Das Martinsfest im November gehörte zu den schönsten Tagen des Jahres. Wir freuten uns wochenlang im Voraus. Der Zug fand immer an einem Samstag statt. Sobald es endlich dunkel geworden war, stellten wir uns mit unseren Laternen auf und zogen dann hinter Sankt Martin und seinen beiden Begleitern durch die Dorfstraßen. Sankt Martin war ein römischer Soldat. Er trug einen roten Umhang und einen silbernen Helm und ritt natürlich auf einem Schimmel. Auch seine Begleiter hatten Pferde, gelassene Bauernpferde, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen waren. Es war ein langer Zug, fast alle Kattendonker Kinder zogen mit, die Kindergartenkinder mit ihren Gruppen, die ganz Kleinen mit Müttern, Omas oder Tanten, die Schulkinder mit ihren jeweiligen Klassen. An den Seiten gingen Feuerwehrmänner und junge Burschen mit brennenden Pechfackeln, vornweg marschierte die große Blaskapelle, am Ende eine zweite, kleinere, und an den Straßenrändern standen Zuschauer aus unserem Dorf und den umliegenden Ortschaften. Auch viele Erwachsene hatten Lampions mit und schlossen sich dem Zug an.
In diesem Jahr hatten wir die Laternen selbst gebastelt. Wir hatten schwarzen oder farbigen Karton zu Röhren zurechtgeschnitten und mit buntem Transparentpapier beklebt. Auf meiner Laterne sah man Gänse mit langen Hälsen, auf Winnies gelbe Sterne und Sankt Martin hoch zu Ross. Das Pferd war ihr besonders gut gelungen. Direkt über dem Pferdekopf hing eine kleine Fledermaus. Winnie wollte unbedingt etwas Gruseliges auf ihrer Laterne haben. Wölfe und Indianer durften wir ja leider nicht machen, weil sie mit dem Fest direkt nichts zu tun hatten.
In allen Lampions steckten echte Kerzen. Immer wieder ging irgendwo eine Laterne in Flammen auf, wurde aber schnell gelöscht, denn die Feuerwehr war in solchen Notfällen sofort zur Stelle. Die armen Fackeln waren danach unbrauchbar und blieben am Straßenrand zurück, und die ehemals stolzen Besitzer und Besitzerinnen waren meist in Tränen aufgelöst. Jeder hatte Angst, dass es ausgerechnet seine Löid erwischen könnte, sobald der Wind stärker wurde und die leuchtende Pracht gefährlich zu wackeln begann. Wir waren umgeben von riesigen Sonnen und Monden, bunten Kugeln und Würfeln, Gänsen und Enten, Mäusen, Fischen, Blättern, Scherenschnitten und Regenbögen, japanischen Faltlaternen mit Bommeln, kleinen und großen Häusern mit beleuchteten Fenstern. Vorneweg marschierten zwei Kinder mit der Schullaterne, sie stellte die Kattendonker Kirche mit Turm und Wetterhahn dar und thronte auf zwei dicken Holzstäben. Die Träger wurden regelmäßig ausgewechselt, so schwer war die Laterne. Die Blaskapelle spielte ein Lied nach dem anderen, und wir sangen aus voller Kehle:
"St. Martin! St. Martin! St. Martin ritt durch Schnee und Wind. Sein Ross, das trug ihn fort geschwind."
Es war sehr feierlich. Inzwischen war es ganz dunkel, und wir zogen immer noch durch das Dorf. Überall standen Leute und winkten uns zu, Mütter hatten ihre Babys auf dem Arm, Geschäftsleute standen vor ihren Läden. Auf manchen Fensterbänken sah man flackernde Kerzen, in den Fenstern hingen gelbe Mondgesichter. Wir zogen in Richtung Schule. Die Kapelle spielte auch mein Lieblingslied mit der traurigen Melodie.
"Der Herbststurm braust durch Wald und Feld, Die Blätter fallen nieder, Und von dem dunklen Himmelszelt Sehn schwarz die Wolken nieder. St. Martin reitet dann sein Pferd, So schnell die Wolken eilen, In seiner Rechten blitzt das Schwert, Die Nebel zu zerteilen."
Die drei Pferde gingen ganz langsam, blieben manchmal stehen und schnaubten, scharrten mit den Hufen oder versuchten halbherzig, zur Seite auszubrechen, aber es passierte nie etwas. Sie wurden von Männern geführt, die darauf achteten, dass sie schön ihren Weg einhielten. Wir hatten unser eigenes plattdeutsches Lied, das es nur in der Gegend von Kattendonk und Grefrath gab. Also in Oedt und Mülhausen, Hinsbeck, Lobberich und Kempen. Trotzdem gab es hier Abweichungen. In Kempen war der Text ganz anders. An unserem Lied erkannte man sofort, ob jemand aus Kattendonk kam.
"Tsent Meerten ös no all wär heei, loop Kenger loop, wenn heä os röpt: ich bön al heei, loop Kenger loop. On die Löid en de Hongk un dat Kärtsken aanjebrongk on die Schtroat aav on op, loop Kenger loop!"
Wir hatten kalte Füße und leuchtende Augen und wurden immer aufgeregter, denn wir näherten uns allmählich dem riesigen lodernden Feuer mit dem frierenden Bettler. Als wir näher kamen und uns hinter der Absperrung versammelten, stand er auf und ging langsam um das Feuer herum. Er trug viel zu große Sandalen mit Stroh darin. Sankt Martin ritt auf das Feuer zu. Sein Pferd schnaubte; man sah, wie Dampfwolken aus den Nüstern stiegen. Plötzlich verstummte die Musik, das Feuer krachte und prasselte, und Sankt Martin erreichte den armen Mann.
Es sah aus wie ein Scherenschnittfilm, und wir waren ganz still. Der Bettler streckte bittend die Hand aus, Sankt Martin neigte sich zu ihm herab und sprach mit ihm. Dann zog er das Schwert, teilte seinen Mantel und reichte die eine Hälfte dem Bettler, die andere hängte er sich selbst um. Das Feuer loderte, die Flammen schlugen hoch in die Nacht, und die Funken stoben in alle Richtungen. Der Bettler wickelte sich in den halben Umhang. Jetzt setzte die Musik wieder ein. Wir sangen unser Lied schnell zu Ende, denn danach begann das große Feuerwerk.
Erwartungsvoll und etwas ängstlich schauten wir in den Himmel, wo unzählige Raketen krachend und pfeifend hochstiegen. Die Welt explodierte in den schönsten Farben. Überall fielen langsam kleine und große Sterne zur Erde. Funken regneten auf uns herunter und erloschen meistens schon, bevor sie den Boden berührten. Winnie und ich hielten uns fest an den Händen. Alle schauten hoch, ihre Gesichter strahlten mal rot, mal grün, mal blau, mal gelb. Es war jedes Mal atemberaubend.
So schön wie mit Winnie in Kattendonk ist St. Martin nie wieder für mich gewesen. Ich wusste es damals nur noch nicht.
(Auszug aus: „Mit Winnie in Kattendonk“)