Wie von einem anderen Stern

Das häßliche Entlein

Andersens Märchen haben mich als Kind traurig gemacht, aber auch oft getröstet. Besonders das vom häßlichen Entlein. Weil es gut ausging nach all dem Kummer. Ich verstand das häßliche Entlein, das überall aneckte, so gut. Ich fand Entenküken auch wunderschön, sie waren so niedlich, gelb und flauschig. Auch ich hatte das Gefühl, dass ich nicht dazugehörte. Ganz und gar nicht. Irgendwas war schief gelaufen bei mir. Ich war nicht niedlich, gelb und flauschig. Eher grau, unsicher, ungelenk, fehl am Platz. Und das Gefühl, dass andere deswegen auf mir herumhackten und mich zwackten, kannte ich auch. Es tat weh und bedrückte mich. Was machte ich falsch? Warum konnte ich nicht sein wie die anderen? Warum war ich so allein? Warum wurde ich dauernd mit den anderen verglichen? Meine Mutter versuchte zwar, mich zu beschützen, aber richtig zufrieden war sie auch nicht mit mir.

„Pfui! Wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir durchaus nicht dulden!“ Und sogleich flog eine Ente hin und biss es
in den Nacken. „Lass es in Frieden!“, sagte die Mutter, „es tut ja niemand etwas.“ „Ja, aber es ist zu groß und ungewöhnlich“, sagte die beißende Ente, „und deshalb muss es gezwackt werden.“ „Es sind hübsche Kinder, die uns die Mutter da vorführt“, sagte die alte Ente mit dem Lappen um das Bein, „alle sind sie schön, bis auf das eine, das ist nicht geglückt. Man möchte, dass sie es umarbeiten könnte.“ 

Leg dir ein dickeres Fell zu!

Wer gleichzeitig ängstlich, schüchtern und dünnhäutig ist, merkt meist schon früh, dass mit ihm etwas nicht stimmt, fühlt sich ausgegrenzt und unverstanden, empfindet sich als „falsch“, vielleicht sogar als krank. Leider finden das auch die anderen, manchmal sogar die eigenen Eltern. Ratschläge und Tadel gibt es wie Sand am Meer, man kann sie nur nicht umsetzen. Sätze wie „Du fühlst einfach zu viel!“, „Stell dich nicht so an!“ oder „Du musst dir ein dickeres Fell zulegen!“ sind den meisten zart besaiteten Menschen bereits in der Kindheit wohlvertraut.
 „Das ist doch nicht normal!“, sagten auch meine Eltern. „Das Mädchen ist lieber allein als mit anderen Kindern zu spielen.“ Ich war tatsächlich am liebsten allein, dann hatte ich wenigstens keinen Stress. Die anderen machten mir Angst.

„Kannst du Eier legen?“ fragte die Henne. „Nein.“ „So wirst du schweigen müssen!“ Und der Kater fragte: „Kannst du einen krummen Buckel machen, schnurren und Funken sprühen?“ „Nein.“ „So darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute sprechen.“

Nicht geglückt

Bis zu meiner Erkenntnis, hochsensibel zu sein, hatte ich oft genug das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Als Kind war es nahezu unerträglich. Meine Angst- und Stresspegel waren chronisch erhöht. Ich war schüchtern und traute mir nichts zu. Ich war extrem verletzlich (nicht etwa nachtragend, wie die anderen meinten, weil es so lange dauerte, bis ich mich wieder erholte) und sprach offenbar eine Sprache, die niemand verstand. Ich fühlte mich ausgeliefert, schutzlos, überempfindlich. Kam ich etwa von einem anderen Stern? Ich war „nicht geglückt“, genau wie das hässliche junge Entlein, nur dass aus mir bestimmt niemals ein Schwan werden würde. Nichts wünschte ich mir sehnlicher! Aber es half alles nichts. Ich war noch viel einsamer als das häßliche Entlein. In seiner Geschichte gab es ja ein Happy End. In meiner bestimmt nicht.

Wie von einem anderen Stern

Das ungute Gefühl, nicht in diese Welt zu passen, hatte ich auch als Erwachsene lange noch. Ich hatte einfach zu viele Macken und Ängste. Ich begriff nicht, warum ich in bestimmten Situationen so viel mehr Stress hatte als andere, warum ich oft so erschöpft und ausgelaugt war, warum ich Einkaufszentren und Kaufhäuser hasste, bei Zeitdruck durchdrehte, in Gruppen verstummte und bestimmte Geräusche und Gerüche kaum ertrug. Gedanken, Bilder, Gefühle, alles klang bei mir viel länger nach als bei anderen. Nach einem Zahnarztbesuch war ich stundenlang fertig. Ein falsches Wort am Morgen, und der Tag war gelaufen. Oft war ich unglücklich mit mir selbst, weil ich mich trotz aller Mühe nicht ändern konnte.

„Ich gehe wohl am besten hinaus in die weite Welt!“ sagte das Entlein. „Ja, tue das!“ sagte die Henne. Und das Entlein ging; es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Häßlichkeit übersehen. 

Wahrscheinlich wäre mir viel Kummer erspart geblieben, wenn es das Konzept der Hochsensibilität bereits in meiner Kindheit gegeben hätte. Möglicherweise hätte man mich dann nicht so oft als „Mimose“, „Sensibelchen“ und „Zimperliese“ verspottet. Die Einsicht, dass ich einfach nur besonders feine Antennen habe und es vielen anderen Menschen genauso geht wie mir, hat mir geholfen, meine vermeintlichen „Schwächen“ anzunehmen.

Eines Tages…..

Glücklicherweise kann man die vielen negativen elterlichen und gesellschaftlichen Botschaften, falschen Selbstbilder und unklaren Regeln, die man als Kind übernommen hat, als Erwachsener nachträglich noch außer Kraft setzen, indem man mit seinem inneren Kind Kontakt aufnimmt und es tröstet und stärkt. Gerade Hochsensible haben oft einen intuitiven Zugang zur eigenen Seele und verfügen über sehr gute Selbstheilungskräfte. Wer sein inneres Kind liebevoll annimmt, kann alte Wunden schließen und verschüttete Emotionen endlich zulassen und fördern. Oft stellt sich dabei sogar heraus, dass in unseren vermeintlichen Schwächen unsere größten Stärken verborgen liegen.

Man braucht nur jemanden, der einem den richtigen Weg zeigt. Das können andere Menschen sein, manchmal schafft es sogar ein einziges Buch oder der richtige Vortrag zur richtigen Zeit. Und dann stellt man eines Tages erstaunt fest, dass man gar kein hässliches Entlein mehr ist, sondern tatsächlich ein Schwan geworden ist. Und dass es noch viel mehr Schwäne auf dieser Welt gibt, die genau so sind und einen sehr gut verstehen. Aber es bleibt ein Wunder.

Aber was erblickte es da im klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, und es war kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr; hässlich und garstig, sondern selbst ein Schwan.

(Textauszüge aus meinem Buch „Von wegen Mimose“ und aus „Das hässliche junge Entlein“ von Hans Christian Andersen; Fotos von unsplash und pixabay)

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