Auch wenn sich die Liebfrauenschule im Laufe der Jahre sehr verändert hat, gibt es immer noch vertraute Stellen, zum Beispiel die weiße Villa Bongartz und das alte Physikhaus. Beim Anblick der dunklen Backsteinmauern fiel mir gleich der denkwürdige Morgen ein, an dem wir nach einem mißglückten Experiment gemeinsam mit Schwester Irmengarde hustend und nach Luft ringend aus dem Gebäude fliehen mussten, weil es unerträglich nach faulen Eiern stank. Erst unter dem Dach des Kastanienbaums wurde es besser. Danach war es nur noch lustig. Sogar für Schwester Irmengarde.
Die hellen, stillen Flure mit den verzierten Bögen und dem kühlen Schachbrettboden mochte ich schon immer, und ich meine mich zu erinnern, dass die dunkle Tür zu meiner Schulzeit schon ganz genauso aussah. Schade, dass der besondere Klosterschulenduft, auf den ich mich so gefreut hatte, komplett verschwunden ist. Es war eine eigenwillige Melange aus Steinkälte, Bohnerwachs, Möbelpolitur (in der Kapelle ergänzt durch diverse Kerzen-, Weihrauch- und Blumennoten) und allerlei Undefinierbarem. Wenn ich einen Namen dafür finden müsste, wäre es wohl am ehesten „feierlich“ oder einfach nur „klösterlich“. An anderen Orten, einmal sogar in einem englischen Internat, habe ich die kühle Melange sofort wiedererkannt, aber leider trotz meiner hochsensiblen Sinne nie genau analysieren können. Die Klassenräume riechen heute auch nicht mehr „richtig“. Vielleicht liegt es an der modernen Technik? Kreide, Tafeln, Schwämme und Tafellappen sind ja auch auf Nimmerwiedersehen verschwunden.
In den Sechziger Jahren
Am Anfang unserer Schulzeit verfügte das Kloster noch über eigene Ställe und Dienstbotenhäuschen, die jedoch bald der großen neuen Sporthalle weichen mussten, genau wie der verwunschene Kräutergarten. Neben dem Hauptgebäude stand das Physik- und Chemiehaus. Das verwinkelte alte Schulgebäude ging in einen langen Küchentrakt über, der den bedauernswerten Schülerinnen des F-Zweigs vorbehalten war, die hier in Kochen und Hauswirtschaftslehre unterrichtet wurden. Die Ärmsten mussten außerdem stricken und nähen, bis ihnen die Finger abfielen. Wir wollten auf jeden Fall in die G. Erziehungswissenschaft interessierte uns nicht, Handarbeit kam nicht in Frage, und Kochen fanden wir todlangweilig. Den ganzen Tag im Kittel am heißen Herd stehen und in Töpfen und Pfannen rühren? Es war schon schlimm genug, dass wir zu Hause beim Spülen, Erbsenpulen und Bohnenschnippeln helfen mussten. (aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)
Im Backsteingebäude ganz rechts befand sich mein erstes Klassenzimmer, man musste die Treppe hoch, an der heute „Der Kuss“ von Klimt die Wand ziert – zu meiner Zeit wäre gerade dieses Bild sicher undenkbar gewesen! Im selben Flur hatten wir unseren ersten Lateinunterricht, der mich bis heute in meinen Träumen verfolgt. Die Hautfarbe unseres Lehrers, der im Buch Prälat Sandemann heißt, war aufgrund einer Gasvergiftung im Krieg lilablau, was für unsere Kinderaugen äußerst unheimlich aussah. Ich fürchte, ich habe ihn in meiner Angst ziemlich verzerrt wahrgenommen. Unten im selben Gebäude war der große Externenraum, in dem ich im Herbst und Winter frühmorgens (gefühlt) stundenlang saß und Vokabeln lernte, weil mein Vater mich im Stockdustern auf seinem Weg nach Krefeld im Auto mitnahm und vor der schlafenden Schule absetzte.
Hier leistete mir oft Schwester Sirilla Gesellschaft. Sie unterhielt sich mit mir, hörte sich geduldig meine Sorgen an oder malte mit schönen Buchstaben Lesezeichen, auf denen „Ora et labora“, „Freu dich des Lebens“ oder „Ohne Fleiß kein Preis“ stand. Natürlich baten wir sie auch alle um einen Eintrag ins Poesiealbum. Wie gut, dass es einige der Alben noch gibt!
Nach der Schule gab es für besonders hungrige Kinder bei Schwester Sirilla für wenig Geld eine leckere Suppe. Im Buch heißt sie Schwester Lucia und kommt unter diesem Namen auch in einer meiner Erzählungen vor. „Nebel über der Niers“ gehört ins Genre der phantastischen Geschichten, und die geheimnisvollen Niersmatronen spielen darin eine wichtige Rolle. Die drei Göttinnen stammen noch aus römischer Zeit und wurden früher ganz in der Nähe mit einem Schrein verehrt. Heute sind sie am Niederrhein leider so gut wie unbekannt, aber wenn man großes Glück und wache Sinne hat, kann man ihnen bei Dämmerung und Nebel immer noch unverhofft begegnen.
Vor dem Backsteingebäude in der Nähe der Mauer befanden sich unzählige Fahrradständer, an denen wir stolz unsere Drahtesel banden oder anketteten. Unter den Bäumen spielten wir in den Pausen brave Mädchenspiele wie Gummitwist und Seilchenspringen – wenn wir uns nicht in den riesigen Park absetzten.
Den damaligen Küchentrakt mit all seinen interessanten Koch- und Backdünsten habe ich nie betreten, so dass er in meiner Vorstellung bis heute irgendwie die Aura des Geheimnisvollen besitzt. Ob es wohl die alte Glocke wohl noch gibt, mit der unsere strenge Direktorin immer die Versammlungen einläutete? Das Ding war ziemlich groß und sein Klang äußerst durchdringend. Wenn die Glocke geschwungen wurde, mussten sich die Schülerinnen warm anziehen. Aber vielleicht gibt es ja sogar irgendwo in der Schule ein kleines „Museum“? Da sind dann vielleicht auch die großen Glasvitrinen mit den ausgestopften Tieren, die immer so ernst und verständnisvoll auf uns herabschauten.
Altvertraut und extrem fremd zugleich war für mich der ehemalige Musiksaal, in dem vor vielen Jahren meine musikalische Initiation stattfand. Meine Eltern hörten aus irgendwelchen Gründen nie klassische Musik, so dass ich durch nichts auf „Die Moldau“ von Smetana, das erste Klavierkonzert von Tschaikowski und „Die Fünfte“ von Beethoven vorbereitet war. Erst recht nicht auf die beiden Stellen in Dvoraks „Symphonie Nr. 9“ (aus der Neuen Welt), die mich mehr oder weniger vom Stuhl hauten. Die Schauern, die mir beim Erstkontakt mit diesen Werken über den Rücken liefen, waren unvergleichlich. Danach war ich musiksüchtig und konnte von Klassik gar nicht genug bekommen. Nur für Opern und Operetten fehlt mir bis heute jeder Sinn, aber das ist eine andere Geschichte und hat auch mit dem Musiksaal zu tun. Eine Stelle aus „Zar und Zimmermann“ kann ich bis heute auswendig, weil wir sie so oft schmettern mussten, dass sie uns aus den Ohren herausquoll. Es kommt mehrfach das Wort „Dideldum“ darin vor, und der Text ist wirklich schrecklich.
Mit meiner Blockflöte stand ich auf Kriegsfuß, zu schlimm waren die aufgezwungenen Auftritte vor Verwandten mit all den falschen Tönen und peinlichen Aussetzern. Gitarrenunterricht gab es damals an der Schule leider nicht. Dafür kann ich bis heute eindrucksvoll viele Volkslieder. Sogar als zweite Stimme und auch überaus schön im Kanon. Gelernt ist gelernt!
Im Musiksaal wurden wir übrigens auch oft genug eingeschlossen (angeblich zu unserer eigenen Sicherheit), sobald Schwester Engeltrudis, wie sie (zu ihrer eigenen Sicherheit) in meinem Buch heißt, verdächtige Männer im Park sichtete. Keine Ahnung, warum sie auf Männer so extrem reagierte. Die Männer auf sie übrigens auch. Schon bei der fernen Sichtung von Handwerkern trieb sie uns gleich mit lautem Händeklatschen wie eine munter schnatternde Entenschar vor sich her. Raus aus dem Park, rein in den Musiksaal! Und nur nach vorn kucken! Danach wurden gleich die Türen abgeschlossen. Natürlich erst, nachdem sie die Schar doppelt durchgezählt hatte und absolut sicher war, dass keine fehlte.
Sogar den Werken meiner Kunstlehrerin Lisa Vogt bin ich in den Fluren begegnet. Die Uhrenbilder hat sie mir mal in ihrem „Allerheiligsten“ gezeigt, als ich ihr nach dem Unterricht beim Aufräumen half. Ich meldete mich dazu immer freiwillig, denn Kunst war mein Lieblingsfach, und Frau Vogt war mein großes Vorbild. Ich bewunderte sie rückhaltlos. Genau so wie sie wollte ich später werden. Eine freischaffende Künstlerin! Mit eigenem Atelier! Mit eigenem Auto! Ohne Mann! Unabhängig und autark!
Das Riesenpult im Zeichensaal kam mir vor wie ein alter Bekannter, und auch der Blick auf die Mülhausener Kirche, deren Turmdach in meinen Kinderaugen immer irgendwie falsch proportioniert war, ist gleich geblieben. Auch das Entenhaus habe ich entdeckt, allerdings fernab vom Teich und gänzlich ohne Enten. Den schönen Teich und den malerischen Schulpark gibt es nur noch auf Fotos und in der Erinnerung. Für mich war er neben dem verfallenen Grefrather Kirchhof mein wildromantisches Paradies. Aber darüber habe ich ja bereits geschrieben.
Sehr geehrte Frau Felten-Leidel,
mit großer Begeisterung habe ich Ihren Beitrag „Mülhausen revisited-vertraute Ecken“ gelesen und ganz begeistert bin ich von Ihrem Buch „Mit Winnie in Niersbeck“ in dem ich viele Ihrer Lehrerinnen und Lehrer erkannt habe. Leider war ich bei Ihrer Lesung im September in Urlaub, aber die Schwestern haben begeistert von der Begegnung erzählt.
Als Sie Schülerin in Mülhausen waren, war ich im Noviziat und so sind mir die Gerüche von damals auch ab und zu noch in der Nase.
Jetzt lebe ich seit 20 Jahren wieder hier und habe in dieser Zeit verantwortlich für alle Neubauten und Renovierungen in der LFS gestanden, bis wir die deutschen Provinzen zusammenlegten und meine Arbeit von der Verwaltung in Coesfeld übernommen wurde.
Heute bin ich für die Klosterverwaltung und die kleine Schwesterngemeinschaft verantwortlich und halte den Kontakt zur LFS. Nach den Weihnachtsferien werde ich Ihre Mail nach dort und an Frau Gaby Beeck weiterleiten.
Herzlichen Dank und Gottes Segen
Ihre Sr. M. Magdalena Dautzenberg
Sehr geehrte Schwester M. Magdalena,
ich freue mich sehr über Ihren Kommentar zu meinem Beitrag und zu meiner „Winnie“. Wie schade, dass Sie im September nicht da sein konnten, aber vielleicht lese ich ja bald noch einmal in meiner alten Schule und wir können uns persönlich kennenlernen. Es war für mich tatsächlich ein sehr emotionales Wiedersehen, und es gibt auch sicher noch eine Menge zu entdecken, wenn man mit wachen Sinnen durch die Gebäude geht – bestimmt finde ich noch weitere kleine „alte“ Spuren, wenn ich ein wenig mehr Zeit habe. Auch die Kapelle würde ich gern noch einmal besuchen und fotografieren. Vielleicht gibt es ja irgendwo im Kloster auch noch alte Aufnahmen aus meiner Schulzeit – von den Klassen, den Schwestern und vom Park?
Haben Sie vielen Dank und grüßen Sie bitte die Schwestern von mir.
Ihre Beate Felten-Leidel