr Magen hüpfte, daran musste man sich erst gewöhnen.

Der junge Mann direkt neben ihr war ein gesprächiger,  freundlicher Vielflieger und hieß Horst. Sie unterhielten sich angeregt über Bücher, Filme und England. Bis sie ihm ihren heißen Tee über die Hose schüttete. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Getränk so heiß sein würde, und reflexartig die Tasse fallen lassen. Just in diesem Moment war das  Flugzeug kurz abgesackt, hatte die Tasse überraschend zur Seite geleitet, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Horst stieß einen überraschten Schrei aus, der seinen Nebenmann endgültig in Panik versetzte. Das Malheur war ihr entsetzlich peinlich, doch Horst hatte sich schnell von seinem Schrecken und dem Verbrühungsschmerz erholt und meinte, dass man den Fleck auf der schwarzen Hose bald nicht mehr sehen würde, so dass alles wieder gut war. Seinem Nebensitzer war der Schock allerdings so sehr in die Glieder gefahren, dass er begonnen hatte, leise zu beten. Offenbar war er katholisch, denn es waren sehr vertraute Gebete. Vor allem das „Gegrüßt seist du Maria“. Er schaukelte dabei leicht mit dem Oberkörper, vielleicht wollte er seinen Worten damit mehr Kraft verleihen. Horst warf ihr einen vielsagenden Blick zu, und sie war froh, dass sie nicht unmittelbar neben dem Beter saß. Angst war ansteckend, wie sie aus Erfahrung wußte. „Vielleicht hört ihn ja jemand da oben“, flüsterte Horst. „Nah genug sind wir ja. Keine Ahnung, welcher Heilige für Flugreisen verantwortlich ist.“ Ein interessantes Thema. „Wahrscheinlich Christophorus“, vermutete sie. Dass Gott höchstpersönlich sich die Mühe machen würde, ihr Flugzeuge zu beschützen, konnte sie sich nicht vorstellen. Das war eher Aufgabe des Piloten, der sich zwischendurch mit sexy Stimme immer mal wieder meldete und angab, auf welcher Höhe sie sich befanden und welche Wetterlage in London zu erwarten war. Es war ein ziemlich warmer Tag. Schließlich packte sie „Die Judenbuche“ weg und konzentrierte sich nur noch auf die Wolken, die Stimme von Horst und die Sicherung ihrer Teetasse. „Ich hab keine Ahnung, wie ich von Gatwick nach Victoria kommen soll“, hörte sie sich plötzlich sagen, und ihre Stimme klang ziemlich besorgt. „Kein Problem, „sagte Horst. „Ich fahr da auch hin. Und ich bleib bei Ihnen, bis Sie Ihren Freund gefunden haben“. Und genau das tat er.

Bei der Ankunft in London fühlte sie sich wieder unwirklich wie in einem Film. Sie verließ den Bauch des großen roten Vogels und landete in den Hallen von Gatwick Airport, Horst kannte zum Glück den Weg und nahm sie mit in den Bereich, wo die Koffer kreisten. Eine Flut von Stimmen, Farben, Bildern und Geräuschen prasselte auf sie ein. Englische Bahnhöfe und Züge rochen ganz anders als in Deutschland. Vor allem der stechende Geruch von Kreosot war gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie die Bezeichnung damals noch nicht kannte. Die Züge sangen hier in einem anderen Takt, es klang wie Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick. Sie schaute aufmerksam aus dem Fenster und beobachtete die anderen Passagiere.

„Englische Schornsteine sehen aus wie kleine Mülltonnen mit komischen Deckeln und Dächern, und besonders in London gibt es davon ziemlich viele. Die meisten männlichen Hosenbeine haben ziemlich Hochwasser. Überhaupt gehen englische Männer irgendwie seltsam, ein bisschen, als ob sie vorwärts fallen würden, und lassen dabei die Arme baumeln. Viele Frauen haben ziemlich hohe Stimmen. Die Menschen in den Zügen starren entweder auf ihre Füße oder in ihre Zeitungen oder Bücher. Wenn man versucht, sie anzusehen, schauen sie irritiert weg oder scheinen zu überlegen, ob irgendwas mit ihnen nicht stimmt. Zum Beispiel, ob sie vergessen haben, den Reißverschluß ihrer Hose zuzumachen. Vielleicht ist es hier unhöflich, sich direkt in die Augen zu sehen. Das krasse Gegenteil von Paris. Londoner sprechen äußerst schwer verständlich, zumindest für mich“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie kannte den Londoner Dialekt noch nicht, der ihr später so vertraut werden würde. Cockney. Sounds like home. Blimey. Apples and Pears. Have a butcher’s. Haven’t seen you for donkeys.

Die Fahrt von Gatwick nach Victoria dauerte ungefähr dreiviertel Stunde. Zusammen mit Horst verließ sie den Zug, doch der Bahnsteig war leider peterleer. Wo war er bloß? Sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen, aber für einen kurzen Moment war ihr sehr mulmig. Doch dann sah sie ihn.

Ihr englischer Freund saß auf dem völlig falschen Bahnsteig neben einer völlig fremden Reisetasche, die zu bewachen er sich offenbar bereit erklärt hatte, schaute in die falsche Richtung und sah sie nicht kommen, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genüßlich zu überraschen. Sie verabschiedete sich von Horst, der noch eine Weile in der Ferne stehen blieb und ihr freundlich nachwinkte, pirschte sich langsam an P. heran und blieb schließlich genau vor ihm stehen. „Na, du?“ sagte sie. Zum Glück hatte er sich nicht sehr verändert und freute sich auch ganz offensichtlich, sie zu sehen. Sein Haar war etwas länger als beim letzten Treffen und ringelte sich zu ihrer Überraschung ein wenig im Nacken.

Zuerst waren sie beide verlegen, aber das war normal nach dem langen Fernsein. Hand in Hand gingen sie zum Taxistand. Zum ersten Mal saß sie in einem Black Cab. „Sehr unbequem, hat offenbar keine Stoßdämpfer, dafür eine Trennscheibe aus Glas, aber trotzdem schön“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Zum ersten Mal erblickte sie Piccadilly Circus und Lord Nelson auf seiner einsamen Säule. Schließlich betrat sie an der Hand ihres Freundes Charing Cross Station, den Bahnhof, der ihr später in ihrem englischen Leben so vertraut werden würde und in dem sie so oft stundenlang warten musste, weil ausgerechnet die Züge nach Gravesend dauernd ausfielen. Due to staff shortages. Due to weather conditions. Due to strikes. Due to snow. Due to something or other. 

Viele Ängste kenne ich nur allzu gut, doch Flugangst gehört nicht dazu. Seit jenem ersten Gatwick-Flug genieße ich jede Minute in der Luft und bin einfach nur glücklich, dass ich hoch über den Wolken so entspannt sein kann. Allerdings ändert sich mein Wohlfühlfaktor rapide, wenn ich keinen Fensterplatz habe. Die Flüge in die USA und zurück waren allesamt unschön, ich saß eingezwängt in der Mitte des Flugzeugs und verspürte nur Langeweile und keinen Hauch von Flugfreude. Nur zweimal ist mir im Flugzeug schlecht geworden. Beim ersten Mal, weil die Person hinter mir sich unablässig übergeben musste, beim zweiten Mal, weil ich zwei Stunden rückwärts auf einem der Stewardess-Sitze verbringen musste. Mein eigentlicher Platz war doppelt gebucht und die dort sitzende äußerst dominante Dame machte keinerlei Anstalten, unseren Sitz zu räumen. Noch schlimmer als das Rückwärtsfliegen war die Tatsache, dass ich den anderen Passagieren beim Essen zusehen musste. Ich hatte echt Pech. Der Mann gegenüber salzte und pfefferte sein Tablett großzügig und schob es dann angeekelt von sich. „Den Fraß hier kann ja wohl keiner essen!“ maulte er laut und verdarb mir damit endgültig den Appetit. Und den Flug gleich mit.

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Das Kind braucht Luftveränderung (8) – Rieke

Kinder (Annie Spratt/unsplash)

Der Beitrag meiner Freundin Effi zu ihrer „Kinderverschickung“ als Kleinkind nach Bonndorf hat inzwischen viele ehemalige „Bonndorfer Kurkinder“ erreicht, vor kurzem auch Rieke, die ihre eigenen Erinnerungen an Haus Johnen erzählt und mir erlaubt hat, ihren Brief in meine kleine Serie „Das Kind braucht Luftveränderung“ aufzunehmen.

Das Thema hat erst vorige Woche wieder einen Schub bekommen durch einen längeren Bericht im  Fernsehen und Radio (in dem auch mein „Kurort“ Niendorf vorkam) zum frisch erschienenen Buch von Lena Gilhaus „Verschickungskinder: Eine verdrängte Geschichte“. Langsam lichtet sich das Dunkel aus verlorenen (!) und verschwundenen (!) Akten, Nichtwissenwollen und Leugnen. Inzwischen weiß man, dass es sogar Todesfälle in einigen Heimen gegeben hat. 

Ich muss gestehen, dass mich bei den Berichten immer noch schaudert. Auch beim Lesen von Riekes Brief. Plötzlich habe ich wieder die klare Erinnerung an die eklige Schokoladenpuddingsuppe, mit der man uns so oft malträtiert hat. Einen ganzen Suppenteller randvoll mit purer brauner Scheußlichkeit! Auch die welken Salatblätter mit Ravioli hatten wir auf dem Teller. Wer hat sich bloß diese schauderhaften Gerichte ausgedacht, mit denen wir armen Kinder unbedingt zunehmen oder abnehmen sollten? Wir waren ja immer „falsch“, egal, wie wir aussahen. Zu dick, zu dünn, zu blaß, zu wild, zu kräftig, zu schüchtern. Millionen Kinder wurden künstlich für krank und kurbedürftig erklärt. Jahrzehntelang war ich der Meinung, als Kind „zu zart“ gewesen zu sein. So zart, dass ich in Kur musste. Ich brauchte dringend „Reizklima“, gute Seeluft. Und wir waren die Generation, die sich nicht gewehrt und nicht beklagt hat. Wir waren ja Schlimmes gewöhnt.

Der Ekel vor vielen Speisen ist mir bis heute geblieben. Bei mir sind es vor allem Sülze, noch jetzt schüttelt es mich, Büchsenmilch (als Sauce über dem Nachtisch) und der für meine Nase irgendwie schmutzig-erdige Geruch, der aus den riesigen Blechkannen mit dünnem „Kinderkaffee“ aufstieg. Davon wurde mir im Heim jeden Morgen und Abend schlecht. Ich habe mir schon überlegt, ob ich es mir antun soll,  mir dieses Gebräu noch einmal herzustellen und daran zu riechen. Aber diesmal wohl dosiert und freiwillig, als Erinnerungspforte sozusagen, wer weiß, was mir dann noch alles einfällt. Trinken werde ich es bestimmt nicht! 

Riekes Erinnerungen – Haus Johnen, Bonndorf

„Liebe ehemalige Verschickungskinder,

wie froh ich doch bin, endlich diese Seite gefunden zu haben… Menschen, die auch als Kurkind im Haus Johnen in Bonndorf waren. Die Berichte über die Örtlichkeiten im Haus haben geholfen, bei mir einige Erinnerungstürchen etwas weiter zu öffnen. Danke dafür. Trotzdem sind meine Erinnerungen insgesamt leider auch immer noch sehr bruchstückhaft.

Ich war mit 9 oder 10 Jahren im Haus Johnen, irgendwann zwischen 1973 und 1974. Es gib bei der DAK und in der Familie leider keine Unterlagen mehr, aber es muss in diesem Alter gewesen sein, denn ich war bei der Gruppeneinteilung an der Grenze zwischen den großen und den kleinen Kindern.

Bei den Kleinen

Es wurde die Gruppe der kleinen Kinder, die zum Spielen ständig mit Bauklötzen lärmend, aber ansonsten fast still im Speiseraum blieb und kaum rauskamen. Stundenlang habe ich als viel älteres Kind in dieser „Spielzeit“ sinnentleert allein am Esstisch gesessen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich am zweiten Tag mutig bei der Aufsichtstante über die Langeweile beschwert habe und die Gruppe wechseln wollte. Bekommen habe ich nur Papier und Stifte zum Malen. Ich fühle heute noch die verzweifelte Wut in mir und wie ich versucht habe, ja nicht zu weinen…

Ich erinnere mich an „Heilgymnastik“ im Garten mit Blick zum Haus, ohne dabei Laufen zu dürfen. Rumpfbeugen kann ich bis heute nicht, auch wenn Sie mir „helfen“ wollten, die Hände auf den Boden zu kriegen. Es hat sehr wehgetan…

Ravioli und welkes Salatblatt

Ich erinnere mich an etwas Ähnliches wie Ravioli mit welkem Salatblatt. Mir war übel vom Geruch und dem ekeligen Aussehen. Im Essraum war schon lange kein anderes Kind mehr. Es wurde dunkel. Ich saß wie gelähmt auf der Bank am Tisch gefangen vor dem Teller. Kein Ausweg…  laute Drohungen… Blackout. Ich erinnere, wie ich mich auf Klo übergebe und sofort spüle und dann hinterher die tiefe Erleichterung und ein Glücksgefühl, das sich der Magen zu beruhigen beginnt… Blackout… Ich erinnere mich sehr verschwommen an einen kleinen dunklen Abstellraum oder Verschlag mit Holztür, in dem ich von einem Mann eingesperrt wurde… Blackout…

Außerhalb des Hauses erinnere ich eine Fahrt zum Schwimmbad, aber nur die Tür in die Schwimmhalle und ein kleines Stückchen einer Wanderung auf dem Philosophenweg – alle Kinder schön geordnet an den Händen gefasst.

Ein Junge hatte Geburtstag. Sein Postpaket hat einfach eine der Tanten geöffnet, das Geschenk noch verpackt einbehalten (bis zu Abfahrt) und die süßen Sachen an alle verteilt. Einige Kinder wollten die gestohlene Schokolade nicht. Die hat die Tante dann gegessen.

Mein Bett stand im Schlafraum gleich links an der Wand bei der Tür. Nach dem „Ravioli-Tag“ wurde ich morgens als krank eingestuft. Ich musste im Bett bleiben und durfte sogar mein mitgebrachtes Buch lesen. Aber ich hatte nach den ganzen schlimmen Erlebnissen einfach nur noch Angst… den ganzen Tag allein im Zimmer mit ständig wachsamen Ohren, ob jemand Böses wiederkommt… Nur nicht einschlafen, um nicht überrascht zu werden… Es waren mindestens 2-3 Tage. Irgendwann ist auch tatsächlich ein Arzt gekommen… Diagnose unbekannt.

Was ich nicht erinnern kann: Die genauen Örtlichkeiten im Haus, Gesichter, Namen, der übliche Tagesablauf, andere Kinder. Wie lange war ich überhaupt da? Zwei Wochen? Länger?

Rettung

Denn ich hatte Glück… Ich habe es tatsächlich geschafft, mindestens zwei Briefe über die schrecklichen Zustände im Haus Johnen mit dem Hilfeschrei „Holt mich sofort hier raus!“ nach Hause zu schicken. Ich weiß sicher, dass ich Sie im Essraum und vermutlich während der „Spielzeit“ auf meinem Malpapier geschrieben habe. Vielleicht war die Gruppe mit den kleinen Kindern am Ende sogar meine Rettung. Nur wie ich es geschafft habe, sie abzusen-den, bleibt ein großes Rätsel.

Meine Eltern haben mich nach den Briefen tatsächlich sehr schnell und gegen alle Widerstände der DAK und des Kurheims vorzeitig in Bonndorf mit dem Auto abgeholt. Anschließend mussten sie sich dann monatelang gegen horrende Kostenrückerstattungs-forderungen der DAK wegen „eigenmächtigem Kurabbruch“ wehren. Der Schriftverkehr und meine Briefe sind leider nicht mehr auffindbar. Die DAK hat nach 30 Jahren alle Schreiben vernichtet.

Für mich ging das Leben zu Hause danach einfach weiter, als sei nichts geschehen. Eine tatsächliche Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse im Haus Johnen gab es damals üblicherweise nicht. Heute bin ich weiter, aber die Erinnerungslücken und Auswirkungen auf mein ganzes Leben sind immer noch zu groß und spürbar, um mit diesem unmenschlichen Umgang Frieden machen zu können.

Rückblick

2007 war ich zur Spurensuche in Bonndorf und bin noch einmal den Philosophenweg gegangen. Als ich auf einer Bank Pause gemacht habe, bin ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch gekommen, der damals Arzt in Bonndorf war. Er sagte, dass sich die Kurheime tatsächlich alle kaum voneinander unterschieden hätten. Es sei eine schlimme Zeit gewesen und oftmals wurden auch die Ärzte viel zu spät von den Heimleitungen gerufen, wenn Kinder krank oder verletzt waren.

Es ist wichtig, dass wir damaligen Kurkinder lesen können, was vielen von uns in der ein oder anderen Weise passiert ist. Und je mehr Geschichten erzählt werden, desto einfacher wird es für uns Kurkinder hoffentlich zu begreifen, dass uns die schrecklichen unmenschlichen Dinge nicht passiert sind, weil wir schlechte Kinder waren. Wir sind nicht selbst schuld an dem, was wir in Kindererholungsheimen wie dem Haus Johnen erleben mussten.

Es war das Kinderkurdenken der damaligen Zeit und wir entsprachen einfach nicht der gewünschten Sorte Kind, das nie vor Heimweh weint, nie auf Klo muss, nie krank wird, auf Kommando glücklich einschläft, jedes billig schreckliche Essen mit Hochgenuss isst, jede angeordnete Aktivität gehorsam begeistert bejubelt und dick-gesund wieder fröhlich nach Hause fährt.

Ich bin sehr froh, dass ich mit diesem Zeitzeugen sprechen konnte. Aber es reicht nicht.
Mir fehlen noch Puzzleteile. Vielleicht hat jemand noch Fotos oder genauere Beschreibungen vom Heim. Ich würde mich darüber sehr freuen! Ich wünsche Euch alles Liebe und Gute.
Herzliche Grüße
Rieke“

Kinder (Jamie Taylor/unsplash)

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Rooms and Stories – Flughafen Düsseldorf

July she will fly, wie bei Simon und Garfunkel. Kurz nach dem bestandenen Abitur geht sie in das einzige Reisebüro des Ortes und bucht für den 8. Juli einen Charter-Flug mit Dan-Air von Düsseldorf nach London Gatwick, obwohl ihr deutscher Freund gedroht hat, sich zu trennen, falls sie es wagen sollte. Sie kann es nicht ausstehen, wenn man sie zu etwas zwingen will, das werden die anderen nie verstehen. Immerhin hat sie P. seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und er kennt ihre Seele besser als jeder andere. Er kennt sogar ihre Träume. Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne. Sie bucht. Ihr deutscher Freund trennt sich. Aber nicht für immer. Noch nicht.

Eigentlich hat sie schon Weihnachten fliegen wollen. Christmas in England must be totally different. Mit Mince Pies, Christmas Pudding, Pantomimes und Turkey, aber außer P. und ihr selbst waren alle dagegen. Zu Weihnachten muss die Familie zusammen sein, vor allem in Deutschland! Jetzt ist schon wieder Sommer, ein Jahr ist vorbei. Ob P. sich sehr verändert hat? So viele dicke Briefe haben sie einander in der Zwischenzeit geschrieben, haben sich immer besser kennengelernt, Gedichte und Geschichten ausgetauscht und füreinander ausgedacht, von Rose, Fuchs und Reh, Frosch und Brausekönig. Schliefst du mir am Halse ein, du in dem Schäfchenbaum, so wär ich ruhiger. Doch sehnsuchtsvoll zu schreiben ist nicht dasselbe wie einander zu sehen und zu umarmen. Und Träume verwehen schon am Morgen. Du schliefst am Strande ein. Ich auf dem Meere. Stiegen die Dünste auf, warn beide verschwunden.

Sie hat ihm Bilder gemalt, auf dickes und dünnes Papier, auf Umschläge, unter Geschriebenes. Wenn sie doch schöner zeichnen könnte! Alles würde sie malen, besonders sein Lächeln damals in der Brunnenkopfhütte. Sie malte die Stimme der Früchte, Perlenumrisse, Eisdornen, die Morgenfrühe. Doch es werden nur kleine Drachen und Glasschnecken, so zart, dass man sie auf keinen Fall anrühren darf. Sie haben feinste Antennen und spüren bereits, wenn man nur an sie denkt. Besonders im Dunkeln. Nacht ist wie ein stilles Meer.

Immer wieder Zweifel, sobald ein Brief länger über den Kanal braucht. „Du, bist du bitte ganz ehrlich in deinem nächsten Brief und sagst mir, ob ich kommen soll oder nicht?“ Für sehr umfangreiche Umschläge muss sie jedes Mal Nachporto bezahlen, doch das tut sie äußerst gern. „Willst du mich überhaupt noch sehen? Ich kam mir mit meinem langen Brief so vor, als ob ich mich dir aufdränge.“ Natürlich will er sie noch sehen. Er hat nur nicht so viel schreiben können, weil er in Cambridge wichtige Prüfungen bestehen musste. Im Mai hat sie beschlossen, dass sie außer Germanistik nun doch auch Anglistik studieren will, es hat auch ein ganz winziges Bisschen mit dir zu tun, und bekommt den gewünschten Studienplatz in Köln. Am Tag, als sie den Flug bucht, schreibt sie nachmittags an die ZVS nach Dortmund. Nie mehr Klosterschule. Ein Zimmer in einem Stundentinnenheim ist ihr schon so gut wie sicher. Vom Dorf in die Großstadt. Von Deutschland nach England. So viele Veränderungen.

Passenger Ticket and Baggage Check for use on Student Charter Flights. Es ist ihr erster Flug, noch dazu allein in ein fremdes Land mit einer anderen Sprache, sie ist gespannt und aufgeregt. Ihr Vater ist noch gespannter, dreht während der Fahrt nicht nur am Lenkrad und schafft es fast, dass sie den Flug verpasst. Dabei waren sie so früh losgefahren, obwohl es nicht weit ist nach Düsseldorf, aber Vater verfranst sich hoffnungslos. Zuerst kurven sie eine Stunde in Krefelder Vororten, dann umkreisen sie den Flughafen wie eine Fata Morgana. Vater sieht aus, als würde er jeden Moment explodieren, und sie muss ihn beruhigen. Später wird er ihr gestehen, dass er Angst hatte, die Maschine mit seiner Tochter könne abstürzen. Es hat mit dem Familienkrach am Vorabend zu tun, der Grund ist vergessen, die schlechte Stimmung nicht, danach plagt ihn sein Gewissen, weil er den unnötigen Streit angefangen hat. Und das am Vorabend einer wichtigen Reise! Wahrscheinlich war er da schon nervös. Irgendwie schaffen sie es in den Flughafen. Beim Abschied muss sie schlucken. Abschiede hassen sie beide. Besonders voneinander. An Bahnhöfen geht er später immer sehr schnell weg, damit er seine Tochter nicht im Zug davonfahren sehen muss. Abschiede sind für ihn kleine Tode. Für sie auch.

Es ist ihr erster Aufenthalt in einem Flughafen. Alles ist neu und aufregend, die riesigen lichtdurchfluteten hohen Räume, die unwirklichen Stimmen aus den Lautsprechern, die fremden brummenden, sirrenden, rauschenden Geräusche der Flugzeuge, die heftigen Geruchsmischungen aus Kaffee, Parfums, Deos, warmem Essen und Reinigungsmitteln. Und die vielen Wörter, die auf sie einprasseln. Check-In, Sicherheitskontrolle, Personenkontrolle, Gepäckkontrolle, Aufgabegepäck (der rote Koffer), Handgepäck (die braune Handtasche), Metalldetektor, Boarding, Gates, Lounge, Flugsteig, Startbahn. Schade, dass sie die neue Erfahrung mit niemandem teilen kann.

Sie kommt sich gleichzeitig mutig und verloren vor, wandert jung und vorsichtig umher, blickt neugierig in die Book Stalls und den Duty Free Shop, kauft nichts, berührt nichts, alles wirkt so aufgeräumt, ordentlich und geräumig. Und vor allem so riesig!

Ihre Reiselektüre erweist sich als Fehlschlag. Warum hat sie auch ausgerechnet „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff mitgenommen! Allen Erwartungen zum Trotz verspürt sie immer noch keine Angst vor dem Fliegen, auch nicht später in der Wartelounge, denn sie liebt Höhen und kann es kaum erwarten, die Welt von oben zu betrachten. Wünsche wie die Wolken sind. Endlich wird sie den Himmel richtig sehen, vielleicht sogar Brechts besondere Wolke entdecken, sehr weiß und ungeheuer oben, daran kann man sie erkennen. Hoffentlich bekommt sie einen Fensterplatz. Obwohl es jetzt nicht mehr lange dauert, ziehen sich die Minuten zu Ewigkeiten. Heute Abend wird sie bei P. sein, sie werden am Fenster stehen und in die Londoner Nacht schauen. Den Mond sehen. Gedichte hätte sie mitnehmen sollen. Oder seine Briefe. Zumindest einen. Von den ganz dicken. Mit Nachgebühr. 

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