Ein wenig sind die Bilder meiner Freundin Ulla Genzel in den letzten Jahren meine ganz persönliche Tür zum Niederrhein geworden. Seit meine Eltern nicht mehr leben, bin ich nur noch selten dort. Doch in Ullas Bildern kann ich jederzeit völlig unbeschwert umherwandern und nicht nur Szenen aus meiner Kindheit, sondern sogar aus meinen Büchern entdecken. Jetzt im Frühling kann ich aus der Ferne zusehen, wie die knorrigen Kopfweiden, die im Winter so traurig und gestutzt als Wächter an den Flüssen stehen, zartgrün austreiben, bis sie richtig grüne Blätterperücken haben, und finde auch meine blaue Hasenblumenwiese wieder.
Ich kann mich nur zu gut erinnern, wie unsere Gärten und die Weiden und Wiesen an Nette und Niers im Frühling aussahen und rochen. Den Duft habe ich mir zum Teil auch in meinen Garten geholt. Auch hier wachsen Hyazinthen, Hornveilchen und Dichternarzissen, auch hier blühen gerade Ranunkelstrauch, Forsythien, Scheinquitte, Holzapfelbaum, Obstbäume und schwefelgelber Ginster. Bei Ulla kann ich im Frühling sogar noch nach Herzenslust mit nackten Füßen durch die Felder laufen und den ersten Klee und Löwenzahn für meine Kaninchen pflücken. Besonders schön finde ich die versteckten kleinen Details, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt. Manchmal ist es eine Zahl, die für Ulla eine besondere Bedeutung hat, ein andermal ein roter Luftballon, und hier bei den Frühlingsblumen ist es eine vorwitzige kleine Maus, die rechts unten aus dem Grün lugt.
Auch an die kleinen wilden Stiefmütterchen erinnere ich mich jetzt wieder, an das zierliche Wiesenschaumkraut, die ersten Schlüsselblumen und Windröschen, die wiegenden Schachbrettblumen an den zerbrechlichen Stängeln, an die ersten Wiesenblumensträuße, die wir von unseren Ausflügen mit nach Hause brachten. An den Geruch der Felder an einem milden Frühlingstag kurz vor dem Regen, wenn die Luft plötzlich irgendwie anders wurde, sich ein klein wenig kälter anfühlte und ein klein wenig strenger roch, und der Himmel sich auf einmal ein klein wenig grauer und trüber färbte. Damals fanden wir es schön, mitten im Feld zu stehen und uns beregnen zu lassen wie von einer sanften, erfrischenden Himmelsdusche, bevor wir notgedrungen den Schirm aufspannten. Zu nass durften wir ja nicht werden, das wäre aufgefallen! Bei uns zu Hause gab es damals nur eine langweilige Badewanne, die leider bloß einmal die Woche benutzt wurde. Traditionelle Familienbadezeit war samstags, nach dem Autowaschen, und man tat gut daran, als erste ins Wasser zu steigen, weil es dann noch schön heiß war. Am besten mit einer tiefgrünen „Fichtennadel“-Badetablette. Auf dem roten Höckerchen neben der Wanne stand das kleine Kofferradio. Ich setzte alles daran, pünktlich zu „Die großen Acht von Radio Luxemburg“ ins grüne Wasser zu steigen.
Der einsame Waldwiesenweg erinnert mich an die vielen Fahrradtouren, die ich als Kind und Jugendliche mit meiner Freundin Winnie machte. Meistens fuhren wir in die Süchtelner Höhen, weil es da so schön einsam war. Es gab da eine ganz besondere Stelle, wo es so steil bergab ging, dass man das Gefühl hatte zu fliegen. Ich höre noch die Bienen und Hummeln, die vielen Singvögel und all die kleinen Tiere, die unsichtbar im Gras wisperten und wuselten, und spüre den weichen Waldboden unter meinen Füßen. Winnie und ich hatten immer genug zu essen und zu trinken dabei, um ein kleines Picknick zu machen. Es gab meistens Butterbrote mit „frischem Holländer“, eine Flasche Sprite und natürlich Plätzchen von de Beukelaer. Schließlich bekamen wir jede Woche freitags eine große braune Tüte mit Bruchkeksen aus Kempen mitgebracht. Wir waren ganz allein, weit weg von unserem Dorf, in einer anderen Welt, ganz nah bei Winnetou und Old Shatterhand, den sprechenden Tieren und all den Mythen und Märchen aus aller Welt, die wir so spannend fanden.
Die drei lebenslustigen Damen, die auf Ullas Bildern immer wieder auftauchen und leicht schräg und bestens gelaunt (sogar bei Schnee und Regen!) durchs Leben tanzen, erinnern mich stark an mein kuchensüchtiges Tante Finchen aus den beiden „Winnie“-Büchern. Schade, dass meine anderen Großtanten nicht so unternehmungslustig und weltoffen waren wie Finchen – besonders die strenge Tante Pia. Sie war Finchens krasses Gegenteil, immer etwas säuerlich und ständig „auf Diät“. Zum Glück hatte Finchen für ihre Ausflüge ihre beiden Freundinnen aus dem Kirchenchor! Da Finchens Lieblingsfarbe Blau war, würde ich fast wetten, dass nur sie die Dame links auf der Bank sein kann. An genug Proviant für die Radtour (am Niederrhein heißt das Fahrrad übrigens „Fiets“) hätte sie bestimmt auch gedacht. „Essen hält Leib und Seele zusammen“ war schließlich ihr Lebensmotto.
Wer weiß, vielleicht hat Ulla mein Tante Finchen ja mal getroffen? Meine Großtante war schließlich oft genug in Kevelaer und irgendwann bestimmt auch mal im „Kevelaer Kaffeehaus“. Finchen war nicht von ungefähr Spezialistin für alles, was man in Konditoreien erwerben kann. Schließlich war sie die Tochter eines Konditors, der am gesamten Niederrhein für seine exzellente „Grillagetorte“ berühmt gewesen war. Von ihm stammte auch Finchens Rezept. An den Kuchen habe ich mich beim Schreiben urplötzlich wieder erinnert und ihn beim nächsten Niederrhein-Trip dann auch endlich mal wieder gegessen. Leider war er längst nicht so gut wie der von Tante Finchen! Viel zu süß!
Wer mag, kann meine Niederrhein-Erinnerungen in den beiden Büchern „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“ nachlesen. Zu Ulla Genzel habe ich hier auf meiner Homepage übrigens schon mehrere Beiträge geschrieben. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten: „Sommer am Niederrhein – mit Ulla Genzel“.
Das ist ja traumhaft. Danke für diesen herrlichen Beitrag.
Freut mich sehr, dass es dir gefällt, lieber Karin.