Gestern Abend um 21:00 Uhr sang (fast) ganz Weiden „In unserm Veedel“, und diesmal habe ich endlich auch etwas gehört an der überbreiten Aachener Strasse, denn es gibt zum Glück immer mehr Weidener, die mitmachen, jetzt auch in meiner Nähe. Dazu beigetragen hat, dass der Hausmeister der Schule in unserer Nachbarschaft mit seiner Übertragungsanlage geholfen hat. Vielen Dank! Eine Nacht vorher war hier noch NICHTS zu hören und wir haben uns sehr einsam gefühlt.
Auch beim Glockenläuten (um 19:30 Uhr) hat sich die Reaktion gestern verbessert, denn diesmal stand ich nicht allein mit meinem Mann an der Straße. Auf der anderen Seite erschien eine Nachbarin, öffnete ihr Fenster und versuchte ebenfalls, den Glocken zuzuhören, und zwischendurch haben wir uns zugewunken. Leider lärmten ausgerechnet zur Glockenzeit besonders viele Autos vorbei, die alles übertönten. Ich bin mir nicht sicher, ob hier auch die Glocke der Evangelische Kirche schon mitläutet.
Der Moment, in dem die Glocken zu läuten anfangen, berührt mich jedesmal. Es fühlt sich archaisch an, uralt, tröstlich, vertraut, heimatlich, kinderzeitlich. Schade, dass meine „Seelenkirche“ St. Michael nicht hier in Weiden steht. Als ich noch im Belgischen Viertel wohnte (immerhin 14 Jahre), war das Läuten ein fester Bestandteil meines Tages. Wenn die Autos doch nur kurz stehen bleiben würden, wenn die Glocken läuten. Vielleicht gehe ich heute Abend in den Garten, denn unsere Büsche filtern den Straßenkrach. Aber dann kann ich der Nachbarin nicht zuwinken, falls sie wieder ans Fenster kommt. Jammerschade, dass man den Dom nicht bis zu uns hören kann. Ob es eine Übertragung im Radio oder online gibt? Dann könnte ich mein Laptop vor die Haustür stellen und richtig aufdrehen.
Heute Abend um 18:00 Uhr spielen hier in Köln übrigens viele Musiker von ihren Fenstern oder Balkonen aus „Freude schöner Götterfunke“. Aber ob ich davon etwas mitbekomme? Vielleicht stellt ja anschließend jemand auf fb ein Video ein, so wie gestern mit „In unserm Veedel“.
Später, diesmal um 20:00 Uhr (aktuelle Terminänderung), singen wir „Stääne“, und darin kommen auch Glocken vor. Das wird bestimmt wieder emotional, aber Kölner haben kein Problem damit, Gefühle zu zeigen, und wir haben hier so viele schöne Lieder und tolle Gruppen, dass man damit auch eine längere Quarantäne durchstehen kann. Das Lied heute Abend ist von den Klüngelköpp.
„Wenn am Himmel die Stääne danze
Un dr Dom sing Jlocke spillt
Jo dann weiß ich dat ich doheim bin
Jo doheim bin heh am Ring“
Um 21:00 Uhr folgt dann Radio Köln mit „In unserm Veedel“, da hat Weiden vor, ebenfalls mitzumachen. Also ein gesangvoller Sonntag.
Ich bin “nur“ ein Immi, gleich nach der Schule hergezogen, aber viele meiner Vorfahren kamen aus Köln, und etliche Verwandte wohnten hier. Mir war immer klar, dass ich eines Tages nach Köln ziehen würde. Seit langem bin ich hier zu Hause. Wenn ich von irgendwoher zurückkomme und in der Ferne den Dom sehe, atme ich tief durch und bin froh. Auch nach so vielen Jahrzehnten noch. Jo dann weiß ich, dat ich doheim bin, jo doheim bin heh am Ring.
Heute ist Sonntag. Viele Weidener wären heute morgen in ihren Kirchen gewesen. Das ist jetzt leider nicht mehr möglich. Noch vor wenigen Wochen hätte ich mir das nicht vorstellen können. Keinen Menschen mehr sehen! Keinen mehr treffen! Solidarität zeigen, indem man sich voneinander fernhält! Social Distancing als lebensrettende Maßnahme!
Doch die Kirchen lassen ihre Gläubigen auch jetzt nicht allein, nicht nur das Glockenläuten erinnert daran. Seit dem 15. März sind alle Gottesdienste abgesagt. Wie kann man da noch Gemeinde sein und gemeinsam Gottes Wort hören, Trost finden und trösten? Der Pfarrer unserer evangelischen Gemeinde hatte da eine schöne Idee: die „Oasen-Worte in Wüsten-Tagen“. Wer mitmachen möchte, kann einen kurzen Text mit seinen Gedanken aus dem eigenen Corona-Alltag und einem „guten Wort“ als Audio-Datei auf der Website der Gemeinde (ev-kirche-weiden.de) einstellen. So können wir auch in dieser schweren Zeit verbunden bleiben und einander hören und uns gegenseitig Mut zusprechen.
Vielleicht haben ja die katholischen Gemeinden hier in Weiden auch Wege zueinander gefunden? Ich selbst bin katholisch aufgewachsen, war lange kirchenlos und bin jetzt evangelisch, ich bin also „bi-religiös“ und froh, dass ich auch die alten katholischen Rituale kenne. Ich kann mich noch gut erinnern, wie die Frauen in meiner Familie bei Problemen, Unwettern und in Zeiten großer Krisen „zu Maria gingen“ und Kerzen anzündeten. Vor allem, wenn geliebte Menschen krank waren, im Sterben lagen oder gerade verstorben waren. Hier in Köln gibt es gleich zwei berühmte Marien-Kraftorte, die Schmuckmadonna im Dom und die Schwarze Madonna in St. Maria in der Kupfergasse.
Beide sind alte Pilgerorte, nicht nur in Zeiten der Not, und es hat in der Tat etwas Tröstliches, für sich selbst oder für liebe Menschen in Gefahr eine Kerze dort zu entzünden und sich still auf eine der Bänke zu setzen, die flackernden Lichter zu betrachten und denen, um die man sich sorgt, gute Gedanken zu schicken. Es ist aber auch schön, dorthin zu gehen, um sich zu bedanken, wenn alles gut gegangen ist, oder Trost zu finden, wenn man Schlimmes erfahren hat oder die schlimmsten Befürchtungen wahr geworden sind. Am Niederrhein hatte damals so gut wie jede Familie eine Marienstatue, meist in Form der Schutzmantelmadonna. Ich habe die alte Statue meiner Eltern geerbt, die ein Holzschnitzer in den Dolomiten vor vielen Jahren eigens für meinen Vater gemacht hat.
Der Dom bietet auf seiner offiziellen fb-Seite die schöne Möglichkeit, auch aus der Ferne eine Kerze anzuzünden. Jeden Morgen werden die vielen Gebete und Bitten der Menschen mitgenommen. In den Dom, zu den Kerzen, zu Maria. Es ist bewegend, die Gedanken der Menschen zu lesen. Menschen aus aller Welt haben dort geschrieben, was sie bekümmert in diesen Tagen.
Ob man auch bei der Schwarzen Madonna aus der Ferne Kerzen anzünden kann, weiß ich nicht. Ihre Kerzen sind noch „wie früher“, lang und weiß, und man kann sie vor dem kleinen Raum, in dem sich die Statue befindet, anzünden. Schwarze Madonnen oder Schwarze Göttinnen gelten als etwas Besonderes, und ich habe dies noch nie so stark gespürt wie in der dämmrigen, unheimlichen Grotte der Schwarzen Sara im französischen Saintes Maries de la Mèr. Ich kann gut verstehen, dass die Frauen in meiner Kindheit zu Maria beteten. Wie oft ging Oma (die selbst Maria hieß) mit mir „ein Kerzken anmachen“. Ich durfte dann den Docht an einer anderen Kerze entzünden und unsere Kerze vorsichtig in einen der vielen schwarzen Ständer stellen. Und im August pilgerte der ganze Ort nach Kevelaer. Zu Fuß. Mit Blasen unter den Füßen. Ich fand es ziemlich beschwerlich, aber ich liebe Kevelaer.