Es gibt Momente, Stunden, Tage, Nächte, in denen das Leben unerwartete Wendungen nimmt, die seinen weiteren Lauf in andere, neue Bahnen lenken. Augenblicke, in denen sich Fenster mit Landschaften auftun, von deren Existenz man bis dahin nichts ahnte. Augenblicke, in denen sich fremde Schicksale miteinander verweben. Augenblicke, in denen sich Türen öffnen, vor deren Schwellen man nachdenklich verweilen, an denen man achtlos vorübergehen kann oder über die man beherzt treten muss. Inzwischen weiß ich, dass ich diese Augenblicke und Schwellenzeiten fast immer vorher spüre, als würden sie ihre Schatten in beide Richtungen werfen, ins Vorher und Nachher.
In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1973 befinde ich mich im Alpen-See-Express, der von Dortmund nach Garmisch-Partenkirchen unterwegs ist. Ich gehe noch zur Schule, werde im nächsten Jahr Abitur machen. Gemeinsam mit meiner Freundin Irmi bin ich auf dem Weg nach Oberammergau. Wir haben eine internationale Jugendreise mit „Fahr mit“ nach Bayern gebucht, stellen es uns schön vor, Gleichaltrige aus anderen Ländern und Kulturkreisen kennenzulernen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee hatte und warum es ausgerechnet Oberammergau wurde. Ich meine, dass wir ursprünglich in den Norden, ans Meer, wollten. Endlich bin ich richtig weit weg von zu Hause und von meinem Freund, mit dem ich seit drei Jahren zusammen bin. Er findet die Idee überhaupt nicht gut und hat alles versucht, sie mir auszureden, aber ich habe mich nicht abbringen lassen. Diese Reise ins Europäische Jugendhaus muss einfach sein.
Eigentlich sollte ich jetzt auf dem ruckeligen Schlafwagenbett liegen, aber das Vierer-Abteil im Wagen 99 ist unangenehm stickig. Fast eine Stunde lang habe ich versucht einzuschlafen, doch Beklommenheit, Herzklopfen und die Geräusche der Schlafenden haben mich gestört, daher habe ich meinen Platz (95, oben) verlassen, was im Dunkeln gar nicht so einfach war.
Jetzt bin ich draußen im Gang, um die Lichter der Nacht, die verlassenen Bahnhöfe und die ländliche Finsternis vorbeifliegen zu sehen. Manchmal klappe ich mir einen Sitz herunter, doch lieber noch stehe ich an den schwarzen Fenstern. Ich bin allein, alle anderen scheinen zu schlafen. In dieser Nacht begegnet mir nur der Schaffner, der kurz nach dem Rechten sieht und mir stumm zunickt. Ich stelle mir vor, ich wäre ein guter Geist, der über die Träumenden wacht. So lange ich hier bin und aufpasse, kann ihnen nichts passieren.
Ein Fenster ist oben einen Spalt breit offen und ich genieße es, wenn der Wind mich trifft und mein Haar zaust. Sicher sitzt ein erfahrener Lokführer vorn im Führerstand, um uns wie ein fürsorglicher Vater sicher an unser Ziel zu bringen. Ich vertraue ihm und fühle mich auf merkwürdige Weise geborgen.
Ich sehe mich in der Scheibe. Jung, schmal, müde, langes dunkles Haar, Mittelscheitel, großäugig, nachtblass. Ich weiß, dass dieser Zug mich in ein neues Lebenskapitel fährt, und verspüre Angst und Vorfreude. Tatsächlich bin ich so aufgeregt, dass ich während der ganzen Nacht kein Auge zutun werde. Ich mag die gleichmäßigen Bahngeräusche, vor allem das rhythmische Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm, Dadamm-Dadamm.
Irgendwann bin ich so müde, dass sich mein Kopf übergroß und wattig anfühlt. Trotzdem kehre ich nicht ins Abteil zurück. Der enge leere Gang bleibt mein Zimmer in dieser langen Nacht.
In Oberammergau gibt es jemanden, dem ich mit jedem Kilometer näherkomme. Ich spüre es nicht nur, ich weiß es.