Rooms and Stories – Auf der Schwelle

Der graublaue Augenblick, den ich so deutlich vorhergespürt hatte, gehörte einem dunkelhaarigen jungen Engländer, der gleich bei meiner Ankunft im Flur des Europäischen Jugendhauses stand und belustigt zusah, wie ich meinen schweren roten Koffer die Eingangsstufen hochwuchtete. „Du hast zu viel mitgebracht“, meinte er, womit er eindeutig richtig lag, vor allem, wenn man an mein unsichtbares Gepäck dachte. Zu Irmis und meiner Enttäuschung gab es bisher nur Deutsche in unserer Gruppe, die im Laufe des Tages noch sehr viel größer und deutscher wurde, als ein ganzer Bus mit jungen Pfälzern aus Frankenthal eintraf, deren Dialekt für mich zunächst unverständlich war. „Babbelanebleed“ und „Gebabbele“ waren die ersten Lautfolgen, die ich eindeutig identifizieren konnte.

Der junge Engländer, mit dem ich im Laufe des Tages noch weitere Augenblicke austauschen sollte, war als „Haushelfer“ und „Programm-Mitarbeiter“ Teil des Betreuerteams, er war Student, stammte aus London und war erst vor wenigen Tagen in Oberammergau eingetroffen. Er sollte bis Ende August bleiben und wir waren seine erste Gruppe. Die Neuankömmlinge wurden auf die verschiedenen Schlafräume des Jugendhotels verteilt, Irmi und ich landeten in einem Vierbettzimmer, wieder in Etagenbetten, und Irmi, der es offenbar nichts ausmachte, unten zu schlafen, überließ mir auch diesmal großzügig den oberen Schlafplatz.

Wir verbrachten den Großteil des Tages mit den ausgelassenen Pfälzern und erforschten den hübschen Ort mit den bunt bemalten Häusern. Dass hier so auffallend viele Männer biblische Bärte trugen, lag sicher daran, dass die meisten bei den Oberammergauer Passionsspielen mitmachten. Die gab es schon seit 1633, lasen wir verwundert, damals hatten die Bewohner während der Pest gelobt, alle zehn Jahre „das Leiden und Sterben Christi“ aufzuführen, falls keine weiteren Bewohner mehr von der Seuche dahingerafft würden. Tatsächlich starb fortan wunderbarerweise niemand mehr an der Pest, woraufhin die Oberammergauer ihr Gelübde einhielten. Ganze fünf Stunden dauert eine Aufführung. Die dreistündige Pause mitgerechnet, muss man sogar acht Stunden einplanen. Zu meiner Erleichterung stand keine Aufführung auf unserem Programm. Die letzte war erst 1970 gewesen.

Nach dem anstrengenden Tag voller Stimmen und Eindrücke und der unbequem durchwachten Zugnacht kam ich mir so unwirklich vor, als wäre ich ohne Skript und Regieanweisung rein zufällig mitten in ein malerisches Filmset geraten. Ich wollte nur noch schlafen, wenn doch bloß meine innere Anspannung nicht gewesen wäre. Sie erreichte ihren Höhepunkt, als ich plötzlich wieder dem jungen Engländer mit den graublauen Augen gegenüberstand und endlich begriff, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte. Auch diesmal befanden wir uns im Flur. Ich war schlagartig wach und entschied, nicht wie geplant mit den anderen Mädchen nach oben zu gehen, sondern bei ihm zu bleiben. Nach und nach verschwanden sämtliche Jugendgäste in ihren Zimmern, bis zum Schluss nur noch wir beide übrig waren.

Gemeinsam gingen wir nach draußen und machten es uns auf den Haustürstufen bequem. Ich weiß nicht, wie lange wir so beieinandersaßen und in dem später für uns typischen Sprachengemisch aus Deutsch und Englisch über unsere Länder, über Gott und die Welt, Bücher, Gedichte, Filme und Musik redeten, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen. In der Erinnerung waren es etliche Stunden, in Wirklichkeit trennten wir uns wohl schon nach zweieinhalb Stunden gegen Mitternacht, und ich musste mich im Dunkeln in mein Bett tasten. Ich war glücklich, aufgeregt, gespannt, verwirrt und besorgt. Etwas überaus Wichtiges war geschehen, in der Rückschau erscheint es mir heute eindeutig und überklar. Wir hatten eine geheimnisvolle Schwelle gefunden, die vor allem den Lauf meines Lebens auf Dauer in andere Bahnen lenken würde, und wir hatten diese Schwelle gleich am ersten Abend gemeinsam und ohne zu zögern überschritten.

Danach ergab sich alles von selbst. Eine Weile noch gingen wir vertraut Hand in Hand weiter, dann trennten sich unsere Pfade. Doch ein feiner spinnwebzarter Faden ist bis heute geblieben, denn wir haben einander in all der Zeit nie ganz aus den Augen verloren.

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