Einmal im Jahr steckte pünktlich im August ein großer Umschlag mit schöner Schrift in meinem Postkasten. Die Einladung zu Hermanns Fünfzigsten, immer mit einem langen fantasievollen Text voller ungewöhnlicher Wörter und einem ansprechenden Foto, meistens von Helga Pisters. Es waren rauschende, bunte Feste mit Tanz, Gesang und Cabaret, natürlich in illustrer Gesellschaft. Faszinierend, doch nicht unbedingt das richtige Wohlfühlambiente für jemanden, der es hasst aufzufallen und sich gar nicht gern verkleidet……
Hermann Götting im Sommer (Foto: Helga Pisters)
Eines Abends, es muss Ende der 90er Jahre gewesen sein und zwar mitten im Winter, war Hermann Götting wieder einmal mit seinem vollgeladenen Handwagen unterwegs nach Hause. Ich kam vom Ring und sah von weitem, wie der Wagen umkippte und die ganze Pracht im Schnee landete. Hermann Götting konnte sehr laut und ausdrucksstark fluchen, wie ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal feststellte. Natürlich habe ich ihm geholfen, seine Schätze wieder einzusammeln, und zum Dank schenkte er mir einen Johnny Walker-Mann und etliche Oster- und Weihnachtskarten aus den 50er Jahren.
Geradezu magisch fand ich Hermanns unzählige Schaufensterpuppen, und auch da entdeckte ich vertraute Gesichter. In meiner Kindheit wollte ich unbedingt immer zu einem ganz bestimmten Geschäft, weil mich die Schaufensterpuppen so faszinierten, besonders die lebensgroßen Käthe Kruse Figuren mit den „richtigen Haaren“. Es waren hübsch angezogene Jungen und Mädchen, die mit ernsten Gesichtern in die Ferne blickten und Stoffhände hatten. Auch die „erwachsenen“ Schaufensterpuppen waren schön und hatten ausdrucksvolle Gesichter, an die ich angesichts der häßlichen kahlen weißen Einheitsköpfe, die heute überall zu sehen sind, oft wehmütig denke. Im Laden selbst standen besondere Hutständer auf der Theke, elegante Damenbüsten, malerisch mit Schals und Hüten dekoriert. Bei Hermann sah ich sie alle wieder, zum Teil trugen sie seltene Trachten und fantasievolle Kostüme, und ich hätte sie stundenlang bewundern können. Vor allem Maurice Chevalier. Ich besitze nur eine einzige Büste, die nicht mal antik ist, aber dafür trägt sie sämtliche Hüte meiner Mutter, und zwar alle gleichzeitig. Genau deswegen habe ich sie ja auch gekauft. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, die vielen Hüte zu entsorgen. Hermann hätte das todsicher verstanden.