Ohne „Corona“ würden mein Mann und ich am 1. Dezember genau wie in den vergangenen Jahren in der evangelischen Kirche in Weiden mit großer Freude im Rahmen des Lebendigen Ökumenischen Adventskalenders „das erste Türchen öffnen“, gemeinsam einen liebevoll vorbereiteten (und hoffentlich kurzweiligen) Powerpoint-Vortrag über Adventskalender halten und dabei Bilder von antiken und modernen Papierkalendern zeigen. Danach würden wir bei selbstgebackenen Plätzchen und Glühwein noch eine Weile gemütlich mit unseren Gästen plaudern. Doch leider mussten wir unseren Vortrag „pandemiebedingt“ auf das nächste Jahr verschieben, daher möchte ich unser Türchen in verkürzter Form hier auf meiner Seite öffnen.
Auch diesmal haben wir uns wieder auf die Suche nach thematisch passenden Kalendern für das fast verflossene Jahr gemacht und in unserer Sammlung einige Adventskalender aus dunklen Zeiten gefunden, etwa die sogenannten „Notkalender“. Sie stammen aus Vorkriegs- und Kriegszeiten sowie aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, als viele Menschen unter Traumata, Hunger und Entbehrungen litten und in den vertrauten Kalendern, in denen die Welt noch (oder wieder) heil war, ein wenig Trost und Hoffnung fanden. Die Notkalender sind auf dünnem, nicht sehr hochwertigen Papier gedruckt und sehen inzwischen fast alle sehr fleckig, „abgeliebt“ und vergilbt aus. Trotzdem sind sie kleine Schätze, denn sie haben sicher alle ihre eigene Geschichte.
Es gibt auch einige historische Adventskalender in unserer Sammlung, die auf den ersten Blick recht düster wirken, etwa die sogenannten „schwarzen Adventskalender“ mit ihrem tiefschwarzen Himmel. Dies gilt auch für einen neueren Kalender („Traumnacht“, 1962) aus dem Sellmer Verlag, den der Künstler Frans Haacken bewusst dunkel gestaltet hat. Nur an wenigen Stellen gibt es sparsame Farbtupfer. Mir persönlich gefällt er gut, weil er „so anders“ ist. Oben am Himmel fliegt sogar eine fröhliche Hexe (vielleicht die Weihnachtshexe Befana?). Sellmer bietet ihn bei den historischen Nachdrucken immer noch zum Kauf an. Irgendwie passt er gut in dieses „ausgefallene“ Jahr, daher bekommt er diesmal einen besonderen Platz in unserer kleinen privaten „Ausstellung“ hier im Haus.
In Deutschland haben Adventskalender eine lange Tradition (hier wurden sie um 1900 auch „erfunden“) und sind aus der Vorweihnachtszeit gar nicht wegzudenken, auch wenn vor allem die gefüllten Varianten immer bizzarer ausfallen (u.a. gibt es sie mit Alkohol, Wurst, Parfüm, Tiernahrung und Erotikartikeln) und mit Weihnachten so gar nichts mehr zu tun haben.
Die „echten“ Adventskalender haben ihren besonderen Zauber wohl nie verloren. Selbst in Notzeiten gab es sie noch, da wurden sie von Eltern oder älteren Geschwistern gebastelt, um den Kleinen, die auf so vieles verzichten mussten, jeden Tag wenigstens eine kleine Freude zu machen.
In meiner Kindheit gehörte der Gang zum Schreibwarenladen an der Hand meiner Oma (und später meiner Mutter) zu den schönsten Highlights des Jahres. Die Verkäuferin breitete gleich zwanzig oder mehr neue Kalender auf die Theke aus, ich konnte mich gar nicht sattsehen und hatte die Qual der Wahl. Ich durfte mir leider, leider nur einen aussuchen. Ich war so aufgeregt! Ach, all die schönen Engel, Nikoläuse, Weihnachtsmänner, Märchenbilder, Zwerge, Rehe, Dörfer, Schneelandschaften und die feierlichen Krippenszenen! Glitter und Glimmer! Adventsuhren, Aufstellkalender, Türchenkalender, Abreißkalender! Sogar Hampelkalender gab es! Am liebsten hätte ich sie alle mitgenommen, doch das klappte erst, als ich erwachsen war. Die Kinderkalender habe ich immer noch. Auch den allerersten. Damals liebte ich vor allem die Bilder von Fritz Baumgarten, doch dieser Illustrator und meine alten Kalender verdienen einen eigenen Beitrag.
Kurz nach Beginn des zweiten Weltkriegs wurden Adventskalender zwar zunächst noch gedruckt, allerdings zunehmend ideologisch gefärbt und schließlich sogar bewußt für politische Zwecke mißbraucht. 1940 wurde der Druck von Kalendern verboten, da Papier nur noch für kriegsrelevante Druckerzeugnisse benutzt werden durfte. Ganz verzichten wollte man aber nicht auf den Adventskalender, daher veröffentlichte die NSDAP kurzerhand ab 1941 ihre eigene Version, den „Vorweihnachtskalender“. Darin wurden christliche Bräuche umgedeutet, so wurde aus St. Nikolaus ein martialisch wirkender „Rupprecht“, aus dem Adventskranz wurde ein „Sonnenwendkranz“, aus dem Weihnachtsbaum ein „Julbaum“, und es gab Bastelanleitungen für Kriegsspielzeug und Lichtersprüche für Soldaten und den Führer. Der Kalender erschien in hohen Auflagen, wurde jedes Jahr leicht verändert und diente vor allem dem Zweck, Kinder auf diesem Weg ideologisch zu beeinflussen.
Nach dem Krieg spendeten die ersten „richtigen“ Adventskalender sicher vielen Menschen Trost, denn auf ihnen waren ruhige, friedliche Szenen und vertraute Städte, Märkte und Gebäude zu sehen, die in Wirklichkeit völlig zerstört waren, etwa die Frauenkirche in Dresden. In der sowjetischen Besatzungszone erschienen die ersten Adventskalender bereits wieder 1945, und vor allem aus dem Raum Dresden sind noch viele erhalten. Immer noch erstehen kann man übrigens den ersten Kalender des Sellmer Verlags nach dem 2. Weltkrieg, die zeitlos schöne „kleine Stadt“.
Auch farbenfrohe, fröhliche Kalender wollten wir zeigen, mit all den Dingen, auf die wir in diesem Jahr schweren Herzens verzichten müssen: wimmelige Dorfszenen, geschäftige Weihnachtsmärkte, gemütliche Weihnachtswerkstätten, unbeschwerte Familien.
„Peter und Liesel“, unseren „Familienkalender“, hätten wir auch wieder mitgebracht. Wir haben ihn nicht nur als gedruckten kommerziellen Kalender mit den Illustrationen von Josef Mauder (als Album und Abreißblock), sondern auch in Form von zwei ganz besonderen handgezeichneten „Originalen“.
Die erste Version stammt von „Tante Lotte“, die damit die drei Kinder ihrer allzu früh verstorbenen besten Freundin trösten wollte, die andere von der Mutter meines Mannes, die Tante Lottes Werk erbte und als Vorlage benutzte, damit jedes ihrer beiden Kinder seinen eigenen „Peter und Liesel“ Kalender hatte. Beide Kalender sind so gestaltet, dass man sie immer wieder benutzen kann.
Der Text (bei Tante Lotte in Sütterlinschrift) steht auf der Rückseite der Bilder, die gelocht und mit einem roten Bändchen auf ein hübsch bemaltes Stück Pappe aufgezogen sind. Jeden Tag wird die oberste Karte abgenommen und die Geschichte darauf vorgelesen. Die Schlussbilder sind unterschiedlich, weil (bei den Eltern) eigene Familienmitglieder als Vorbild dienten. Sind alle Karten gelesen, werden sie in der richtigen Reihenfolge wieder aufs Bändchen gezogen.
Ich hätte auch wieder meinen besonderen Liebling, das Weihnachtsmärchen „Die Christrose“, mitgebracht. Der Kalender stammt aus den 1920er Jahren, die Illustrationen sind von Else Wenz-Vietor, der Text von Sepp Bauer. „Die Christrose“ thematisiert als einziger Adventskalender überhaupt die Suche nach Heilung und wirkt daher in diesem Jahr noch anrührender als sonst. In der Geschichte machen sich die Geschwister Fritz und Grete auf eine gefährliche Reise, um ihren todkranken Vater zu retten, denn nur der Duft einer ganz besonderen Blume, die vom Christkind persönlich gesegnet wurde, kann ihn wieder gesund machen. Dazu müssen die Kinder mit Hilfe vieler Tiere (u.a. Eisbär, Reh, Wildgans, Maus und Rentier) und Märchenwesen (einem bedrohlichen Riesen) das eisige, unwirtliche Land des Winterkönigs durchqueren, um hinauf in den Himmel zu gelangen.
Jeden Tag geht die Geschichte mit einem kleinen Text und einem neuen Bild weiter, bis Fritz und Grete zum Schluss gemeinsam mit dem Nikolaus und dem Christkind im Himmelsschlitten zur Erde zurückkehren und ihrem Vater die himmlische Wunderblume bringen. Der arme Holzfäller atmet den Duft ein und wird gesund. Eine heilende Blume bräuchten so viele Menschen in aller Welt in diesem Jahr!
Der Kalender aus dem Hause Reichold & Lang war damals so beliebt, dass es ihn über mehrere Jahre in verschiedenen Ausführungen gab: als Abreißkalender mit unterschiedlichen Alben (die Bilder wurden eingeklebt, und am Ende hatte man ein Bilderbuch) und sogar in Kombination mit dünnen Schokoladentäfelchen. Damit war er 1926 möglicherweise der erste Schokoladenkalender überhaupt. Er entstand in Zusammenarbeit mit der Kölner Schokoladenfabrik Stollwerck, und als wir vor einigen Jahren im Schokoladenmuseum eine Adventskalenderausstellung hatten, fragte ich nach und daraufhin entdeckte man im Archiv sogar noch zwei bisher unbekannte Entwürfe von weiteren Schokoladenkalendern. Die wurden dann gleich mit ausgestellt, was mich sehr freute.
Vor einiger Zeit (2006) legte der Lappan Verlag „Die Christrose“ als Bilderbuch neu auf, so dass man sich auch heute noch von dem alten Weihnachtsmärchen trösten lassen kann. Leider ist das Buch bereits vergriffen, wird jedoch in vielen Antiquariaten noch angeboten.