Bye Bye “Wrigley’s Spearmint Gum”

In der letzten Zeit verschwinden ärgerlicherweise dauernd meine Lieblingssüßigkeiten aus den Regalen, meist zum Glück nur vorübergehend. Doch der Totalverlust meines geliebten Kaugummis trifft mich jetzt tatsächlich so hart, dass ich meinen Gefühlen freien Lauf lassen muss, denn Wrigley’s Spearmint Gum ist für mich nicht nur eine vertraute Kindheitserinnerung, sondern vor allem eine Erinnerung an meinen Vater. Immer wenn ich Wrigley‘s kaue, denke ich sofort an ihn. Die Spearmint Streifen waren früher tatsächlich Kult, sie waren ein Stück Kulturgeschichte, besonders für Deutschland. Sie standen für den American Way of Life, schmeckten nach Frische, Freiheit und Frieden, nach großer weiter Welt, nach Abenteuer – und sie sind ein echter Klassiker, denn es gibt sie schon seit 130 Jahren!

die letzten…

Wrigley’s Spearmints haben mich während der gesamten Pandemie unter den Masken begleitet, denn ich ertrage die klaustrophobischen Dinger nur mit Pfefferminzgeschmack im Mund. Außerdem verhindert das minzige Kauen, dass ich unter der Maske Panikanfälle bekomme. Die Kaubewegungen sind dabei so gut wie unsichtbar. Perfekt! Nicht mal meine Mutter, eine erklärte Kaugummihasserin, würde da meckern.

Als es die Streifen eine Weile nicht gab, bin ich notgedrungen auf andere Produkte umgestiegen, doch die meisten trieben mir ob ihrer Schärfe die Tränen in die Augen. Nur Wrigleys waren mild und genau richtig. Tröstlich, väterlich, beruhigend. Sie gehörten außerdem zum ersten, was ich nach dem quälenden Covid 19-Geruchsverlust wieder unverzerrt schmecken und riechen konnte. Also doppelt und dreifach tröstlich und erinnerungsträchtig. Dieser Beitrag kann also nichts anderes werden als eine Liebeserklärung an die grauen Streifen in Silberpapier mit Zackenrand. Bye Bye Spearmint Gum!

Ursprünglich stammen die Streifen aus Chicago. Sie wurden von William Wrigley Junior „erfunden“, der von seinem Vater eine Seifenfabrik übernahm, und waren zunächst nur die kostenlose Beigabe zum Verkaufsprodukt Backpulver, das wiederum anfänglich die kostenlose Beigabe zum ursprünglichen Verkaufsprodukt Seife gewesen war, bevor Wrigley die beliebten Beigaben dann ebenfalls herstellen ließ. Eine geniale Idee übrigens, das mit der kostenlosen Beigabe. So ist auch der erste gedruckte Adventskalender entstanden, aber das ist eine andere Geschichte. Die Kaugummis waren schließlich so beliebt, dass Wrigley ganz auf Chewing Gum setzte. 1893 kam Wrigley’s Spearmint Gum auf den Markt, kurz danach Juicy Fruits. Heute gehört die Firma (leider) Mars. Und Mars fackelt offenbar nicht lange.

Bis vor kurzem konnte ich mir immer noch schnell an der Rewe-Kasse jede Woche ein weiß-grün-rotes Päckchen sichern, seit einigen Wochen geht das plötzlich nicht mehr, wie ich alarmiert feststellte, und nun habe ich den Grund gegoogelt. Seit Ende 2022 werden Spearmint Gums nicht mehr hergestellt. Die wenigen einsamen Streifen, die ich jetzt noch in der Jackentasche habe, werden die letzten sein. Für immer! Wenn ich nicht noch ein paar bei Ebay erwische (ich biete gerade auf zwei Siebener-Packungen). Für teuer Geld kriege ich wahrscheinlich eine, dann kann ich den Abschied zumindest gebührend zelebrieren. Mit je einem langsam und andächtig ausgepackten, wehmütig in den Mund geschobenen Streifen pro Tag, der so lange gekaut wird, bis er nach nichts mehr schmeckt. Und dabei denke ich an meinen Vater. Das zusammengeknüllte Silberpapier konnte man früher im Klassenzimmer übrigens immer toll durch die Gegend schnipsen. Wenn man schnell war und ein unschuldiges Gesicht aufsetzte, kam man sogar ungeschoren davon.

Mars gibt als Grund für das Aus an, dass die umzuckerten Dragee-Kaugummis beliebter seien. Wahrscheinlich stimmt das sogar, aber die Dragees werden die Kult-Streifen nie ersetzen können. Niemals! Schon die Verpackung ist legendär und minimalistisch: weiß, glatt, glänzend mit grünem Pfeil und roter Schrift und roten Extras. Die Streifenkaugummis von Extra und Orbit soll es übrigens auch bald nicht mehr geben. Es soll überhaupt keine Streifenkaugummis mehr geben! Nicht mehr zeitgemäß. Nur noch runde und die blöden Dragees in den praktischen Behältern.

Bubble (Hanna Lopez/unsplash)

Meine kleine Schwester bevorzugte übrigens als Kind Hubba Bubba (auch von Wrigley’s), und blies eindrucksvolle riesige (rosa) Bubbles damit, die irgendwann knallend zerplatzten und genussvoll vom Gesicht gepiddelt wurden. Unsere Mutter hat das die Wände hoch getrieben! Ihre Lieblinge waren allerdings auch minzig: pudrig aussehende runde Pfefferminzbonbons von FAAM. Rote runde lange Packung. Ohne die ging sie nie aus dem Haus und im Auto steckte sie sich immer als erstes ein FAAM in den Mund. Vielleicht als unbewußte kleine Hilfe gegen ihre Autophobie? Leider musste ich von Pfefferminzbonbons schon als Kind immer schrecklich niesen, was in Gesellschaft peinlich war. Also keine Bonbons für mich, auch wenn sie eine wirklich herrliche Luftveränderung im Mund machten und einem für kurze Zeit den Atem raubten.

Meine peinlichste Erfahrung (ach, ich hätte es eigentlich wissen müssen, dann wäre mir diese Schande erspart geblieben) mit Luftveränderung durch Pfefferminzbonbons hatte ich vor vielen Jahren bei einer Lesung der Krimi-Autorin Val MacDermot. Mich gelüstete nach einer Erfrischung, aber dann blieb mir davon förmlich die Luft weg und ich bekam einen dramatischen Erstickungsanfall. Ich saß wie gewöhnlich hinten, in der Nähe der Tür. Zum Glück. Alle drehten sich um und starrten mich an, die Lesung musste unterbrochen werden und ich verließ beschämt und angeschlagen die Stätte meiner Schande. Mit Wrigley’s wäre mir das nie passiert. Die sind mild.

Egal. Die Schwäche für Mint habe ich offenbar von beiden Eltern geerbt, wird mir gerade beim Schreiben bewusst. Dazu passt, dass ich unzählige sehr pflegeleichte und winterharte Minzepflanzen im Garten habe. Es gibt ja so viele: Ananasminze, Schokoladenminze, Marrokanische Minze, Krauseminze, Wasserminze. Schon bei leichten Berührungen duften sie intensiv, erfrischen die Gärtnerin und veredeln jeden Salat. Zumindest für mich.

Pink Bubble

Übrigens habe ich das Hubba Bubba Bubble Blowing nie gemocht, ich fühlte mich für die rosasüßen Späße wohl schon zu erwachsen. Vielleicht hatte ich auch Angst vor meiner Mutter. Nein, bei mir waren es immer nur Spearmint Gums. Während der Pandemie hatten sie bei mir ein absolutes Revival, ich kaue sie inzwischen täglich und bin davon nahezu abhängig. Den Produktionsstopp bei Mars empfinde ich daher als persönlichen Affront. Aber Mars hat ja voriges Jahr auch schon dauernd Probleme mit Twix und Balisto gemacht. Davon habe jetzt vorsorglich eine Notfallreserve in einem sicheren Küchenversteck, damit ich es mit niemandem teilen muss. So was hatte mein Vater auch, allerdings mit Haribo Lakritz und Katjes. In der Garage und im Keller. Lakritz mag ich übrigens gar nicht, aber zum Glück erbt man ja nicht alles.

Rosinenbomber in Berlin 1948 (Henry Ries/Wikipedia)

Wrigleys gibt es in Deutschland seit dem zweiten Weltkrieg. Zusammen mit Nylonstrümpfen, Zigaretten (Lucky Strikes) und Schokolade (Hershey Riegel) waren sie in der Nachkriegszeit echte Kultobjekte, eingeführt von Amerikanische GIs und von den aus den USA heimgekehrten Kriegsgefangenen. Für die traumatisierten Kinder in den zerbombten Städten waren diese Süßigkeiten sicher wahre Schätze, und die berühmten Rosinenbomber oder Candy Bombers warfen während der Berliner Luftbrücke natürlich auch Wrigley’s Spearmints ab, an niedlichen kleinen Fallschirmen.

Für etliche POWs (Prisoners of War) waren die Spearmints wahrscheinlich Kult und Erinnerung zugleich. Wie viele von ihnen später, als es ihnen endlich erlaubt war, als freie Männer in die USA zurückkehrten und sich dort niederließen, habe ich erst vor kurzem erfahren. Wirklich gewundert hat es mich nicht. Auch mein Vater hat diese Möglichkeit für kurze Zeit erwogen, aber er hatte niemanden, der in Amerika für ihn bürgen konnte und schließlich fehlte ihm auch die Kraft. Wie schade für ihn, sein Leben wäre dort sicher besser verlaufen. Bei seiner Entlassung aus der US-Gefangenschaft im Mai 1946 gab man ihm einen kleinen Zettel, auf dem alles aufgelistet war, was er außer der Kleidung, die er am Leibe trug, noch besaß. Darunter waren mehrere Stücke Seife (Palmolive), Zigaretten (Chesterfield, aber die meisten wurden den heimkehrenden POWs von der britischen Besatzung wieder abgenommen), ein Päckchen Tabak (Prince Albert), eine Tafel Schokolade und mehrere Päckchen Kaugummi. Sie ahnen, welche.

Die Vorliebe für Wrigley’s ist ihm genauso geblieben wie die Freude an Coca-Cola, das einzige Getränk, das ihm bis an sein Lebensende Freude gemacht hat und in ihm angenehme Erinnerungen an die USA weckte. „Meinst du, ich kann das trotz Diabetes trinken, Kind?“ Ich gebe zu, ich habe es ihm sogar ins Krankenhaus geschmuggelt, und im Heim packte ich es als allererstes in seinen kleinen Kühlschrank. Light und Classic. Wenn man mit fast neunzig Jahren Coca-Cola so liebt, soll man es auch kriegen. Mein Vater war ohne das sprudelnde Getränk irgendwie nicht er selbst. Vielleicht war es sein kühler kleiner Trost. Coca-Cola ist angeblich sogar gut gegen Kopfschmerzen und (zusammen mit Salzstangen) gegen Durchfall, habe ich als Kind gelernt.

Meine Mutter hasste alles Amerikanische, sie hielt sich lieber an ihre holländischen und niederrheinischen Wurzeln und liebte Käse und Schwarzbrot. Mein Vater hat seine Kaugummis daher nie vor ihr zu Hause genossen, sondern nur allein (oder mit mir) im Garten und im Wald. Meine Mutter machten Kaubewegungen aggressiv, was ich verstehen kann, denn mahlende Kiefer können durchaus bedrohlich aussehen, wenn auch sicher nicht bei meinem Vater und bei mir. Käse liebe ich übrigens auch. Und Schwarzbrot. Besonders das Kultige von der Kölner Bäckerei Zimmermann. Aus ganz Deutschland kommen die Leute und kaufen es. Davon habe ich einen Notfallvorrat im Kühlschrank. Letzten Freitag aufgestockt auf fünf Pakete. Man kann nie wissen.

Bei Ebay sieht es übrigens noch ganz gut aus. Für die eine Siebener Packung bin ich Höchstbietende.

 

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