Die Rosen meines Vaters

 

Heute vor vier Jahren war Ostersonntag, doch der Frühling war noch weit. Es war kühl und unwirtlich, und ich erinnere mich nur allzu gut an die jähe Nachtfahrt zum Krankenhaus. Heute vor vier Jahren starb mein Vater. Das starke Band zwischen uns zerriss. Er wolle mir eine Botschaft schicken von der anderen Seite, hatte er mir versprochen. „Wenn ich irgendwie kann.“ War es vielleicht das Tagpfauenauge, das am Morgen nach seinem Tod in der Garage unerwartet auf meine Hand flog und dort eine gefühlte Ewigkeit unbeweglich sitzen blieb? Wo mochte mein Vater jetzt sein? Hat der Mensch wirklich eine unsterbliche Seele? Was passiert mit uns, wenn wir gehen müssen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ein helles, freundliches, glückliches, wie es sich so viele wünschen? Oder ein bedrohliches Zwischenreich voller Dämonen, in dem man orientierungslos, verwirrt und ängstlich umherirrt und seinen Weg nicht findet? Wartet auf uns eine kurze oder lange Phase der Ruhe und des tröstlichen Vergessens bis zur nächsten Wiedergeburt? Oder doch nur das schwarze oder weiße Nichts, das uns für immer verschluckt und auslöscht? Mein Vater hat mir keine Botschaft geschickt. Nur diesen einen Schmetterling an jenem Wintermorgen. Vielleicht.

In Gedanken ist er mir oft noch nah, besonders in meinem Garten. Manchmal rede ich mit ihm, frage ihn um Rat. Meinst du, die Kletterhortensie ist krank? Wo soll ich die neue Taglilie hinpflanzen? Findest du, die blaue Clematis passt gut zu dieser gelben Rose? In der Natur fand mein Vater den ersehnten Frieden, hier war er glücklich, umgeben von stillen grünen und bunten Freunden. Er  liebte die Bäume, die Sträucher und Blumen, und sie liebten ihn. Oft saß er auf seiner Bank und beobachtete geduldig die vielen zahmen Vögel, die er auch mit fast neunzig Jahren noch jeden Tag fütterte. Nach jedem Sturm ging er hinaus und schaute nach, ob nicht etwa ein Nest aus den Bäumen geweht worden war und die Nestlinge Hilfe brauchten. Mein Vater verstand die Sprache der Tiere und der Pflanzen. In seinem Garten gab es eine Intensivstation für gerettete Blumen, die andere achtlos fortgeworfen, vorzeitig aufgegeben oder als unpassend ausgemustert hatten. Sie blühten immer besonders schön, als wollten sie ihm ihre Dankbarkeit unbedingt zeigen. Es gab sogar ein kleines Schattenlazarett für besondere Härtefälle, die noch kein Licht vertrugen und absolute Fingerspitzenbehandlung benötigten. Von meinem Vater lernte ich schon früh, wie wichtig Standort und Bodenbeschaffenheit für jede Pflanze ist. Er hatte einen Naturgarten im besten Sinne, und er freute sich, wenn ihm sein Garten unerwartet kleine Geschenke machte. Hier eine ungewöhnliche Glockenblume, dort ein gelber Fingerhut, eine gefüllte Akelei, ein neuer Farn oder ein winziges Veilchen. Gänseblümchen und Ehrenpreis durften unbehelligt in seinem Rasen wohnen. Im Schatten wuchsen Farne und Funkien, auf den Steinen blühte das Moos. Der Rasen meines Vaters war weich wie ein Teppich, wenn man mit bloßen Füßen darüber lief. Spaziergänger, die an unserem Garten vorbeigingen, blieben oft stehen und fragten, ob sie einen Blick in das kleine Paradies werfen durften. Mein Vater war so stolz auf seinen Garten.

In meinem eigenen Garten stehen viele „seiner“ Pflanzen. Einige stammen tatsächlich noch aus seinem verlorenen Garten. Wie so oft war der Tod des Gärtners unweigerlich auch der Tod des Gartens. Die malerische Wildnis gibt es nicht mehr, sie hat einem pflegeleichten gesichtslosen Hausgarten Platz gemacht. Ich ertrage den Anblick nicht. Ich kannte jedes Pflanzenwesen im Garten meines Vaters. Die weiße Hortensie, die noch von meiner Erstkommunion stammte, den Heidegarten hinter dem Haus, die uralten Rhododendronbüsche am Giebel, die noch aus dem Garten meiner Großmutter waren, die gelben, rosafarbenen und weißen Azaleen. Den kleinen Teich mit der seltenen blauen Iris aus Japan, die saftigen Sumpfdotterblumen und die weiße Seerose. Am Garteneingang begrüßte mich im Frühling die Magnolie mit den riesigen Tulpenblüten, daneben wuchs die zierliche Sternmagnolie. Wenn es ihn noch gäbe, würden sich jetzt im Garten meines Vaters die Buschwindröschen, Schachbrettblumen und Märzenbecher wiegen, neben gestreiften Krokussen, langstieligen Primeln und altmodischen Aurikel. So wie hier, in meinem Garten. Auch hier leuchten gerade die Forsythien und der Ranunkelstrauch, entwickelt die robuste Clematis montana unermüdlich neue Knospen und hangelt sich an kleinen Armen hoch in die Bäume. Der gelbe Ginster, dessen herber Duft mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt, öffnet gerade die ersten Schmetterlingsblüten und macht mir Heimweh. Hornveilchen, Tulpen und Narzissen sind fröhliche Farbtupfer im Grün. Sogar die Maiglöckchen sind schon zu sehen. Bei meinem Vater wuchsen sie hinter den Rhododendronbüschen, bei mir unter dem Perückenstrauch.

Anders als ich war mein Vater ein begnadeter Rosenspezialist. Ich erinnere mich noch gut an seine besonderen Lieblinge, an Bourbon-, Portland- und Damaszenerrosen, an Teehybriden, Moschusrosen,  an hübsche Namen wie Alba, Christine Hélène, Schneewittchen, Albertine und Maria Lisa.“Rosen muss man schneiden, wenn die Forsythien blühen“, sagt die Stimme meines Vaters. Ich versuche es. Jedes Jahr. Gestern habe ich meine hohen Rosentöpfe an die ihnen zugedachten Stellen im Garten gebracht. Leider habe ich mit Rosen wenig Glück, was vor allem daran liegt, dass ich mich nie traue, sie „richtig“ zurückzuschneiden. Ich schneide äußerst ungern, denn ich habe immer Angst, meinen Pflanzen weh zu tun. Ich habe auch keine großen Rosenbeete wie mein Vater, nur ein paar Ecken mit rosa blühenden Fairies, die ich genau wie er nicht als Bodendecker nutze, sondern zu einem riesigen Busch wachsen lasse, drei alte Duftrosen und viele Töpfe. Seinen Rosen hat mein Vater einen großen Teil des Gartens geschenkt, genau wie den üppigen Pfingstrosenbüschen. Auch mit Päonien habe ich leider kein Glück. Vielleicht liegt es am Lehmboden oder an den Wühlmäusen? Ich pflanze sie zwar, doch nach kurzer Zeit verschwinden sie einfach wieder. Die Pfingstrosensträuße vom Markt duften selten und niemals so intensiv wie die meines Vaters. Bei meinem letzten Besuch im alten Garten habe ich so viele mitgenommen, wie nur ins Auto passten. Der Rücksitz war ein duftendes Blütenmeer. Vorher habe ich sie alle fotografiert, um sie mir für immer zu bewahren. An der Garage meines Vaters stand früher ein wilder Rosenbusch, dessen weiche Ranken bis oben aufs Garagendach reichten und dessen rosa Blüten so stark dufteten, dass mein Zimmer zum Rosengarten wurde. Ich höre die Stimme meines Vaters am Telefon: „Stell dir vor, deine Rose hat heute angefangen zu blühen, Kind!“ Ich war ich süchtig nach seinen Rosen, nach seinen Blumen. Wenn ich während des Studiums zurück nach Köln fuhr, überreichte er mir am Bahnhof jedes Mal einen riesigen Blumenstrauß, über den sich anschließend das ganze Zugabteil freute. Im Spätsommer waren es nicht nur Rosen, sondern manchmal auch knallbunte Dahlien und Löwenmäulchen oder zerbrechliche Wicken, und im Herbst lilafarbene kleinblütige Astern oder kräftige Chrysanthemen, die bei mir Wurzeln schlugen und wieder zurück an den Niederrhein gebracht wurden, wo mein Vater sie einpflanzte. Die stammten aus seinem zweiten Garten, denn mein Vater hatte viele Jahre lang auch noch einen Nutzgarten, in dem er Gemüse und Obst anpflanzte und Schnittblumen zog.

In diesem Frühjahr habe ich mir endlich eine kleine Sternmagnolie gekauft. Drei fragile Blüten hat sie noch. Heute, an diesem besonderen Tag, stelle ich mir vor, wie mein Vater auf seiner geliebten weißen Bank in seinem neuen großen Garten sitzt, die zahmen Vögel beobachtet und sich an den Frühlingsblumen freut. Genau so hätte er sich sein persönliches Paradies gewünscht. Ein Garten voller Blumen. Vor allem voller Rosen.

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6 Antworten zu Die Rosen meines Vaters

  1. Nura Ursula sagt:

    Ich bin aufgewühlt von dieser Liebeserklärung an den Vater, die Natur, das Leben und die Brücke, die Dein Gedenken zwischen Lebenden und Toten baut., und kann mich nicht erinnern, jemals eine so großartig liebevolle und doch unsentimentale Erinnerung gelesen zu haben. Du fühlst Deinen Vater und das Leben mit allen Sinnen, und diese Intensität überträgt sich auf den Leser, der mit feuchten Augen reagiert…. Nura

  2. Ulla Genzel sagt:

    Wunderschön und berührend geschrieben, Beate!!!. Mir ging es heute genau so ähnlich. Ich bewarb mich für eine Ausstellung hier im Dorf, bei der Sparkasse. Heute kam die freudige Zusage….die Bank wurde neu gebaut. Mein Vater wäre so stolz auf mich, das war das erste was mir einfiel und schon kullerten die Tränen…..man vergißt sie nie…die Papa´s
    Und jetzt lese ich deine so liebe Geschichte, da fühle ich dir noch intensiver nach!!!!

    • admin sagt:

      Ich denke auch so oft, wie sehr sich mein Vater über meine Bücher freuen würde – von der Winnie 2 hat er glücklicherweise das meiste vorab gelesen und auch sehr lustig gefunden. Ich habe ihm meine Texte immer sofort gegeben, wenn sie fertig waren, sogar meine Buchübersetzungen.

  3. Was für eine schöne Liebeserklärung, Beate! Da habe ich gleich in aller Frühe einen Kloß im Hals :-/

    Meine Mutter ist letztes Jahr im Februar gestorben. Und ich erlebe jetzt das sonderbare Phänomen, dass sie mir nun viel näher ist als zu Lebzeiten – vielleicht, weil ich sie nicht mehr teilen muss …

    Danke für diese plastische Beschreibung einer wundervollen Blütenpracht, sie wird mir heute sicherlich den grauen Tag verschönern 🙂

    Liebe Grüße, Monika

    • Bee sagt:

      Danke, liebe Monika. Ich kann mich noch an den bewegenden Beitrag erinnern, den du über deine Mutter geschrieben hast. Ich spüre die Nähe zu meinem Vater im Moment auch ganz besonders deutlich, denn ich bin sehr viel in meinem Garten. Und hier kann ich am besten mit ihm reden.

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