Kurz vor Beginn meines Studiums fahre ich im August 1974 mit drei gleichaltrigen Mädchen mit dem Bus nach Paris. Leider ist es keine Klassenfahrt, alle anderen Teilnehmer sind bedeutend älter als wir, sprechen nicht mit uns und schmettern während der Fahrt deutsche Schlager, bei denen wir normalerweise sofort das Radio abstellen. Wir lieben englische und amerikanische Musik. Der gemischte Kegelklub dröhnt besonders. Schon nach einer Stunde brummt uns der Kopf.
Dafür ist das Hotel eindrucksvoll, meine Freundin Irmi und ich bekommen ein großes Doppelzimmer im sechsten Stock, Chambre 606. Ich bin so angetan, dass ich sofort eine Skizze anfertige. „Wir wohnen hier wie die Fürsten“, schreibe ich ins Tagebuch. „Alles ist ungeheuer sauber. Nur das Toilettenpapier ist wie Butterbrotpapier, total saugunfähig.“
Wir haben auch einen Balkon, und da ich Höhen liebe, würde ich am liebsten stundenlang hier stehen, der Stadt zuhören und tief hinunter oder weit in die Ferne schauen. Wir wohnen genau gegenüber vom Kopfbahnhof Gare de l’Est mit den Allegorien der Städte Verdun und Straßburg als Giebelskulpturen. Hier ist 1889 der erste Orient-Express nach Konstantinopel abgefahren, von hier aus sind im Ersten Weltkrieg die Soldaten an die Front aufgebrochen. Die Straße unter uns ist immer in Bewegung, in der Ferne sieht man Sacré-Cœur. Die beiden anderen Mädchen haben Pech, die 442 bietet nur einen Blick auf den Hinterhof des Hotels. Ich bin zum ersten Mal für mehrere Tage in einer Großstadt und überwältigt von der flirrenden internationalen Fülle.
Paris ist quicklebendig und weckt in mir eine merkwürdige Gefühlsmischung, macht mich traurig, sehnsüchtig, überdreht und berauscht, so viele Menschen, so viele Gesichter, so viele Blicke, ich habe den Eindruck, als ob hier jeder mit jedem flirtet, alle Männer den Frauen nachschauen oder hinterherpfeifen. Unten in der Métro springen die Jugendlichen einfach ohne Ticket über die Schranken, das trauen wir uns nicht. Im Quartier Latin trinken die drei anderen Mädchen Rotwein, ich Cola. Ich würde auch gern Wein trinken, finde es schlimm, dass ich „anders“ bin und nie wirklich dazugehöre. Dauernd werden wir angesprochen, sogar hier, auf Französisch, aber auch auf Englisch, fühlen uns zum ersten Mal frei und richtig wahrgenommen, sind stolz und geschmeichelt, aber auch verunsichert. Mir gefallen die malerischen französischen Litfaßsäulen.
Auf dem Weg zur Point Neuf sehe ich zum ersten Mal einen Transvestiten, mit ungeheuer viel Makeup, Riesenperücke und knallrotem Kleid. Wir beobachten fasziniert eine Prostituierte, die im kurzen weißen Trägerkleid mit langen Beinen lässig an Autos vorbeischlendert und gleich stehenbleibt, wenn ein Wagen langsamer fährt und der Fahrer Interesse bekundet. Schon bald nickt sie einem Fremden zu und steigt in sein Autos. Es gibt viele winzige Läden, die bis spät in die Nacht geöffnet sind, in den Buchten der Pont Neuf küssen sich die Liebespaare vor aller Augen am hellichten Tag. Pierre, ein interessanter junger Mann, der gut Englisch spricht, gesellt sich zu uns und bietet an, uns das Viertel zu zeigen. Nur so, er will dafür kein Geld. Da wir zu viert sind, fühlen wir uns sicher, stark und geschmeichelt und trauen uns. Er ist wirklich nett, hat ein lebhaftes Gesicht, fuchtelt viel mit den Händen und zeigt uns Notre Dame, die elegante Concièrgerie, allerlei hübsche geheime Ecken und führt uns zum Schluss in ein gemütliches Bistro. Pierre begleitet uns noch bis zur Métro und gibt jeder von uns beim Abschied Luftküsse. Erschöpft von all den Eindrücken gehen wir auf unser Zimmer und fallen aufs Bett.
Die Stadt wird auch nachts nicht ruhig, das Leben pulst weiter, man hört Autos fahren, bremsen, aufheulen und hupen, Motorräder knattern, Busse prusten und losfahren, Polizeisirenen schrillen, Fetzen menschlicher Stimmen schreien und rufen, vom Bahnhof her das Quietschen, Zischen, Pfeifen, Hämmern und Rattern der Züge, hallende Lautsprecherstimmen, Mesdames et Messieurs, Gongs und Glocken, und unter allem liegt ein eintöniges lautes Rauschen und Brummen. Die Balkontür ist offen, damit frische Luft ins Zimmer kommt. Wir liegen nebeneinander, ich platze fast vor Gedanken, die ich Irmi am liebsten alle gleichzeitig mitteilen würde, doch sie schwärmt nur von ihrem neuen Bekannten, der Michael heißt, dann will sie schlafen, dreht sich auf die Seite und ist fort. Ich bleibe traurig zurück. Es ist unsere letzte gemeinsame Zeit, bald werden wir unterschiedliche Lebenswege gehen, und ich möchte unsere Stunden auf keinen Fall verschwenden. Irmi wird weit weg in Hannover leben, ich weiß jetzt schon, dass sie mir fehlen wird, seit Jahren sitzen wir jeden Tag im Unterricht nebeneinander und sind auch außerhalb der Schule viel zusammen. Während Irmi schläft, vibriere ich vor Wörtern und Bildern, Wände und Fußboden scheinen sich sacht zu bewegen, und natürlich kann ich nicht schlafen.
Irgendwann stehe ich leise auf, gehe auf den Balkon, schaue hinab in die Tiefe und stelle mir vor, ich wäre ein Vogel, würde abheben, fliegen und langsam über der pulsierenden Stadt kreisen. Ich bleibe lange draußen. Die Luft wird kühler, die Geräusche bleiben beunruhigend und fremd. Als ich mich wieder neben Irmi ins Bett lege, kann ich immer noch nicht schlafen, wälze mich unruhig hin und her, vorsichtig darauf bedacht, sie nicht zu stören. In der Nacht wird sie von Mücken geplagt, die mich verschonen, doch ich höre sie überlaut surren, ein Geräusch, das ich hasse und das mich zusätzlich am Einschlafen hindert.
Am nächsten Morgen bin ich früh wach, Irmi schläft noch und macht ab und zu leise Geräusche wie ein Kind, das sich wundert, was mich rührt. Als um halb acht das Telefon schrillt, schnellt sie mit entsetztem Gesicht hoch, und wir müssen beide lachen. Das Frühstück ist enttäuschend, zwei Croissants für jeden, ohne Teller liegen sie krümelig auf der Tischdecke, dazu starker Kaffee mit Milch, nicht in einer Tasse, sondern in einer Schüssel, die boi heißt. Der Kaffee schmeckt bitter und macht Herzklopfen, aber ich trinke ihn trotzdem und tunke mein Croissant hinein, traue mich nicht, nach Tee zu fragen. Ich bin so aufgeregt, dass ich nur ein Croissant schaffe, Irmi muss das andere essen.
Die Reisegruppe hat für heute eine Stadtrundfahrt gebucht, doch der Busfahrer kommt spät, so dass wir eine gefühlte Ewigkeit warten. Der Kegelklub dröhnt. Unsere Stadtführerin heißt Bernadette, hat im linken Strumpf eine Laufmasche, trägt ein blaues Kleid und hochhackige blaue Schuhe und ist très charmante. Sie spricht ziemlich gut Deutsch und scheint ihre Stadt zu lieben. Wir fahren zum Montmartre, bestaunen winklige Gässchen mit interessanten Geschäften, es wimmelt vor Touristen und Straßenhändlern. Dabei hat Bernadette gerade behauptet „Montmartre ist im August so leer wie die Wüste“. Wir besichtigen Sacré-Cœur und flirten selbst dort in einem fort, ich fühle mich wie in einem fremden bunten Film. Sogar Männer, die eine Freundin am Arm haben, schauen einen intensiv an, die Freundin schaut auch, aber in eine andere Richtung. Paris wirkt übermütig und verspielt.
Künstler auf Bürgersteigen malen für 50 Francs geschönte Portraits, eine Weile stehe ich hinter einem schwarzgelockten Jungen, der eine arg in die Jahre gekommene Amerikanerin so hinreißend aufs Blatt zaubert, als wäre sie die schönste Frau der Welt. Sie fällt ihm begeistert um den Hals und küsst ihn heftig ab, er wehrt sich lachend und freut sich über das üppige Trinkgeld, während sie stolz mit dem Bild von dannen trabt. Paris ist ein wogendes Meer, dessen Wellen mich hochreißen, eine Weile mit sich tragen und dann urplötzlich über mir zusammenschlagen und mir die Luft rauben. Hier kann man unmöglich einsam sein, und doch fühle ich mich einsam wie nie.
Wir sehen die Église de la Madeleine, den Dôme des Invalides, in dem Napoleon liegt, besuchen den Arc de Triomphe de l‘Étoile, den Arc de Triompfe du Caroussel, die Champs Elysées, den Bahnhof D’Orsay, der mich an das Parfüm meiner Mutter erinnert. Eau d’Orsay im der blauen Flasche. Der Eiffelturm ist riesig, aber wir dürfen nicht hinauf, junge Männer gehen uns nach, sprechen uns an, der Kegelklub zerreißt sich schon das Maul, ich bin verlegen und stolz zugleich und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Bernadette zeigt uns eine Prachtstraße, auf der viele Prominente Häuser und Wohnungen besitzen, Onassis, Grace Kelly, die Rothschilds. Moulin Rouge und Lido beeindrucken mich kein bisschen. Als wir Pause in einem Bistro machen, habe ich kaum Hunger, danach ist mir schlecht, weil ich aus Versehen einen Schluck Cidre getrunken habe, in dem Glauben, es wäre Apfelsaft, auch wenn mich der Geruch hätte warnen sollen. Irmi rettet mich und trinkt mein Glas aus. Sie verträgt alles, und ich beneide sie. Ich bestelle mir zwei Gläser Zitronenlimonade, weil ich schrecklichen Durst habe. Auf dem Weg nach Versailles sehen wir den Bois de Bologne, der genauso heißt wie mein Chypre-Duft. Ich habe Angst, meine Periode zu bekommen, Schmerztabletten habe ich natürlich dabei, vielleicht fühle ich mich auch deshalb so niedergeschlagen und unruhig. Bauchkrämpfe in Paris sind das Letzte, was ich jetzt brauche. Ich habe Glück, an diesem Tag passiert nichts. Der üppige Prunk von Versailles erschlägt mich, ich weiß gar nicht, wo ich meine Augen lassen soll, mir fällt auf, dass auf vielen Bildern an den Wänden nackte Frauen zu sehen sind, während die Männer an heiklen Stellen stets diskret mit Gewandzipfeln, Waffen oder gar Pferdebeinen versorgt sind, was ich lustig finde. Die Gärten wirken wie mit dem Lineal gezogen, überall schattige Plätze mit Liebespaaren und Marmorbecken mit Nixen, Faunen und Göttinnen.
Im Hotel angekommen sind alle hungrig. Bis auf mich, aber ich sage nichts, will nicht schon wieder „anders“ sein. Der Busfahrer lockt uns in ein überteuertes Restaurant, wir sind sauer, haben schließlich nur wenig Geld, allein ein kleines Eis kostet hier ein Vermögen. Immer noch schauen uns die jungen Männer an. Wir wollen noch mal ins Studentenviertel, verabschieden uns vorzeitig, fahren mit der Métro, in der es warm und eng ist. Als wir ans Tageslicht steigen, sagt Inge, dass sie keine Lust darauf hat, die ganze Zeit nur ziellos herumzutigern, sie wünscht ein Ziel, und die beiden anderen beginnen, aufgeregt auf sie einzureden. Die muntere Stimmung kippt, wird angespannt und gereizt, und ich stelle mich abseits, weil mich die Szene nur noch mehr deprimiert.
Menschen schieben sich an uns vorüber. Plötzlich bleibt ein junger Mann vor mir stehen und spricht mich leise an. Ich starre verlegen in die andere Richtung, tue, als ob ich ihn nicht höre. Er versucht es zuerst auf Französisch, dann auf Englisch, möchte angeblich nur ein bisschen mit mir spazieren gehen, weil er mich hübsch findet, ich riskiere einen schnellen Blick, er ist groß, sympathisch, sensibles schmales Gesicht, freundliche blaue Augen, kurzes dunkelblondes Haar, kariertes Hemd, Jeans. Jetzt verstehe ich natürlich auch kein Englisch mehr, zucke bedauernd die Schultern. Zu meinem Schrecken versucht er es sogar mit Deutsch, „Hast du ein bisschen Zeit?“, ob er ein Student ist und Sprachen studiert? Ich werde rot und sage: „Kannitverstaan“. Das klingt Niederländisch und hoffentlich abweisend genug. Er lächelt, murmelt leise etwas zärtlich Klingendes und sagt dann etwas, das wie „c’est vraimont dommage“ klingt, streicht mir sanft übers Haar, atmet tief ein und aus und geht. Dabei dreht er sich immer wieder um, hebt Brauen, Schultern und Hände und lächelt bedauernd. Ich lächele auch.
Die drei haben aufgehört zu zanken, Inge hat jetzt doch wieder Lust auf Herumtigern, kommt zu mir herüber und sagt: „Du lässt dich aber auch echt von jedem anquatschen.“ Der Satz verletzt mich so, dass ich am liebsten weinen würde. Wir laufen ein bisschen herum, setzen uns vor ein Café, essen noch ein Eis, diesmal ein großes, schlendern weiter umher, gehen zur Métro, fahren zurück zum Gare de l‘Est. Ich bin still, mir ist nicht gut. Vor dem Hotel beschließen die drei, dass sie keine Lust auf die stickigen Zimmer haben und lieber noch in ein anderes Café wollen. Irmi sagt: „Komm doch auch mit!“, aber ich möchte allein sein oder zu Hause bei meinen Tieren.
Im Hotelzimmer gehe ich gleich auf den Balkon, lehne mich in die warme französische Nacht. Ich überlege jetzt ernsthaft, ob ich springen soll, einfach so, weil es sich gerade richtig anfühlt, aus Weltschmerz, aus Sehnsucht, weil ich die große Traurigkeit in mir nicht mehr ertrage. Ich bin über den Gedanken selbst erschrocken und spüre, dass mich nicht viel abhält in diesem Moment. Der Tod ist verführerisch nah und macht mir ausnahmsweise keine Angst. Hoch genug ist der Balkon, den Sturz würde ich sicher nicht überleben, tief unten sehe ich schon mein verkrümmtes junges Leben liegen. Wie tragisch, kann nur ein Unfall gewesen sein, hat sich bestimmt nur zu weit nach vorn gelehnt, das Gleichgewicht verloren, gab doch gar keinen Grund, gerade erst Abitur gemacht, intaktes Elternhaus, kurz vor dem Studium, das Leben noch vor sich. Ich bin unendlich müdselig, sehne mich so nach Zärtlichkeit, nach einem Menschen, der mich liebt und hält, an den ich mich jetzt, in diesem Moment, lehnen kann. Ich habe seit Jahren einen festen Freund, doch unsere Liebe war von Anfang an anstrengend, heftig, problembeladen und fordernd, nie sanft und romantisch. Während ich hinüber zum Bahnhof schaue, hoffe ich, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gibt, der eines Tages zu mir gehört, der mich so lieben kann, wie ich bin, mich nicht dauernd ändern will, kritisiert, missversteht oder bedrängt. Und dass wir uns finden. Irgendwann. Aber vielleicht ist es genau dieser Fremde gewesen und jetzt habe ich ihn verloren. Eine flüchtige, sanfte Berührung hat mich an diesem Abend beinahe das Leben gekostet. Über den Moment so gefährlich nah am Sprung kann ich erst Jahre später sprechen, die Aufzeichnungen dazu zerreiße ich noch im Hotelzimmer.
Mit einem Mal habe ich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, meine, jemanden hinter mir zu spüren, was mir sehr unheimlich vorkommt. Vielleicht ist Irmi zurückgekommen? Mehrmals schaue ich mich um, niemand zu sehen, werfe einen letzten bedauernden Blick in die Tiefe, gehe zurück ins Zimmer, lebe weiter, schreibe, zerreiße, lege mich ins Bett und warte auf Irmi.
sehr, sehr schön……
Danke!