Ein neuer Begriff, doch schön ist er nicht: Social Distancing. Ich hoffe, wir sind in Köln reif und altruistisch genug, um jetzt gemeinsam stark zu sein, Distanz zu wahren und die Schwächsten unter uns zu schützen, auch wenn es noch so weh tut. Hier in Weiden habe ich bisher zum Glück noch keine grillenden Gruppen entdeckt, die ausgelassene Corona Partys feiern, aber ich bin auch die meiste Zeit zu Hause und weiß es daher nicht wirklich genau. Wir bleiben vermehrt drinnen, und draußen müssen wir Abstand halten. Sehr ungewohnt in einer Großstadt, in der Menschen sonst wie Ölsardinen aufeinander hocken.
Schon in der Bahn fängt es normalerweise an, und oft genug ist es laut und lästig. Aber jetzt sind die Straßen wie ausgestorben, die Bahnen leer, und man wagt nicht mal mehr, sich an den Stangen festzuhalten oder den Halteknopf zu drücken. Unser öffentliches Leben kommt allmählich zum Erliegen. Köln wird zur Ghost Town. In einigen Teilen Deutschlands treten bereits stärkere Einschränkungen in Kraft. Aber noch gibt es keine „Ausgangssperre“.
Warum erinnert mich das Wort jetzt sofort an meine Mutter und an „Stubenarrest“ und „Hausarrest“? Meine Mutter hat das damals in der Nachkriegszeit tatsächlich so genannt. (Sorry, Mama, ich hab dir das alles längst verziehen.) „Ausgangssperre“ habe ich gehaßt, weil ich dann meine Freundinnen und später leider auch meinen ersten Freund nicht sehen durfte. Es war so demütigend! Da standen sie unten erwartungsvoll an der Haustür, um mich abzuholen, und ich saß brav und stinksauer oben in meinem Zimmer, kämpfte mit den Tränen und fühlte nur stolzen Trotz und hilflose Wut, konnte aber gegen den mütterlichen „Befehl“ nichts machen.
Meine Schwester war weniger kooperativ und hat sogar mal den Glaseinsatz ihrer Zimmertür eingetreten, um einfach abzuhauen, aber wir waren vom Temperament her auch extrem unterschiedlich. Bei ihr zog „Ausgangssperre“ nicht. Ich habe sie dafür sehr bewundert. Zum Glück war ich eine Leseratte und hatte schon damals Regale voller Bücher in meinem Zimmer, daher hat mir die Isolation im Grunde wenig ausgemacht. Das hat wiederum meine Mutter extrem geärgert, was mich gefreut hat. Auf die Idee, meine Regale leer zu räumen, ist sie zum Glück nie gekommen. Wäre wohl auch zu viel Arbeit gewesen. Heute habe ich noch viel, viel mehr Bücher. Sie reichen für zehn Jahre „Ausgangssperre“, und danach wäre ich dann ein Ausbund an Weisheit und Belesenheit. Übrigens höre ich plötzlich auch wieder Wörter, die Väter in der Nachkriegszeit oft benutzten. Begriffe wie „Lazarett“ und „Triage“. Schlimme Wörter. Angstbesetzt, jedenfalls bei mir.
Was mir angenehm auffällt: Die Menschen schauen sich plötzlich wieder an, lächeln einander häufiger zu, sprechen miteinander. Auch wenn es nur „Schlimme Zeiten, finden Sie nicht?“ ist. Dann nickt man dem anderen zu, lächelt und geht weiter. Wir sind im Moment höflicher miteinander, würdigen endlich Menschen, an denen wir sonst nur achtlos vorübergehen. Gestern in den Läden habe ich mich jedenfalls bewußt bei allen Kassierinnen dafür bedankt, dass sie jetzt in der Not für uns da sind und für uns arbeiten, denn sie haben im Moment enorm viel Stress und sind, wie ich schon gestern schrieb, auch gesundheitlich gänzlich ungeschützt. Ob man sie nicht doch besser abschirmen sollte? Ich habe gestern auch überall mit Karte bezahlt, damit sie mein Geld nicht anzufassen brauchten. Ach, es wäre schön, wenn die Menschen sich auch in Nach-Corona-Zeiten häufiger anlächeln würden, statt wortlos auf Smartphones zu starren. Obwohl: Hier in Weiden habe ich an „meiner“ Haltestelle schon etliche nette Leute kennengelernt im Laufe der Jahre.
Es gibt auch Personen, die nur laut maulend durch die Gegend laufen. Wenn ich so jemanden treffe (wie gestern im Center), versuche ich mir vorzustellen, dass die Person vielleicht in Wirklichkeit Angst hat und sich im Moment nicht anders zu helfen weiß. Aggression und Wut setzen Angst nämlich temporär höchst erfolgreich außer Kraft. Wer sich lautstark aufregt, spürt seine Angst nicht mehr und wirkt nach außen stark und aggressiv. Das ist besonders bei Kontrollverlust wichtig. Das Muster kenne ich bestens aus meiner Ursprungsfamilie, mein Vater hat auf diese Weise lebenslang versucht, mit seinem Kriegstrauma fertig zu werden. Für die Umwelt ist ärgerliches Schimpfen nicht sehr prickelnd. Auf meine freundliche Ansprache hin haben die Damen gestern übrigens gleich zu maulen aufgehört. Sie ärgerten sich, wie sollte es anders sein, über das Fehlen unseres momentanen Weltlieblings. Klopapier!!!!
Was mir an mir selbst auffällt: Ich beobachte mich noch stärker als ohnehin schon. Diese erhöhte Selbstbeobachtung ist bei mir leider einprogramiert, ich habe meinen Körper schon als Kleinkind störend genau wahrgenommen. Seit ich weiß, dass es zur sogenannten „Hochsensibilität“ dazugehört, kann ich damit umgehen. Aber als Kleinkind hat mir das Schlagen und Wummern des eigenen Herzens solche Angst gemacht (ich kann auch nicht gut auf der linken Seite schlafen, weil die Empfindung dann zu stark ist), dass ich dachte, ich würde jeden Moment tot umfallen (was das Herz erst recht zur Raserei brachte!). Auch jetzt muss ich wieder vermehrt gegensteuern, wenn es los geht: Leichte Kopfschmerzen? Halskratzen? Irgendwie kurzatmig? Ist das Heuschnupfen? Oder etwa …..? Nase zu und juckende Augenwinkel? Das ist eindeutig Heuschnupfen! Aber fliegen die Birkenpollen überhaupt schon? Ich registriere auch genau, wann ich mir ins Gesicht fasse (fast gar nicht mehr), und versuche auch das zu unterlassen, was man bei Heuschnupfensymptomen fast automatisch macht: Nase reiben. Es gibt dafür sogar eine eigene Bezeichnung „Allergikergruß“. Auch juckende Augenwinkel kann man nur schwer in Ruhe lassen. Eine Sonnenbrille mit möglichst dunklen Gläsernd wirkt Wunder und reduziert Augenstress und Polleneinfall gleich um 50 Prozent (bei mir jedenfalls), daher trage ich meine jetzt auch konsequent. Besonders gut sind Polarisationsgläser, sie beruhigen die Augen sozusagen sofort.
Eben war ich Punkt zwölf (High Noon!) draußen, um eventuell den Glocken aus der Ferne zuzuhören (manchmal höre ich sie bis in den Garten), aber ich habe leider keinen Ton gehört. Vielleicht läuten sie hier in Köln oder bei uns in Weiden um diese Zeit auch gar nicht, aber vielleicht waren heute auch die Autos zu laut. Es gab leider auch niemandem, dem ich zuwinken konnte. So stand ich nur einsam am Zaun. Schade. Vielleicht wirken die Autos auch nur lauter, weil ich sie anders wahrnehme. Gestern war es ja vergleichsweise still. Morgen versuche ich es wieder! Vor allem beim Abendläuten um 19:30 Uhr.
Letzte Nacht hatte ich einen Traum, der mich traurig macht. Unsere englischen Enkel waren mit ihren Eltern bei uns zu Besuch (eigentlich wollten sie wie jedes Jahr zu Ostern kommen). Wir befanden uns alle im selben Zimmer, merkwürdigerweise war es das Wohnzimmer meiner verstorbenen Eltern am Niederrhein und nicht unser Wohnzimmer hier in Köln. Die Kinder standen auf der anderen Seite des Raums, direkt an der Tür und sahen aus, als würden sie am liebsten weglaufen. „Wie am Notausgang“, schoss es mir durch den Kopf. Mein Mann und ich saßen auf dem Sofa. Keiner sprach, wir schauten uns nur an. Unsere beiden Enkel waren sehr viel jünger als sie in Wirklichkeit sind, fast noch Kleinkinder, das Mädchen hatte sogar wieder die süße Zahnlücke (ich weiß noch, wie schlimm es damals für sie war, in einen Apfel zu beißen, denn es fehlten ihr gleich beide oberen Schneidezähne!). Die Kinder wirkten verwirrt und verlegen. Offenbar hatten sie Angst, uns zu nahe zu kommen. Vielleicht fürchteten sie, uns anzustecken und in Gefahr zu bringen, aber vielleicht hatten sie auch Angst vor uns. Auf jeden Fall waren sie überaus verstört. Es tat mir in der Seele weh, und ich wollte gleich zu ihnen laufen und sie in die Arme schließen, sie auf den Schoß nehmen, leise und beruhigend mit ihnen sprechen. Sagen, dass alles in Ordnung ist, dass sie keine Angst haben müssen, dass es nur ein blöder Traum ist und Corona rubbish. Aber ich saß nur wie gelähmt da und hätte am liebsten geheult.
Mit dem Gefühl trauriger Hilflosigkeit wachte ich auf und konnte zunächst nicht wieder einschlafen. Also nahm ich mein Handy und las die neuesten Artikel in der „New York Times“. Nicht wirklich erhebend, denn das eine Thema hält weiterhin die Welt in Atem, aber irgendwas musste ich tun. Die Berichte über den klügsten Präsidenten aller Zeiten schafften es dann aber doch wieder, mich zum Lachen zu bringen. Seine alternative facts sind einfach unschlagbar! Merkwürdigerweise beruhigt mich Zeitunglesen (vor allem über die neuesten Äußerungen von Sie wissen schon) in so einer Situation mehr als stundenlang mit klopfendem Herzen im Bett zu liegen. Wenn ich schon nichts tun kann, dann bin ich wenigstens informiert. (Wie im Flugzeug: Ich sitze auch bei Nachtflügen am liebsten am Fenster und schaue hinaus ins Dunkel, obwohl ich nicht das Geringste sehen kann.) Irgendwann kam meine Katze Alice zum Kuscheln und dann kam ich auch wieder zur Ruhe. Kehliges Katzenschnurren ist eine der besten Einschlafhilfen. Wie schade, dass wir nur noch eine Katze haben. Als es noch vier waren, lag ich nachts in einer wohligen Schnurrwolke, Stereo am Kopf und an den Füßen (ich konnte mich dabei allerdings nicht mehr wirklich gut bewegen). Allein die Erinnerung stimmt mich gerade heiter. Es sah mit Sicherheit total bescheurt aus. Mein Cisco ringelte sich meistens um meinen Kopf wie eine gigantische silbergraue Fellmütze. Gelegentlich biss er mich in die Haare, nie hart, nur ein bisschen. Bei Katzen nennt man das „Liebesbiss“.
Die erzwungene Trennung von Enkeln und Großeltern kann extrem schmerzhaft für alle Beteiligten sein und ist für viele sicher kaum erträglich. Ich weiß noch, wie schlimm ich es fand, als meine Oma, die lange meine wichtigste Bezugsperson war, plötzlich nicht mehr da war. Sie war gestorben, hat mir unendlich gefehlt, und ich konnte nicht begreifen, warum sie nicht mehr da war. Das passiert hier im Moment – zumindest vorübergehend – millionenfach. So viele Kinder werden gerade von ihre Großeltern getrennt und verstehen die Welt nicht mehr! So viele Großeltern vermissen ihre Enkel, dass es weh tut, und würden sie so gern in diesen schweren Zeiten einfach nur in den Arm nehmen und sich um sie „kümmern“. Das alles ist einfach nur grausam, und manch einer würde sich wohl am liebsten hinsetzen und „den Kopf dick heulen“, wie meine Oma das früher so treffend nannte. Vielleicht tun das einige auch, denn Weinen kann hilfreich sein. Social Distancing ist knallhart und brutal, selbst wenn man damit seine Liebsten nur schützen will. Hoffen wir, dass der Spuk bald vorüber sein wird. Hoffen darf man. Muss man. Immer.