Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit in die Dolomiten. Da meine Mutter ihr Dorf nur höchst widerwillig verließ, fuhr mein Vater, der eigentlich gern verreiste, zunächst allein und später, als ich alt genug war, zusammen mit mir in Urlaub. An die Fahrt ins Grödnertal kann ich mich noch gut erinnern. Sie war aufregend, lang und dunkel, denn wir waren nachts unterwegs, weil die Autobahnen dann weniger voll waren. Ich saß vorn auf dem Beifahrersitz, war fest entschlossen, unbedingt wach zu bleiben, hatte eine knisternde Landkarte mit vielen Knickspuren auf dem Schoß und fühlte mich stolz und erwachsen. Ich hatte mir vorgenommen, meinem Vater Geschichten zu erzählen oder mich einfach nur mit ihm zu unterhalten, damit er nicht etwa am Steuer einschlief. Außerdem verfolgte ich regelmäßig mit dem Finger auf der Karte, wo wir gerade waren. Ich war überhaupt nicht müde, nur erwartungsvoll und gespannt. Mein Vater hatte mir schon viel von den Personen erzählt, die ich bald treffen sollte, und auch von den Orten mit den geheimnisvollen Namen, die wir besuchen würden. Seiseralm, Langkofel, Plattkofel, Karer See, Kalterer See, Wolkenstein, St. Christina. Und natürlich St. Ulrich, das gleich zwei Namen hatte und auch Ortisei hieß. Dort würden wir wohnen.
Die Dolomitenreise war ein Abenteuer, das nur mir und meinem Vater gehörte, und während wir uns immer weiter vom Dorf entfernten, fühlte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung immer freier. Angst hatte ich keine, denn in Gegenwart meines Vaters konnte mir schließlich nichts passieren. Auch mein Vater wirkte wie verwandelt, und seine entspannte Stimmung war genauso überraschend wie ansteckend. Sonst war er schließlich fast immer unruhig, nervös und reizbar, man musste extrem vorsichtig sein mit allem, was man sagte und wie man es sagte, aber allein mit mir verwandelte er sich schlagartig in einen gut gelaunten Mann, der gern lachte und mit dem man einfach über alles reden konnte. Er hörte jetzt sogar richtig zu, was er normalerweise nur sehr selten schaffte, weil ihn seine eigenen Probleme so sehr beschäftigten und stressten. Diese Metamorphose wiederholte sich bei jedem unserer gemeinsamen Urlaube. Diesmal fuhren auch meine Cousine, ihr Mann und meine Tante mit, meist waren sie auf der Autobahn vor uns und winkten ab und zu aus einem der Autofenster. Gemeinsam machten wir Rast, aßen Butterbrote und tranken Kaffee, Cola und Limonade. Mein Vater hatte bei allen Reisen eine riesige Kühltasche dabei, die meine fürsorgliche Mutter bis zum Rand mit Delikatessen angefüllt hatte. Natürlich nur mit Sachen, die er gern aß, vor allem Wurstwaren. Nach ein paar Tagen roch die Riesentasche mit den weißen Henkeln für mich unangenehm und ich mochte daraus nichts mehr essen. Meinem Vater machte das offenbar nichts aus, aber er hatte den Proviant ohnehin rasend schnell verputzt. Er aß ausgesprochen gern, und bei diesem ersten Urlaub aß er meine Portionen immer gleich mit, denn ich tat mich mit unbekannten Gerichten schwer und hatte außerhalb meines Elternhauses ohnehin so gut wie keinen Appetit. Außerdem machte mir meine feine Nase Probleme. Die erste Pizza meines Lebens fand ich völlig ungenießbar, weil mich der Thunfischgeruch fatal an Topsis Katzenfutter erinnerte. Auch den geriebenen Parmesankäse rührte ich nicht an, denn er roch wie eine Mischung aus Schweißfüßen und Erbrochenem. Zum Glück liebe ich inzwischen italienisches Essen. Auch Parmesan.
Als ich die Dolomiten zum ersten Mal sah, war ich überwältigt. Die schiere Größe, die bizarren Formen, die ständig wechselnden Farben! Einige Märchen und Sagen aus der Region kannte ich bereits, ich wußte von Laurin und seinem Rosengarten und von den feinen Bergfräulein, den Vivane, die hoch oben in den Felsen leben. Meine Lieblingsgeschichte vom schönen Gordo, den unheimlichen Hexen und der Quelle des Vergessens las ich erst hier. Mein Vater war schon mehrfach in St. Ulrich gewesen und inzwischen mit der Familie, bei der wir wohnten, gut befreundet. Wir schliefen in einem Doppelzimmer, wohl weil es die preiswerteste Lösung war, vielleicht aber auch, damit ich mich allein nicht fürchtete oder weil mein Vater nachts nicht gern allein war. Leider schnarchte er und ich musste ihn regelmäßig anstupsen oder ihm die Nase zuhalten, damit er Ruhe gab. Aber er murmelte dann nur „Is‘ gut, Kind“ und schlief weiter. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte seine Fähigkeit geerbt, so tief und fest zu schlafen, aber leider bin ich genauso störanfällig wie meine Mutter. Bei der kleinsten Sorge oder Aufregung ist es aus mit der Nachtruhe. Bei späteren Urlauben war das unvermeidliche Doppelzimmer mir ziemlich peinlich, weil die anderen Gäste mich unweigerlich für seine junge Freundin oder Sekretärin hielten, was meinen Vater leider auch noch amüsierte. Bei unserem letzten Urlaub, im Schwarzwald, war ich immerhin schon dreiundzwanzig und wir waren der Skandal der Pension. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass meine Mutter ursprünglich ein Doppelzimmer für meine Schwester und mich und ein Einzelzimmer für meinen Vater gebucht hatte, doch meine Schwester verlor kurz vor der Reise die Lust, und zwei Zimmer waren offenbar zu teuer.
Das Besondere an dem großen Haus in St. Ulrich war der intensive Geruch nach Holz und verschiedenen Ölen und Lacken, denn der Vater und der älteste Sohn waren Herrgottschnitzer und im unteren Teil des Hauses gab es außer der übervollen Werkstatt noch einen riesigen hellen Raum mit zahlreichen Tischen, auf denen Figuren in allen Größen standen, die nur darauf warteten bemalt zu werden. Die meisten waren Heiligenstatuen, aber es gab auch Märchengestalten. Maria zeigte mir den Raum gleich am ersten Tag und ich war hingerissen. Sie war in der Familie für die Bemalung zuständig und ermunterte mich gleich, ihr zu helfen und die Figuren zuerst mit einem speziellen Öl und dann mit Lasurfarben zu behandeln. Ich hätte tagelang in diesem Raum bleiben können, denn ich liebte alles dort, die Atmosphäre, den Geruch, die Geräusche, aber vor allem die Versunkenheit und Konzentration, die Maria ausstrahlte. Der Raum machte mich schlagartig tiefenentspannt. In die abgetrennte Schnitzwerkstatt traute ich mich nur selten, weil ich die beiden Männer bei ihrer wichtigen Arbeit nicht stören wollte.
Ich durfte Zwerge und Zahnstocherfrauen mit riesigen offenen Mündern lasieren und winzige Püppchen mit Hüten lackieren. Die Zwerge waren detailliert gearbeitet und alle unterschiedlich, die Püppchen einfach und sahen alle gleich aus. Wir bemalten die Püppchen in einer ganz bestimmten Reihenfolge, zuerst die Hüte, dann die Gesichter und Körper, zum Schluss kamen Augen und Mund. Geduld war hier sehr wichtig. Zuerst musste alles gut trocknen, solange durfte man die Figuren nicht berühren. Manchmal erinnere ich mich beim Porzellanmalen an die Dolomitentage mit Maria, auch wenn ich nicht glaube, dass es in Marias Werkstatt auch so intensiv nach Nelkenöl roch wie beim Porzellanmalen. Nach jedem Einsatz in der Werkstatt schenkte Maria mir eine der von mir bemalten Figuren, und am Ende besaß ich zwei selbstlasierte Zwerge, eine Zahnstocherfrau und ein Püppchen, dessen Augen zwei exakt gleich große schwarze Pünktchen waren, der Mund war ein winziger roter Strich. Meine Hand hatte beim Malen kein bisschen gezittert, was Maria sehr gelobt hatte.
Auch die anderen Zimmer hatten einen ungewohnten, aber überaus angenehmen Geruch, wahrscheinlich war es auch hier das Holz, denn die Wände waren vertäfelt, möglicherweise auch spezielle Reinigungsmittel, die man hier benutzte. In einem der Zimmer roch es immer ein bisschen nach frischer, warmer Milch. Wenn man abends das Fenster öffnete, war die Bergluft kühl und klar und duftete nach Gras und Blumen. Der Raum, in dem wir auch die Mahlzeiten einnahmen, besaß einen riesigen Kachelofen, auf den man mit Hilfe einer Art Leiter hochklettern konnte. Wenn es regnete oder draußen dunkel wurde, legte ich mich mit Dolomitensagen und dicken Kissen oben auf den Ofen, war für alle unsichtbar und einfach nur glücklich. Es war mein Geheimversteck. So lange ich mich still verhielt, konnte ich alles sehen, aber keiner sah mich. Meine Tante hatte stapelweise Hefte mit Liebesromanen und Arztgeschichten dabei, die aber für mich so langweilig waren, dass ich schon beim zweiten aufgab und nicht verstand, wie man so etwas überhaupt lesen konnte. Doch ihr schien es Spaß zu machen.
Normalerweise wagte ich als Kind nie zu sagen, wenn ich etwas wirklich, wirklich schön fand und unbedingt haben wollte, doch allein mit meinem Vater traute ich mich gleich zweimal. Ich erinnere mich noch an das bange Herzklopfen. Hoffentlich findet er die Sachen nicht zu teuer! Hoffentlich sagt er nicht nein! Das erste Objekt meiner Begierde war ein Märchenbuch mit Dolomitensagen, erzählt von Auguste Lechner. Ich entdeckte es in der Auslage eines Buchladens und es zog mich an wie ein Magnet. Das zweite, weit begehrenswertere Objekt, war eine Hexe aus Holz, die auf einem Bänkchen hockt, eifrig in einem Topf rührt und ein Eichhörnchen auf der Schulter hat. Mein Vater, der Einkäufe jeder Art hasste, äußerst selten in Läden ging und freiwillig eigentlich nur in Gartenmärkte (meine Bandbreite ist bei ähnlicher Grundabneigung zum Glück etwas breiter), machte allerdings zur Bedingung, dass ich mir Buch und Hexe selbst kaufen musste, was mir ein bisschen Angst machte, denn ich verstand die Leute hier nicht wirklich gut und kam auch mit der fremden Währung nicht zurecht. Alles kostete unfaßbar viele hunderte und tausende Lira! Doch ich wollte Buch und Hexe so schrecklich gern, dass ich mich allein mit Papas Geld in den Laden traute und überglücklich mit meinen Trophäen zurückkehrte. Mein Vater blieb währenddessen vor dem Schaufenster stehen, beobachtete mich und rauchte. Damals rauchten fast alle Erwachsenen.
Zu schaffen machte mir nur, dass ich die Höhenluft nicht gut vertrug, denn mir war während der ganzen Zeit fast immer schwindelig und der kleine Finger an meiner linken Hand stach, als steckten ganz viele Nadeln darin. Oben auf der Seiseralm wurde es so schlimm, dass ich zuerst blaß wurde und dann sehr unsicher auf den Beinen. Mein Vater merkte es sofort, nahm mich in seine Arme, trug mich zum Sessellift und wir fuhren zurück ins Tal. Selten habe ich mich so beschützt gefühlt. Dabei war es wunderschön auf der Alm bei den Haflingern mit ihren hellen Mähnen.
Mein Vater tröstete mich und meinte, das würde sich bestimmt schon irgendwie verwachsen. Leider hat es sich nie richtig verwachsen, so sehr ich die Bergwelt auch liebe.