Rooms and Stories – Seminarraum

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

Where is the stage: is it outside or inside? And how shall I compare thee?  Lässig, charmant, heiter. Klug, intellektuell, politisch. Jungenhaft, nachdenklich, verführerisch. Aufgeräumt, gut gelaunt. Man of he world. Spontaneous, relaxed, experienced, serene. Exzentrisch, ironisch, leicht abgehoben, eigenwillig, mit einem Hauch wissender Traurigkeit. Magnetisch. Vergangenheitsschwer. Ästhet. Musikliebhaber. Erwachsen. Reif. Egy lenyűgöző ember.

Vorliebe für graue, braune und melierte Anzüge, auch Dreiteiler, kurze und lange Mäntel. Tweed, eher gedeckte Farben. An nebeligen Herbsttagen wirkt der ganze Mann wie mit Rauhreif überhaucht, wenn er über die Brücke zwischen den Universitätsgebäuden schreitet. Er besitzt auch einen leichten hellen Sommeranzug und einen langen schwarzen Herbstmantel. Hemdkrägen offen oder verschlossen mit Tüchern, Krawatte oder Fliege. Eher selten leger, meist elegant. Nur einmal kariertes Hemd und braune Cordhose mit Ledergürtel.

Kopfbedeckungen, gelegentlich dunkler Hut, im Winter einmal fremd anmutende schwarze Russenmütze. Vielleicht ist sie auch nicht russisch, sondern ungarisch, ich kenne mich nicht aus mit Mützen. Lässig geschlungene Schals, die im Wind über die Schulter flattern. Dann wird er zum Schauspieler oder Opernsänger, auf jeden Fall zum Künstler. Sehr dunkle Sonnenbrille, die viel zu oft seine Augen verbirgt. So kann er unsichtbar beobachten, sich lästigen Blicken entziehen. Manchmal sehen seine unbedeckten Augen müde aus.

Eher schmaler, leicht spöttischer Mund, Eckzähne ein klein wenig zu spitz, fast wie bei einem Raubtier, doch nur angedeutet. Wenn er die Treppe herunterkommt, scheint er beinahe zu fallen, man erschrickt unweigerlich, wenn man ihn so sieht, er stürzt, fliegt, nein, schwebt die Stufen hinab. Ein Glück, dass er meist die Rolltreppe benutzt. Er bewegt sich ungewohnt anders, ich kann es nicht besser beschreiben, manchmal tänzelnd wie ein nervöses, sensibles Pferd, dann wieder energisch, zielstrebig, mit kräftigen, weit ausholenden Schritten, den Kopf fast im Nacken. Egy fekete ló szalad az éjszakában.

Sein unverwechselbares Lachen, es beginnt stumm bei schon geöffnetem Mund, bleibt nahezu tonlos, als würde es seine Meinung im letzten Moment ändern und sich lieber wieder zurückziehen, um sich dann unmerklich rasch zu verwandeln, während sich der Unterkiefer sanft nach innen schiebt, um das Lachen mit einem Mal herzhaft und beinahe übermütig ausbrechen zu lassen. Sein eigenwilliges Lachen, das durchaus lauter sein kann, doch nie zu laut, und an dem andere sich verschlucken würden, fällt nicht nur mir auf. Wenn ich mit Kommilitonen über ihn rede, ohne seinen Namen preiszugeben, sagen sie: „Meinst du den Engländer mit dem Lachen?“ Genau. Auf diese Weise lacht nur ein einziger Mensch.

Das dunkle Haar oben länger und über den Kopf gekämmt, um das beginnende Kahlwerden zu verdecken, bei jedem anderen sähe es lächerlich aus. Die Schläfen fangen gerade an zu versilbern, seitlich und hinten ist sein Haar manchmal leicht gelockt, besonders im Wind. Der Teint von Natur aus dunkler oder vielleicht auch sonnengebräunt. Augen tiefliegend, in runden Schattenhöhlen, groß, kastanienbraun, ab und an schwarz wie Nachtseen. Hände lang, schmal, musikalisch. Vielleicht spielt er Klavier? Ich lese, dass er in Fenton House in Londoner Stadtteil Hamstead gelegentlich Harfe spielt.

Er raucht. Möglicherweise viel. Zigaretten und Zigarillos, doch selbst das stört mich nicht. Mir gefällt, wie er mit langen schlanken Fingern die Zigarette hält, entspannt inhaliert, mit Nase und Mund feinen hellen Rauch ausatmet. Mein Pech, dass ich nicht rauche, so steht er in den Pausen mit den anderen Rauchenden am Fenster oder im Flur, während ich ihn von fern beobachte. Ich denke nicht, dass er es merkt. Ich weiß nicht, dass ich hochsensibel bin und aus diesem Grund weder Nikotin noch Alkohol vertrage, und bedaure meine Unzulänglichkeit tatsächlich auch nur in diesen beiden Semestern.

Linguist, Sprachgenie. Jemand, der fließend Ungarisch, Englisch und Deutsch spricht, auch Französisch, er kann spontan Baudelaire Gedichte zitieren, bestimmt auch Italienisch, denn das ist die Sprache der Opern. Jemand, der an Universitäten Türkisch und Arabisch studiert und später just for fun Koptisch lernt. It was really fascinating to listen to his stories about life, philosophy, history and of course languages, schreibt einer seiner Freunde im Nachruf, I have really appreciated his wisdom and knowledge in the social sciences and arts. Jemand, der viel und gern reist, unter anderem nach Nepal, Java und in den mittleren Osten. Der spontan nach Malta fliegt, um sich einen bestimmten Caravaggio anzusehen. Ein anderer Nachrufer war gemeinsam mit ihm im Oman und hat nur gute Erinnerungen.

1956 musste er als Student nach dem brutal niedergeschlagenen Aufstand in Budapest in den Westen fliehen. Kam nach England. London, Finchley Road. Mehr finde ich auch mit Hilfe des allwissenden Internets nicht heraus. Vielleicht später, denn das hungrige Netz wird schließlich ständig gefüttert und lernt jeden Tag dazu.

Ich bringe Karla zum Lachen, als ich gestehe, dass ich sein Rasierwasser etwas gewöhnungsbedürftig finde, auch wenn ich es mag. Wie könnte ich irgend etwas an ihm nicht mögen! „Aber der riecht nach Knoblauch!“ lacht sie mich aus, zuerst ist es mir peinlich, dann muss ich auch lachen. Ich kenne Knoblauch nicht, weil meine Mutter es verabscheut und daher komplett aus der Küche verbannt hat. Mich erinnert es bis heute, ich bin nachhaltig positiv konditioniert. Kann er kochen? Steht er elegant im Anzug am Herd wie Leonard Cohen und schmort Pörkölt oder Paprikás? Was isst er am liebsten? Trinkt er Tee oder Kaffee? Mag er Kuchen? Ich weiß nichts, was ich nicht selbst sehe und höre.

Melodische Stimme, tief und fest, aber auch samtig weich, selten im Hintergrund ein wenig härter. Ich liebe sein „particularly“ und wie er den Kopf schräg hält, wenn er andere nicht versteht. Er könnte gut Radio- oder Synchronsprecher sein. Ich finde plötzlich eine Geisterstimme im Internet, die offenbar ihm gehört, sie spricht Ungarisch und ich verstehe kein Wort. Da es ein Telefoninterview ist, klingt sie fremd und ich erkenne sie aufgeregt erst beim zweiten und dritten Hören. Bei jedem weiteren Hören bin ich mir dann plötzlich doch nicht mehr sicher. Ist er das wirklich? Ich finde sein Pseudonym. Vielleicht ist es auch sein Deckname. Die politischen Archivaufnahmen, unter denen der Name steht, wirken wie Geheimmaterial, wurden erst nach seinem Tod veröffentlicht.

Erstaunt entdecke ich ihn im Programm der weltberühmten Proms in der Royal Albert Hall. Prom 68, 14. Septembers 1995, 19:30. Er spricht den Prolog des Barden in Béla Bartóks „Duke Bluebeard’s Castle“. Es gibt keine Tonaufnahme, so intensiv ich auch suche. Ich stelle mir vor, wie er hoch aufgerichtet vor Tausenden von Menschen im Scheinwerferlicht steht, seine schöne Stimme die riesige Halle füllt. Ich höre den Prolog in drei Sprachen, schaue mir verschiedene Aufführungen der Oper an. Eigentlich mag ich keine Opern, doch diese ist nicht so lang und kompliziert wie die meisten. Das düstere Ende verstört und ängstigt mich so sehr, dass ich schlecht träume. Auch ich war einmal in der Royal Albert Hall, in der Last Night of the Proms 1977, ein denkwürdiger Abend, doch das ist eine andere Geschichte. Spricht der Barde 1995 Ungarisch oder Englisch? Beides? Seine Muttersprache klingt in meinen Ohren uralt, geheimnisvoll und irgendwie bedrohlich, erinnert mich an Altenglisch und Althochdeutsch, dabei gehört Ungarisch gar nicht zu den indoeuropäischen Sprachen.

If we had world enough and time. Das Gedicht nehmen wir im Essay-Kurs durch. Im Seminar muss ich alle Kraft aufwenden, um ihn nicht unablässig anzustarren. Mondd, a férfiakat vagy a nőket szereted? Lebst du allein? Bist du verheiratet? Hast du eine Partnerin, einen Partner? Beides? Bei den Studenten scheint er beide Geschlechter zu faszinieren. Nach den Kursen bin ich beglückt betrübt, will mit niemandem und allen über ihn sprechen. Karla, die beim ersten Blitzeinschlag und fast allen weiteren Begegnungen an meiner Seite ist, beobachtet mich, beobachtet ihn, beobachtet uns. Mit ihr kann ich offen reden, sie ist selbst unglücklich verliebt. Auch in jemanden, von dem wir nur das wissen, was wir selbst sehen und hören. The stage is outside, not inside. Wenn ich an Wochenende meinem Freund treffe, fühle ich mich fremd, weil sich ein anderes Gesicht sofort über seins legt, ich kann es nicht verhindern, und er beklagt ärgerlich, dass ich so weit weg bin.

Vielleicht wäre es besser, jetzt nicht ausgerechnet „Die Leiden des jungen Werther“,  „Women in Love“ oder „To his coy mistress“ zu lesen. Es dauert mehrere Wochen, bis er im Kurs meinen Namen behält und bei „Miss Felten?“ nicht länger suchend umherschaut, sondern sofort mein Gesicht findet. Ich war durchaus schon heftig verliebt, doch nie so fern und alles erschütternd. Um ihm nahe zu sein, gehe ich nach dem Unterricht nach vorn und gebe ihm einen fiktiven Brief zum Korrigieren, sehe zu, wie sich unsere Buchstaben verweben, das tun sie auch bei den Essay-Korrekturen. Einmal besprechen wir im Unterricht meinen Essay, das Werk liegt dabei als Matrizenabzug vor und beschert mir viele Zwischenblicke. Die Briefmethode funktioniert nur beim ersten Mal. Schon beim zweiten Mal korrigiert er ihn nicht neben mir, sondern wortlos während eines Tests. Es ist mir peinlich und ich gebe das Experiment auf.

Woher nimmt man als junger Mensch diese hoffnungsvolle, ängstliche Zuversicht? Woher den traumsicheren, rücksichtslosen Mut, sich einem unerreichbaren Fremden sacht und leise in den Weg zu stellen? Darf man überhaupt ungefragt die Kreise eines anderen Menschen betreten? Verliebt man sich in das Bildnis, das man sich vom anderen macht, da man die reale Person doch gar nicht kennt? Oder ist es möglich, den anderen so intuitiv wahrzunehmen, dass man ihm dabei  in die Seele schauen kann? Warum schmerzt unerwiderte Liebe so sehr? Es berührt mich, dass meine verlorenen Empfindungen selbst nach einem halben Jahrhundert noch bis in die feinsten Nuancen hinein abrufbar sind.

Ich schenke meine Gedanken dem derzeit besten Übersetzungsprogramm und hoffe, dass sie auch nach der Verwandlung verständlich sind.

Egy sötét macska szaladgál az esőben. Egy bagoly beleveti magát a tengerbe. Csak egy árnyék vagy. Mondd, hogy a halál hangosan vagy halkan jön? 

stranger (Craig Whitehead/unsplash)

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