Schwester Josephas Kräutergarten
„Hinter dem Küchentrakt lag der von Mauern umschlossene kleine Klostergarten mit den Heil- und Gewürzkräutern, in dem wir in der Sexta und Quinta in jeder Pause Dauergast waren. Hier war das Reich von Schwester Josepha, einer alterslos wirkenden Ordensschwester mit freundlichen braunen Augen und geschickten Händen. Sie wusste alles über Pflanzen und trug beim Arbeiten eine grüne Schürze. Wenn wir sie besuchten, durften wir manchmal ein paar kleine Blätter abzupfen und daran schnuppern. Rieb man die Blätter vorsichtig zwischen den Fingern, dufteten sie noch intensiver. Schwester Josepha hätte in Hogwarts problemlos eine Stelle als Fachkraft für hochpotente Zaubertränke bekommen. Wahrscheinlich züchtete sie in ihrem Gewächshaus sogar Alraunen, Fliegenpilze und gefleckten Schierling. Sie summte leise bei der Arbeit und hatte immer Zeit für uns. Bei ihr lernten wir, dass Koriander nach Mottenpulver riecht, dass Lorbeerkränze in der Antike die Häupter gefeierter Dichter und siegreicher Sportler zierten, dass Liebstöckel einst als Mittel gegen böse Geister eingesetzt wurde und dass Lungenkraut ein wunderbares Heilmittel gegen Husten ist. Wir rochen an Minze, Zitronenmelisse, Engelwurz und Kapuzinerkresse. Selbst Efeu duftet aromatisch, auch wenn er bei empfindlicher Haut Allergien auslöst und giftig ist, und sogar Giersch riecht nicht übel, auch wenn er rücksichtslos mitten in die Wurzeln anderer Pflanzen hineinwuchert und als das übelste Unkraut aller Zeiten angesehen wird. „Man kann daraus aber sehr gut Salat machen!“, meinte Schwester Josepha.
Sie zeigte uns stinkenden Storchschnabel, auch Ruprechtskraut genannt, der mit seinen kleinen rosa Blüten zwar hübsch aussah, aber unangenehm roch, und gab mir Katzenminze für meine Katze mit, die völlig verrückt danach war und sich so lange auf den Blättern herumwälzte, bis sie platt waren. Topsi war danach ebenfalls platt, zugedröhnt wie ein Junkie! Nur gut, dass Schwester Josepha mich vorgewarnt hatte. „Baldrian wirkt bei Katzen sogar noch intensiver“, erklärte sie. „Probier es mal aus!“ Doch Schwester Josephas Baldrianwurzeln stanken so heftig, dass meine Mutter sie partout nicht im Haus haben wollte. Dabei rochen die Diacardtropfen, die sie genau wie Oma und meine Großtanten tonnenweise in Wasser träufelte, wenn sie Herzklabastern bekam, eindeutig auch übel nach Baldrian.
In Schwester Josephas Welt gab es kein Unkraut, selbst aus Brennnesseln kochte sie noch Tee oder Suppe. Sie fand rasch heraus, dass mein Lieblingskraut Rosmarin war. Vater hatte es nicht in seinem Garten, weil es keine heimische Pflanze war, und Mutter brauchte es leider nie in der Küche. Schon der Name war wunderschön: ros marinus, Tau des Meeres. In der Antike war die Pflanze der Göttin Aphrodite geweiht, im Christentum der Muttergottes. Ursprünglich sollen die Blüten weiß gewesen sein, doch als Maria ihr Gewand zum Trocknen über die Pflanze legte, wurden sie blau. Ich fand den aromatischen Duft so wunderbar, dass ich mich am liebsten in den Rosmarinbüschen gewälzt hätte wie Topsi in der Katzenminze. Nachdem wir herausgefunden hatten, dass Räuchern ein alter Indianerbrauch war, benutzten Winnie und ich die getrockneten Nadeln zusammen mit Salbeiblättern zum Räuchern.
Bienen umsummten den schwefelgelb blühenden Frauenmantel, auf dessen hübschen Blättern die Tautropfen morgens wie Edelsteine glitzerten, Schmetterlinge sonnten sich auf den Lavendelstängeln, die meine Großtanten sich zu Sträußchen gebunden zur Mottenabwehr in den Schrank hängten oder in Form von Uralt Lavendel hinter die Ohren tupften. Nur Oma Südstraße duftete nach Maiglöckchen. Und manchmal auch nach Vanille.“
(aus: Mit Winnie in Niersbeck)