Bei heißem und schwülem Sommerwetter bin ich nicht in der Lage zu schreiben, deshalb werde ich während dieser Jahreszeit auch immer auffällig still und falle in geistige Schockstarre, doch heute ist es so erfrischend kühl, dass meine Lebensgeister erwachen und die Lust am Schreiben zurückkehrt. Eigentlich wollte ich weiter über Masken und pandemische Sprachbetrachtung schreiben, habe mir schon viele Zettel mit Notizen gemacht, doch akut liegt mir ein ganz anderes Thema am Herzen.
Seit Corona schlafe ich (ja, immer noch!) weniger und lese stattdessen oft (ja, immer noch mitten in der Nacht!) auf dem Handy in der ZDF-App, der „New York Times“ oder im „Guardian“. Zum Glück kann ich danach trotzdem einschlafen, sogar mit dem (für mich) beruhigenden Gefühl, das Wichtigste zu wissen, das in der Welt gerade passiert. Letzte Nacht las ich die neuesten Meldungen zur US-Präsidentschaftswahl und zur weltweiten Pandemie-Lage (jetzt stehen bei uns auch die Côte d’Azur und Paris auf der Liste der Reisewarnungen), die letzten Erkenntnisse zur Vergiftung von Alexej Nawalnyj, vertiefende Infos zu Cholinesterase-Hemmern und dem Gegenmittel Atropin, und fand schließlich einen langen Bericht über die vielen Brände in der San Francisco Bay Area, was gleich wehmütige Erinnerungen an meine Aufenthalte dort weckte, so dass ich nach der Lektüre zu „Unsplash“ wechselte und mir Fotos von San Francisco und Kalifornien ansah.
Manche Städte prägen sich mir einfach unauslöschlich ein, und San Francisco gehört eindeutig dazu. Im Hintergrund höre ich bis schon beim Namen der Stadt Gitarrenakkorde und die Stimme von Scott MacKenzie, sitze plötzlich wieder im geräumigen Café des großen Buchladens, blättere in Bildbänden des Sierra Club und bewundere einen sanftäugigen sandfarbenen Hund, dem sein Hippie-Frauchen mit dem eindrucksvollen Lockenkopf ein rotweiß gepunktetes Halstuch umgebunden hat. Dort habe ich zum ersten Mal einen Hund mit Halstuch gesehen! Und dort las ich zum ersten Mal den Satz „I met God. She is black.“ Der „double twist“ gefiel mir. Die Karte habe ich gleich gekauft. Sie hängt hier im Flur.
Schon das vierte Jahr in Folge mit verheerenden Feuern in Nordkalifornien. Die Luft um San Francisco ist im Moment viermal schlechter als in Neu-Dehli und Beijing. Wenn man das Haus verlässt, hat man das Gefühl, in einen brütend heißen Schmelzofen zu treten. Die Augen tränen im beißenden, stechenden, stinkenden Rauch, und die Luft ist so verschmutzt, dass man nicht mal mehr den Mount Diablo und den Mount Hamilton sieht. Anwohner in der Bay Area haben Notfallkoffer gepackt für den Fall, dass sie ihre Häuser plötzlich verlassen müssen, filmen vorsichtshalber schon alle Zimmer, um die Bilder später der Versicherung (falls sie eine haben) zeigen zu können und auf diese Weise zu dokumentieren, was sie alles verloren haben, falls es zum Schlimmsten kommt und ihre Häuser dem Feuer zum Opfer fallen sollten. Sieben Menschen sind schon in den Flammen umgekommen, die Feuerwehrleute sind manchmal 48 Stunden an einem Stück im Einsatz. Viele Kalifornier haben Angst vor den Notunterkünften, die in Pandemiezeiten sicher noch schlimmer sind als ohnehin. Lebensgefährlich. Genau wie die Feuer.
Meine kalifornischen Erinnerungen drohen gerade in einer Mischung aus Hitzewelle, Pandemie und Feuersbrünsten zu versinken. Es schmerzt. Bei meinen Besuchen habe ich damals nicht nur einmal mit dem Gedanken gespielt, ob ich nicht dorthin ziehen sollte, weil ich mich so in die Stadt verliebt hatte. Das ist mir nur sehr selten passiert. Erdbeben hin oder her (1989 erschütterte ein schweres Erdeben von 6,9 auf der Richterskala die Stadt, und die Oakland Bay Bridge, über die wir so oft gefahren sind, brach zusammen), aber die Temperaturen liegen dort (ganzjährig!) zuverlässig in meinem Lieblingsbereich (um die 20 Grad). Kalifornien und vor allem die Bay Area erschienen mir immer wie ein Paradies, und ich mag auch die Menschen, denen ich dort begegnete.
Allerdings herrschte dort bereits in den 1980er Jahren und sogar schon im Frühling (ich war ja aus guten Gründen immer nur im Frühling in den USA) massive Wasserknappheit. Ich erinnere mich noch an mein Erstaunen beim Anblick des kleinen Schilds im Gästebad. „If it’s yellow, let it mellow. If it’s brown, flush it down.“ Das war doch sicher nur ein Witz? So etwas hatte ich noch nie gesehen und ich handelte mir prompt einen Tadel ein, weil ich kostbare Wasserressourcen verschwendete, indem ich jeden Morgen duschte, nach jedem Toilettengang die Spülung betätigte und mir dauernd die Hände wusch.
Eines Morgens sah ich, wie der Nachbar gegenüber seinen gelbbraun vertrockneten Rasen mit frischer sattgrüner Farbe besprühte, und dachte zunächst an eine Sinnestäuschung oder eine üble Jetleg-Nebenwirkung. Aber er sprühte wirklich! Es war schon damals äußerst trocken in Kalifornien. (It never rains in Southern California) Doch wenn der Nebel zärtlich und lautlos wie eine geheimnisvolle weiße Katze über die Golden Gate Bridge zog oder wenn ich nachts aus meinem Fenster die zwinkernden Lichter der stillen Stadt sah, schmolz ich wehrlos dahin. Die tropfenden, moosbehangenen Bäume in Point Reyes, das Holzhaus auf Stelzen, das silberne Windspiel mit dem Wal, der lange Weg hinunter zum Leuchtturm, die windschrägen Bäume, die unerschrockenen Waschbären, die sich nachts über den Abfall hermachten, die lauen Abende mit den unglaublichen Sonnenuntergängen in der Halfmoon Bay, das heisere Seehundbellen am Fisherman’s Wharf, die mahnenden, imposanten Baumgiganten im Sequia National Park, die schroffen Felsen in Yosemite – ich könnte endlos weiter Bilder erinnern. In einer Küche in Oakland aß ich zum ersten Mal Celantro. In einer anderen Küche aß ich bei der Familie meines Freunds Bill zum ersten Mal Sweet Potato. Koriander und Süßkartoffeln liebe ich bis heute.
In den 1980ern übersetzte ich mit tiefem Glücksgefühl einen Reiseführer „San Francisco“ und war in meiner Vorstellung zwei Monate so intensiv dort, dass ich jeden Morgen erstaunt war, mich beim Aufwachen immer noch in Köln zu befinden. Ich neige dazu, mich in Büchern zu verlieren. Sogar in denen, die ich nur übersetzt und nicht selbst geschrieben habe. Manchmal verliere ich mich sogar schon beim Lesen.
Als ich während meiner Therapie nach sicheren inneren Orten suchte, fand ich den ersten gleich auf den kühlen Klippen von Big Sur, auch hier liebte ich die feuchte, reine, klare Luft. Die üppigen Mohnwiesen! Die Ice Plants! Und die wild wachsenen Callas! Das Geräusch des Meeres, das Singen des Windes, die steilen Felsen.
In einem kalifornischen Garten sah ich zum ersten Mal eine Maine Coon-Katze und nahm mir fest vor, eines Tages auch so eine prächtige Katze zu haben. Nachdem meine beiden Hauskatzen gestorben waren, sind dann auch tatsächlich nacheinander vier dieser eindrucksvollen Riesenkatzen hier eingezogen. Leider ist meine Alice ist die einzige Maine Coon, die heute noch mein Leben teilt.
Kalifornien, Ort meiner Sehnsucht. Sogar die Wüste ist schön, auch wenn die Erinnerung an den Sandsturm, in den wir dort plötzlich gerieten, bis heute mein Herz zum Rasen bringt. Damals war ich sicher, dass ich diesen Sturm nicht überleben würde. Ich habe ihn dann doch überlebt und aus der Vernichtungsangst heraus eine Short Story darüber geschrieben. Kalifornien, Ort meiner Träume. Es macht mich traurig, dass dieses Paradies mit seinen Bewohnern heute so gefährdet ist.
In diesem Sommer gab es übrigens noch eine Sensation. Am Furnace Creek zeigte das Thermometer am 17. August unvorstellbare 54 Grad Celsius und machte das südkalifornische Death Valley in der Mojave Wüste damit zum heißesten Ort der Erde. Dort war es selbst bei meinen Besuchen im Frühling eindrucksvoll heiß und flirrend, aber bei mir ist die Toleranzgrenze ja schon bei Ende 20 Grad erreicht, alles darüber macht mich körperlich krank. Ich weiß noch, wie ich mich im vorigen Jahr bei 42 Grad gefühlt habe: ziemlich tot. Ich hatte übrigens riesiges Glück. Ich durfte die Wüste auch ganz anders erleben. Einige Teile hatten sich in große Blütenteppiche verwandelt, es kam mir vor wie ein Naturwunder und ich war wie verzaubert. Wie können diese Pflanzen dort bloß überleben? Wie mag die Wüste heute aussehen? Ich spüre noch den Blick des Schakals, der stumm meinen Weg kreuzte. Ich höre noch die ohrenbetäubende Stille, die jeden Schritt verschluckte. Und ich hoffe und bete, dass die schrecklichen Feuer bald aufhören.
diese beschreibung kann jeder in sich nachempfinden, der einmal dort war. vielen dank für die schönen formulierungen! deine marion
Danke für deinen Kommentar, liebe Marion. Viele Grüße!