Rooms and Stories – Vaterzimmer

Anfang November 1975 kommt der Fremde, der bis vor kurzem noch Freund und Geliebter war, aus Köln in ihr Elternhaus, um sich förmlich und für alle Zeiten aus dem Familienleben zu verabschieden. Das gehört sich so, meint er, immerhin ist er fast sechs Jahre lang hier ein und aus gegangen, da kann man nicht ohne Erklärung von heute auf morgen wegbleiben. Sie würde sich das nicht trauen an seiner Stelle. Mit der Mutter hat sich der Fremde nicht sonderlich gut verstanden, sie ist ihm nach den ersten Katastrophen mit Misstrauen begegnet und hat das böse Ende schon damals kommen sehen. Den frühen Treuebruch hat sie ihm nicht verziehen, zu sehr hat sie mit ihrer Tochter gelitten. Auch die Tochter hat diese erste Verletzung nicht verwunden. The first cut ist he deepest, besonders, wenn man erst fünfzehn ist. Der Vater dagegen hat ihn mit Nachsicht behandelt und als eine Art Sohn betrachtet. Der Grund ist klar. Die beiden sind sich in vielerlei Hinsicht ähnlich, was den Vater milde stimmt und die Mutter argwöhnisch macht. Sie will verhindern, dass die Tochter dieselben Erfahrungen machen muss wie sie, was ihr nicht gelingt.

An diesem Novembertag ist der Vater hin und her gerissen zwischen der Liebe zu seiner Tochter und dem Verständnis für den jungen Fremden. Seitensprünge, Trennungen und dramatische Auftritte kennt er zu Genüge aus seinem eigenen Leben. Die Tochter spielt heute nur eine Nebenrolle, bleibt vor allem Statistin und kann nicht glauben, dass der Fremde tatsächlich für immer geht. Die Liebe, die sich so lange tapfer und leidenschaftlich auf dem brüchigen Fundament gehalten hat, wird diesen Tag nicht überleben.

Zu dritt gehen sie hinauf ins Zimmer des Vaters im ausgebauten holzverkleideten Dachgeschoss der Doppelhaushälfte. Die Tochter setzt sich auf das Couchbett unter die Schräge und starrt die ausgestopften Vögel am Kamin an. Käuzchen, Elster, Bussard, Stockente, Gänseküken. Der junge Fremde mit dem vertrauten Gesicht setzt sich auf den linken, der Vater, dem man seine Erschütterung ansieht, auf den rechten hellbraunen Ledersessel.

„Ich muss Ihnen was sagen, aber ich glaube, Sie wissen es schon“, beginnt der junge Mann gleich nach der Begrüßung seinen Monolog. „Ich habe in Köln jemanden kennengelernt.“ Er fasst sich kurz, will den letzten Auftritt hier möglichst schnell hinter sich bringen. Die Szene ist ihm peinlich, wird durch das doppelte Schweigen nicht leichter, aber er steht sie durch. Die Tochter kann ihm nicht zuhören, sie braucht all ihre Kraft für sich selbst, denn ihr Innerstes ist dabei sich aufzulösen. Bewegungslos, nur das Kinn zuckt gelegentlich, sitzt sie auf dem Bett. Weint. Lautlos. Unaufhörlich rinnen die Tränen. Sie hat keine Kontrolle über ihre Augen. Der Vater blickt immer wieder zu ihr hinüber, wirkt verstört, hat sie noch nie so weinen sehen, kann sich nur mit Mühe beherrschen. Seine Stirnader verrät, wie Wut, Liebe und Mitleid in ihm kämpfen.

Die Tochter vermutet, dass Schwester und Mutter an der Tür lauschen. Sollen sie ruhig. Sie gehören ebenfalls zur Schlussszene, auch wenn die Kontrahenten im Zimmer den Dialog offenbar als Männersache betrachten. Beim Vater wird um die Hand der Tochter angehalten, das hat der Fremde im Laufe der Jahre mehr als einmal direkt und indirekt getan, dem Vater gibt man sie am Ende der Beziehung auch wieder zurück.

Der Fremde kommt zum Schluss, sagt, dass ihm das alles wirklich sehr leid tue, was möglicherweise sogar stimmt. Die letzten Sätze kommen ihm leicht über die Lippen, denn sie bedeuten, dass sein Auftritt überstanden ist. „Ich wünsche Ihnen alles Gute. Vielen Dank für alles.“ Er streckt die Hand aus, der Vater ergreift sie. Oder lässt er sie in der Luft hängen? Schweigt er? Erwidert er etwas? Wünscht er dem Fremden auch alles Gute? Die Tochter nimmt nichts mehr wahr.

Sie fühlt sich leer, verlassen und taub, schaut immer nur auf den traurigen Fuchswelpen, der starr vor dem Kamin auf dem Boden hockt. Der Vater hat den armen kleinen Kerl tot auf der Straße gefunden und ausstopfen lassen, wie alle Tiere hier im Zimmer. Er kann genauso wenig mit dem Tod umgehen wie seine Tochter. Diese schönen Geschöpfe, die eben noch quicklebendig durch den Wald liefen oder flogen, einfach liegen und verrotten zu lassen oder lieblos zu entsorgen, bringt er nicht übers Herz. Ausgestopft sind sie zumindest noch da, man kann sie betrachten, ihr Gefieder oder Fell bewundern, sie berühren und vorsichtig streicheln, so haben sie wenigstens noch ihr Gesicht. Außer der Tochter versteht das kaum jemand, bei einigen Besuchern löst die Sammlung eher Befremden oder Unbehagen aus. Im Raum wird es still. Nur noch das Ticken der kleinen Uhr ist zu hören. Alles ist gesagt. Die Darsteller erheben sich. Ende des Auftritts. Abgang der männlichen Hauptperson.

Kleiner Fuchs (BFL)

Szenenwechsel.

Der junge Mann geht vor ihr die Treppe hinunter, sie sieht seinen Nacken und erinnert sich, wie sie sich mit vierzehn in der Christmette in diesen Nacken verliebt hat. An Weihnachten saß sie in der Dorfkirche, auf der verbotenen Männerseite, neben dem Vater, genau hinter diesem Fremden, der von ihrer Gegenwart nichts ahnte und spürte. Vielleicht war dies die einzige wirklich romantische Szene in diesem langen Beziehungsdrama, doch außer ihr hat sie damals niemand bemerkt. Als das Mädchen auf dem harten Fußbänkchen kniete, sie konnte sein Rasierwasser riechen, berührten ihre Fingerspitzen heimlich sein Haar, nur ganz kurz, und die mächtigen, jäh aufgebrochenen Gefühle machten sie gleichzeitig glücklich, traurig und fassungslos.

Jetzt gehen sie die zweite Treppe hinunter. Die Treppen in diesem Haus sind steil. Man muss gut aufpassen. Der Vater folgt ihnen nicht, bleibt oben im Vaterzimmer, hat Mühe, sich von dem Auftritt zu erholen.

Als sie unten ankommen, verschwindet die Mutter mit versteinerter Miene in die Küche, der Abschiedsgruß des Fremden bleibt unerwidert. Die Mutter nimmt die Szene persönlich. Die kleine Schwester auch. Sie wartet bereits an der Haustür, reißt sie weit auf, starrt den Fremden verächtlich an, rennt vor ihm zum Wagen, tritt hart gegen den Vorderreifen, schreit „Du Schwein, du Schwein!“ und spuckt ihm vor die Füße. Die große Schwester muss trotz Tränen lächeln. Der Fremde umarmt sie flüchtig und murmelt Unverständliches. Wahrscheinlich hat er jetzt trotz allem Mitleid, denn er weiß wohl, wie selten sie weint. Am liebsten würde sie ihn hart ins Gesicht schlagen, doch ihre Hände wollen ihn unbedingt ein letztes Mal umarmen. Er steigt ins Auto und braust davon. Sie beginnt zu zittern, spürt die warme Hand der kleinen Schwester und weiß, dass sie ab jetzt das vertraute Motorengeräusch niemals mehr hören wird. Niemals. Ein wundes, wehes Wort.

Der Vater bleibt lange oben im Vaterzimmer und stellt sich vor, wie er den Mistkerl mit einer seiner Jagdwaffen über den Haufen schießt. Der Gedanke ist ihm schon gekommen, als noch alle oben in seinem Zimmer waren. Einfach kurzen Prozess machen. Wie im Krieg. Verräter haben es nicht anders verdient. Tatsächlich sieht der Vater tagelang aus wie nach einem Todesfall, wütet und tobt, wie er es immer zu tun pflegt, wenn er sich gedemütigt oder ohnmächtig fühlt. Er regt sich fast so sehr auf wie seine Tochter, nur in die emotionale Gegenrichtung. Er brennt, sie erfriert.

Spät am Abend, als es ihr richtig elend geht und sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hat, klingelt das Telefon. Es ist ihr englischer Freund P., der unerwartet aus Cambridge anruft, weil er schon die ganze Zeit das Gefühl hat, dass es ihr nicht gut geht. Die Mutter holt sie aufgeregt nach unten, ungläubig nimmt die Tochter den Hörer auf. Dass er so fern ihren Schmerz spüren kann, tröstet sie. Auf diese tiefe Seelennähe war sie nicht gefaßt. Nach dem Gespräch kann sie zum ersten Mal seit langem ruhig einschlafen. Vielleicht gibt es ja doch eine Zukunft, denkt sie vorsichtig. Jenseits des Abgrunds.

Stockente (BFL)

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2 Antworten zu Rooms and Stories – Vaterzimmer

  1. Wulf sagt:

    ….spannend…..

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