Verschickungskinder – Sechs Monate Liegekur in Niendorf

Mädchen (Caroline Hernandez/unsplash)

Als Kontaktperson zum Kurort Niendorf an der Ostsee erhielt ich vor kurzem einen Brief von H., der mich besonders berührt, denn schon die Vorstellung, als kleines achtjähriges Mädchen ein halbes Jahr aufgrund einer (vom Arzt hoffentlich nicht bewusst gestellten) Fehldiagnose allein und wehrlos zu einer Liegekur „verschickt“ zu werden, ist für mich kaum erträglich.

Was mich bis heute wundert: wir Kinder wurden während all der Zeit das ganze Jahr über verschickt, also auch während der Schulzeit. Ich selbst habe nach der „Kur“ drei Wochen Lehrstoff nachholen müssen, und das in dem so wichtigen Jahr vor dem Wechsel aufs Gymnasium. Wie viele von uns haben durch dieses rücksichtslose Timing, das offenbar nur dazu diente, die Heime und deren Betreiber ganzjährig auszulasten, wertvolle Zeit verloren und wurden deshalb teilweise auch am Ende des Schuljahres nicht versetzt. Das alles ertrugen wir damals stumm und ohne Murren, denn wir waren ja zum größten Teil Kummer gewöhnt.

Strandkind (Sean Barker/unsplash)

Es fällt mir schwer, Bilder für den Beitrag von S. auszuwählen. Ich mag mir diese Liegekuren gar nicht vorstellen. Ich wollte, ich könnte die kleine H. an die Hand nehmen, sie herausholen aus diesem Heim und mit ihr an der Hand hinunter zu den Dünen oder dem Timmendorfer Strand gehen. Vielleicht auch zum kleinen Niendorfer Hafen, der so schön bunt war, dem Geschrei der Möwen zuhören und ihr in einem der kleinen Läden ein paar hübsche Muscheln kaufen. Und dann würde ich ihr Geschichten erzählen, vielleicht vom Klabautermann oder vom Ostseedrachen, von der kleinen Meerjungfrau (aber nicht der von Andersen) oder vom Seestern, der sich im Meer verirrte. Alles lustige Geschichten, bis sie unbeschwert lacht und am Strand mit den Wellen spielt.

Hier ist H.s Geschichte:

Durch Zufall habe ich die Dokumentation des SWF über Verschickungsheime gesehen und war entsetzt, wie sehr ich an meine eigene Jugend erinnert wurde. Ich wurde 1952 als Achtjährige vom Gesundheitsamt Eckernförde in eine „Heilanstalt“ in Niendorf an der Ostsee geschickt, weil ich angeblich ein Loch in der Lunge hatte. Ich musste dort ein halbes Jahr bleiben, das ich für eine besonders schlimme Zeit in meiner Jugend empfunden habe. Den Namen der Anstalt weiß ich nicht mehr. Vielleicht war sie anders als Heime für gesunde Kinder, die dort nur zur Erholung verschickt wurden. Aber vieles erinnert doch sehr an die Methoden der in dem Film gezeigten Szenen.

Ich kann mich nicht an regelmäßige ärztliche Untersuchungen erinnern, lediglich an die von mir am schlimmsten empfundenen Liegekuren. Zwei Stunden nach dem Frühstück und weitere zwei Stunden nach dem Mittagessen lagen wir jeden Tag zu zweit auf einer schmalen Pritsche, einer mit dem Kopf an der einen Seite, der andere mit dem Kopf auf der anderen Seite. Hatte man einen aggressiven „Mitlieger“, so wurde man regelmäßig getreten. Man durfte überhaupt nicht reden, konnte sich daher auch nicht beschweren. Dies und die absolute Bewegungslosigkeit über vier Stunden täglich waren für mich als achtjähriges Kind mit Bewegungsdrang wie Folter – obwohl ich das Wort damals natürlich nicht kannte.

Auch die Mahlzeiten waren katastrophal. Das Essen war fast ungenießbar, obwohl wir Kinder in der Nachkriegszeit weiß Gott von Hause aus nicht verwöhnt waren. Aber natürlich musste alles aufgegessen werden. Wir Kinder haben uns gegenseitig geholfen durch Nase zuhalten und gleichzeitig auf den Rücken klopfen, damit die Gefahr des Erbrechens gemildert wurde.

Als ich kurz vor Weihnachten wohl eine Angina mit Fieber hatte, wurde mir mitgeteilt, dass ich nicht wie geplant zu den Festtagen nach Hause könne. Mein Brief an meine Eltern muss so verzweifelt gewesen sein, dass mein Vater sich sofort ein Auto lieh und mich gegen den Willen der Heimleitung nach Hause holte, nicht ohne gleichzeitig mitzuteilen, dass seine Tochter nach Weihnachten auch nicht wiederkäme.

Als der Infekt bei mir abgeklungen war, wurde beim Gesundheitsamt festgestellt, dass ich ein halbes Jahr zuvor offenbar „nur“ eine Rippenfellentzündung gehabt hatte und deshalb ein weiterer Aufenthalt in dem Heim nicht mehr nötig wäre – zwar eine folgenschwere Fehldiagnose, aber trotzdem: Glück gehabt!

Ich habe übrigens nie wieder Probleme mit irgendeiner Lungenkrankheit gehabt. Insofern war mein Heimaufenthalt absolut „für die Katz“! Bis heute erfreue ich mich gottlob bester Gesundheit und habe auch mental keinen bleibenden Schaden davongetragen. Aber für alle diejenigen, die so viel mehr als ich leiden mussten, empfinde ich großes Mitleid.

Ich war nur wenige Wochen bevor ich in das Heim kam, mit meiner Familie umgezogen und hatte daher nur sehr kurz die 3. Klasse besucht. Damals fanden die Klassenwechsel ja noch um Ostern herum statt. Zum Glück traute mein Klassenlehrer mir zu, trotz der langen Fehlzeit versetzt werden zu können. Nach einem Jahr habe ich dann sogar die damals übliche Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden und also kein weiteres Jahr bis zum Abitur verloren.

Das halbe Jahr war für mich die schlimmste Erfahrung in meiner Jugend. Zum Glück musste ich nicht so furchtbare Dinge erdulden, wie zum Teil in dem Film dokumentiert, so dass ich nicht für mein ganzes Leben traumatisiert bin. Ich finde eine Aufarbeitung aber so wichtig, dass ich gerne einen Beitrag dazu leisten möchte.

Kindertrost

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