Beim Schreiben meines Romans, der im Moment noch auf Verlagssuche ist und in den Jahren 2002 und 2003 im Belgischen Viertel in Köln spielt, mußte ich oft an Hermann Götting denken, denn er wandert genauso heiter und beschwingt als schillernder Paradiesvogel durch mein Buch wie früher durch die Straßen unseres geliebten Veedels. Als ich noch in der Maastrichter wohnte, habe ich ihn draußen oft getroffen, wenn er wieder mal mit seinen Hunden unterwegs war oder sich mit seinem Bollerwagen im Schlepptau und einer Flasche Wein unter dem Arm auf die Jagd nach neuen Schätzen machte. „Nichts darf verloren gehen“ war seine Devise. Hermann Götting war ein passionierter Sachensammler und Spurensicherer, doch seine umfangreiche Sammlung, die auf jeden Fall ein eigenes Museum (und zwar hier in Köln!) verdient hätte, wurde nach seinem plötzlichen Tod 2004 schnell auseinandergerissen. Nur ein kleiner Teil seiner Objekte (etwa tausend von mehr als hunderttausend) konnte zusammen bleiben und befindet sich heute im Museum für Angewandte Kunst in Gera. Doch die meisten seiner Möbel, Büsten, Schilder, Vasen, Lampen, Türen, Fenster, Reklametafeln, Ladeneinrichtungen und Kostüme sind in alle Winde zerstreut. Dabei hätte ein Hermann-Götting-Museum so gut zu seiner Wahlheimat Köln gepaßt, denn er betrieb ja vor allem die Spurensicherung dieser Stadt!
Hermanns zahlreiche Schätze füllten zu seinen Lebzeiten mühelos mehrere Lager, die ihm die Stadt zur Verfügung stellte, und natürlich auch die Zimmer seiner Wohnung in der Richard-Wagner-Straße. Jeder Raum war in einem anderen Stil dekoriert und eingerichtet, und man konnte sich kaum satt sehen an all den kunstvoll in Szene gesetzten Gegenständen, die er so liebevoll zusammengetragen hatte. Es hat mir große Freude gemacht, meinen Buchmädchen Marigard und Michan dieses Paradies zu zeigen und zu beobachten, wie sie staunend und ehrfürchtig durch Hermanns Zimmer gehen und anschließend andächtig mit ihm in der Küche sitzen, von Marigards Buchprojekt erzählen und süßen Kakao trinken. Hermann wußte übrigens tatsächlich von meinem Roman und gab mir und den Buchmädchen damals bereitwillig Auskunft, allerdings unter der Bedingung, dass er dann bitte schön auch ein ganzes Kapitel nur für sich bekommen wolle. Das hat er. Nichts leichter als das. Meine Erinnerungen sind übrigens auch deshalb noch so frisch und klar, weil Hermanns Paradiesvogelwelt von einer ganz besonderen Kölner Fotografin stimmungsvoll eingefangen und vor dem Vergessen bewahrt wurde. Ich freue mich sehr, dass ich einige ihrer Bilder zeigen darf, und hoffe, dass auch meine Erinnerungen und Marigards Schilderungen den Lebenskünstler wieder ein wenig präsenter machen können. Vielleicht sogar über die Grenzen von Köln hinaus. Hermann Götting hat es verdient. Nichts darf verloren gehen!
Schon der Flur mit den vielen Lampen war eindrucksvoll, doch betrat man erst die Küche oder den Salon, kam man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Noch nie habe ich so viele Starfotos, Schaufensterpuppen und Büsten auf einem Fleck gesehen. Leider wagte ich nie, bei meinen Besuchen den Fotoapparat zu zücken, es hätte irgendwie nicht gepaßt und vielleicht auch die ganz besondere Stimmung zerstört, obwohl er mich gelegentlich sogar als Lichtbildnerin bezeichnete. Das schrieb er auch auf die Umschläge, wenn er mich mit einer seiner tollen Karten zum Geburtstag einlud. Ab 1989 feierte er nur noch seinen Fünfzigsten (+). Keine schlechte Idee. Er feierte ihn leider nur fünfzehn Mal. Ich wurde für ihn zur Lichtbildnerin, weil ich im Viertel so viel fotografierte und ihn ab und zu mit Aufnahmen von Jugendstilfenstern und alten Straßenschildern überraschte, die er zu seinem Bedauern nicht hatte retten können. „Dann hab ich sie jetzt wenigstens als Bild“, meinte er. Ich selbst habe kein einziges Bild von ihm gemacht, doch zum Glück kenne ich die Fotografin Helga Pisters, die mit Hermann gut befreundet war und ihn, seine Hunde und die Wohnung ausgiebig fotografiert hat. Hermann war nicht nur ein leidenschaftlicher Sammler, er war auch ein begnadeter Selbstdarsteller, der sich jeden Tag anders gewandete, die meisten Kleidungsstücke und Kostüme selbst schneiderte und stets neu und „anders“ kombinierte. Nähen hatte er schon als Schüler gelernt, als einziger Junge unter lauter Mädchen.
Sein größter Traum, ein berühmter Schauspieler zu werden, hat sich zu seinem Bedauern nicht erfüllt, dafür aber sein zweitgrößter: Straßenbahnschaffner! Auch in dieser Rolle war er überraschend und gänzlich unkonventionell. Er pflegte in seinen Bahnen die Fahrgäste persönlich zu begrüßen und sämtliche Haltestellen singend anzukündigen, und seine Gäste lächelten, wenn sie ausstiegen. Hermann sah nicht nur eindrucksvoll aus (groß und gewichtig), er hatte auch eine kräftige, wohltönende Stimme und liebte es, als Conferencier und Entertainer vor großem Publikum aufzutreten und alte Schlager zu singen. Im Internet gibt es noch ein Video, in dem man sehen kann, wie er in einer seiner Gewandungen auf seinem kleinen Roller direkt in eine WDR-Talkshow fährt, begleitet von seinem japanischen Tempelhund Amour. Noch imposanter als Amour waren die Riesendoggen Valentino und Ivo Fürst von Metternich (Ivo 1 und Ivo 2). Vorher oder zwischendurch, genau weiß ich es nicht mehr, gab es auch noch den betagten schwarzgrauen Nicki und den eigenwilligen Chow Wotan Wahnwitz. Sämtliche Hunde waren ihrem Herrn äußerst zugetan und folgten ihm freiwillig ohne Leine überall hin. Nur Amor trug ein Geschirr, damit er nicht überfahren wurde, denn der weiße Akita Inu war taub. Neben dem Hunderudel beherbergte Hermann zeitweise auch jede Menge (ausgesetzte) Katzen, zwei Schlangen (eine riesige und eine kleinere), deren Leben er zufällig gerettet hatte, und etliche Kaninchen. Leider fraßen die Schlangen ausschließlich Lebendfutter, daher wurde die Fütterung von einer Freundin übernommen, während Hermann kurz an die frische Luft ging. Alles, was sie verschmähten, wurde sofort begnadigt und durfte fortan in Hermanns Küche wohnen.
Sein Kleiderschrank muss randvoll mit Fantasiekostümen gewesen sein, denn Hermann liebte Verkleidungen und war ungemein wandlungsfähig. Mich erinnerte er mit all seinen Strick- und Samtmützen, Kappen und Hüten oft an Rembrandt, und so heißt er auch bei der Familie in meinem Roman. Wenn er in wallenden Gewändern über die Kölner Ringe marschierte, kam es gelegentlich zu Auffahrunfällen, weil die Autofahrer ihren Augen nicht trauten und vor lauter Verblüffung nicht mehr auf den Verkehr achteten. Eins von Hermanns Lieblingsstücken war ein Mantel mit passender Krawatte (keine Ahnung, ob genäht oder geklebt) aus Plus-Plastiktüten. Mir gefiel das orangeblauweiße Teil überhaupt nicht, aber Hermann bestand darauf, dass es sein ganz persönliches kritisches Statement zur Konsumkultur sei. Offenbar war das Plusgewand ein sündhaft teures Designerstück, das sich der notorisch an Geldmangel leidende Hermann buchstäblich vom Mund absparen musste. Wenn ich mich nicht irre, befindet es sich heute im Kölnischen Stadtmuseum.
Wenn Hermann Götting vornehm wie ein Maharadscha mit seinen Tieren durchs Belgische Viertel schritt, huldvoll lächelnd und mit einem seiner übergroßen Fächer wedelnd, verrenkten sich die Touristen jedes Mal verdutzt die Hälse und begannen aufgeregt zu tuscheln (was er sehr genoß), während die Ureinwohner nur kurz aufblickten und „Da kütt de Jeck!“ murmelten (was ihn sehr erheiterte). Aus dem Belgischen Viertel war er jedenfalls nicht wegzudenken. Besonders malerisch fand ich seine Auftritte im Herbst und Winter. Ich werde nie vergessen, wie er an der Spitze seiner Hundekarawane in roter Gardeuniform und Stulpenstiefeln an St. Michael vorbei durch den Schnee stapfte oder bei heftigstem Blättertreiben mit einer Hand an seinem unglaublichen Wagenradhut zur Reinigung in der Neuen Maastrichter Straße eilte. Nur an Karneval verließ er sein Haus grundsätzlich nicht. Da räumte er lieber seinen Keller auf. Der Grund lag auf der Hand. An Karneval fiel er nicht auf, weil alle anderen dann auch verkleidet waren.