„Das Kind braucht Luftveränderung“ (6) – Barbara

Muschelherz (Alexandra_Koch/pixabay)

Als Kontaktperson für „Verschickungskinder“, die genau wie ich im Kurort Niendorf an der Ostsee waren, habe ich im Laufe des letzten Jahres einige Mails von anderen ehemaligen „Kurkindern“ bekommen, unter anderem einen langen Brief von Barbara, die als ganz kleines Kind „verschickt“ wurde und mir erlaubt hat, ihn hier zu zeigen.

Meine eigenen Erinnerungen kommen sofort zurück, wenn ich ihren Bericht lese. Ich rieche das Meer, den Gestank der Muscheln, Krabben und Seesterne, den fischigen Seekutter, den Duft meiner cremigen Sonnenlotion, den scheußlichen blassen Kinderkaffee, von dem wir Durchfall bekamen, die eklige wabbelige Frühstücksülze. Ich spüre die salzige, herbe Luft auf Lippen und Zunge, die kalten Kacheln, den groben, spitzen Kies unter meinen nackten Füßen, das weiche hellblaue Badetuch beim Abrubbeln, die eisigen Wellen beim Baden im Meer, die Gänsehaut am ganzen Körper, den klebrigen Sand zwischen den Zehen, den rauen Bettbezug am Gesicht. Mein Haß auf weiße Bettwäsche rührt eindeutig aus dieser Zeit.

Den Wackelpudding mit dem Schokokringel hatte ich tatsächlich vergessen. Den gab es auch bei uns! Er war wirklich lecker, vor allem, wenn er grün war. Mein Waldmeistertrost. Das Eis war zu meiner Zeit allerdings ungenießbar, was traurig war, denn Eis war mein Lieblingsnachtisch. Wie habe ich es noch in dem mühsam herausgeschmuggelten Brief ausgedrückt, der meine besorgte Mutter so in Alarmbereitschaft versetzte, dass sie sofort im Heim anrief: „Wir bekommen furchtbares Essen. Faule Sachen und vieses Eis.“ Ich vermute, das Eis war mit Büchsenmilch gemacht, und Büchsenmilch fand ich als Kind einfach widerlich. Auch die Milchsuppe mit der dicken Haut und die scheußliche Reste-Suppe, in der die Nußeckenstücke vom Vortag schwammen, sehe ich wieder vor mir, und schon schnürt sich mein Hals zu. Das Schwimmbad, von dem Barbara schreibt, kenne ich nicht, wir haben damals „richtig“ in der Ostsee gebadet, wenn auch nicht oft, aber wir waren ja auch „schon groß“. Für so kleine Kinder wie Barbara wäre das sicher zu gefährlich gewesen.

Hühnergötter (Saiflower/pixabay))

Barbaras Brief

„Auf WDR 5 habe ich gerade einen Bericht über den Verein „Verschickungsheime“ gehört. Und da kommen die Erinnerungen wieder hoch. 1968 war ich 5 Jahre alt, meine Schwester war damals 6 und wog zu wenig. Deshalb sollte sie aufgepäppelt werden, und damit sie nicht allein war, wurde ich mitgeschickt. Entgegen der üblichen Praxis waren wir beiden jedoch nur 3 Wochen dort, alle anderen Kinder 6 Wochen. Das Essen war zwar oft eklig, aber in meiner Erinnerung nicht verdorben oder so. Milchsuppe hab ich gehasst, musste sie aber jeden Morgen essen. „Wer nicht auf isst, darf nicht aufstehen vom Tisch!“ Und wer kotzt (das kam ziemlich oft vor), bekommt mittags keinen Nachtisch. Dieser Nachtisch war super: Wackelpudding mit einem Schokokringel darauf. Der war bei allen sehr begehrt. Und sonntags gab’s Eis zum Nachtisch! Also, möglichst nicht kotzen! Die „Fräuleins“ (Betreuerinnen) und die Nonne waren sehr streng. Liebevoll habe ich sie überhaupt nicht in Erinnerung, eher kalt und hart, manchmal auch gemein.

Allein (Lauralucia/pixabay)

Ich hab damals oft in die Hose gemacht, besonders wenn ich Angst hatte. Am 2. Tag hatte ich schon zwei Schlüpfer gewechselt und brauchte gegen Mittag schon den dritten. Die Erzieherin erlaubte es nicht. „Wenn du in die Hose machst, musst du das halt aushalten. Die Unterwäsche wird nur einmal in der Woche gewechselt!“ Und so lief ich total wund eine ganze Woche mit der selben Unterhose herum und hab wahrscheinlich unglaublich gestunken. Als die Nonne das am Ende der Woche gesehen hat, gab’s richtig Ärger. Ab da durfte ich jeden Tag zumindest einmal die Wäsche wechseln (mehr aber auch nicht!!!), aber wenn die Nonne weg war, musste ich manchmal auch mit nasser Hose rumlaufen.

Schlimm war auch die Bettkontrolle morgens: „Wer von euch hat ins Bett gemacht?“ Peinlich war das. Erniedrigend. Und wenn abends das Licht ausgemacht wurde, kam 10 Minuten später die Nonne und hat jedem Kind mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, um zu kontrollieren, ob wir auch schliefen. Wenn man die Augen ganz fest zusammenkniff, merkte sie nicht, dass man noch wach war. Glaubten wir. Weinen war verboten, das weiß ich noch, und auch, dass auf dem Flur immer jemand Wache gehalten hat, damit niemand aufsteht.

Meine Schwester bekam Windpocken im Heim, einige Tage später ich auch und so folgten alle Kinder nach und nach. Man musste für einige Tage allein im Schlafsaal bleiben, durfte nicht aufstehen, und ich hatte unendliches Heimweh. Es war grauenhaft.

Vor ca. 20 Jahren bin ich nochmal nach Niendorf gefahren. Hab das Haus von Weitem erkannt, obwohl ich weder Namen noch Adresse hatte. Hab unseren Gruppenraum direkt gefunden, wusste noch, wo wir immer gesessen haben. War alles noch sehr ähnlich wie damals, aber der Raum schien mir viel heller. Die dunkle Holzvertäfelung war, glaube ich, nicht mehr da.

Strandläufer (Skitterphoto/pixabay)

Als ich auf dem Hof unten eine Betreuerin fragte, wo die „Schreckenskammer“ ist, wusste sie sofort, was ich meinte: den Duschraum vor dem Schwimmbad. Einmal in der Woche war dort Schwimmen, Baden und Planschen angesagt, und das haben wir geliebt. Aber um ins Schwimmbad zu kommen, mussten wir uns natürlich erst umziehen. Und was dann kam, war furchtbar. Alle Kinder wurden in einen kleinen schmalen Raum gesperrt, dicht an dicht, und die Tür hinter uns geschlossen. Niemand konnte mehr raus. Der Raum hatte Oberlichter und war mit weißen Kacheln raumhoch gefliest. Unter der Decke waren in regelmäßigen Abständen Duschköpfe montiert. Von außen wurde dann das Wasser aufgedreht, und das war eiskalt! Alle schrien und versuchten, möglichst weit weg von den Duschköpfen zu kommen. Es war ohrenbetäubend, alle schubsten, drängten und drückten, eiskaltes Wasser prasselte von oben auf uns herunter, lautes Geschrei und Gekreische… Ich hatte Todesangst. Ich war die Jüngste in unserer Gruppe, alle anderen waren 6 und 7 Jahre alt, aber ich war ja erst 5 und damit die Kleinste und Schwächste. Panik, blanke Panik! Es war die Hölle. Bei meinem zweiten Besuch gab es diese Kammer wohl nicht mehr. Das Schwimmbad war damals komplett gesperrt und wurde gerade saniert.

Einsame Feder (Cairomoon/pixabay)

Meine Mutter war 1938 selber als Kind in diesem Heim. Warum sie uns dann auch noch dahin geschickt hat, verstehe ich bis heute nicht. Meine jüngste Schwester (6 Jahre jünger als ich) war 1978 auch dort, aber da war sie schon 10 Jahre alt und hat ganz wunderbare Erinnerungen daran. Dort war sie die Älteste und durfte sich mit um die Kleinen kümmern. Endlich mal nicht die Kleine sein wie zuhause, sondern zu den Großen zählen, das hat sie sehr genossen.

Ob wir in dem Heim auch unser Erbrochenes essen musste, weiß ich nicht mehr. Vielleicht bilde ich mir das ja nur ein. Bin mir da nicht mehr sicher, aber es treibt mir die Tränen in die Augen. Nachdem ich das in so vielen Berichte von anderen gelesen habe, gruselt’s mich immer mehr. Kann das wirklich möglich sein? Die eigene Kotze essen müssen? Unglaublich!

So viele Erinnerungen kommen wieder hoch. Ich fand es dort ganz schrecklich. Mich hat gerettet, dass meine große Schwester dabei war. Somit waren wir wenigstens nicht alleine…“     

(Barbara)

Frei (Kranich17/pixabay)

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4 Antworten zu „Das Kind braucht Luftveränderung“ (6) – Barbara

  1. Andrea Tillmanns-Bittel sagt:

    Hallo Frau Felten-Leidel,
    schon lange bewegt mich das Thema Kinderkur. Ich weiß, dass ich Anfang der 60iger Jahre 6 Wochen in Niendorf gewesen bin. Es gibt 1 Foto und fast keine Erinnerung, aber ein tief sitzendes, sehr unwohles Gefühl.
    Gibt es Listen der Kinder aus dieser Zeit oder gar Berichte?
    Ich gehe dieses Thema fast sorgenvoll an, aber gleichzeitig möchte ich mehr erfahren.
    Herzliche Grüße aus Detmold,
    Andrea Tillmanns-Bittel

    • Bee sagt:

      Liebe Andrea,

      das kann ich sehr gut verstehen…. Ich weiß nicht, ob es schon Listen gibt, Berichte sind ja einige hier auf meiner Homepage. Ich frage mich oft, was aus den anderen Kindern aus meiner Gruppe geworden ist, wir sind leider nicht in Kontakt geblieben.

      Viele Grüße und einen hellen Tag
      Beate

    • Brigitte sagt:

      Ich war auch in Niendorf, habe gar keine Erinnerung daran… das lässt nichts Gutes vermuten. Aber meine erste Verschickung war 1961 irgendwo bei Bozen. Und das war das blanke Grauen. Ich war damals 5 und dachte, ich sehe die Eltern nie wieder. Ich wurde mit Quark zwangsgefüttert bis zum Erbrechen. Die Nonnen waren grob und hartherzig. Leider konnte ich nicht herausfinden wo genau das war. Die Pfarrei in Köln, die uns verschickt hat, gibt keine Auskunft.

  2. Antje sagt:

    Schönen guten Tag, ich war auch in Niendorf an der Ostsee, es müsste 1971 gewesen sein, aber das weiß ich nicht mehr genau, ich war neun Jahre alt und es war richtig schlimm. Wir wurden geschlagen, wenn wir nachts auf Toilette gingen und wir wurden geschlagen, wenn wir ins Bett machten. Es gab öfter Abführmittel im Essen, und wir mussten dann alle aufs Klo rennen, es gab aber gar nicht so viele Toiletten die Kinder, es war also eine ganz schwierige Sache. Ich habe mich immer gefragt, warum ich mein ganzes Leben Depressionen habe, und die jetzt, ich bin inzwischen 60, immer schlimmer werden, und jetzt bin ich wieder auf das Thema gekommen, und je mehr ich darüber lese desto mehr kommt meine Erinnerung hoch und mich wundert gar nichts mehr, ich wurde geschlagen, weil ich aus dem Fenster gesehen habe in der Nacht, weil ich nicht schlafen konnte, ich musste in der Wäscherei arbeiten, weil ich durch die Abführmittel Durchfall hatte und in meinem Bett gemacht habe, weil ich ja nachts nicht auf Toilette durfte, ich musste mit einer Freundin zusammen alle Schuhe von allen Kindern putzen, weil wir aus Spaß in Pferdescheiße getreten waren, wir wurden eigentlich für alles bestraft, oder auch für nichts. Außerdem wurde unsere Post geöffnet, die wir bekamen, Pakete wurden durchwühlt und die Post, die wir schrieben, wurde korrigiert, und wir mussten sie verschönern, erst dann durften wir sie abschicken, und so weiter und so weiter, es war auf jeden Fall ein Martyrium und dabei hatte ich es sogar noch gut, es waren auch Kinder da, die es noch viel schlechter hatten .

    Meine Schwester war auch verschickt worden, aber nach Wyk auf Föhr. Sie musste dort Haferflockensuppe mit Milch essen, die sie nicht vertrug, also hat sie sich übergeben. Dann musste sie die ausgekotzte Suppe noch mal essen.

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