Sinneswandel im Dezember

Seit ich weiß, dass mir Geruch und Geschmack (hoffentlich) nur vorübergehend abhanden gekommen sind (schmecken kann ich wieder alles), freue ich mich jeden Tag über die unzähligen Sinneseindrücke, die nach und nach zurückkehren. Ich genieße und begrüße jeden einzelnen wie einen alten Freund. Sogar die unangenehmen, die man normalerweise am liebsten ausblenden würde. Eins habe ich in den letzten Monaten gelernt: Nichts, aber auch gar nichts ist selbstverständlich, nicht mal der Duft von Seife oder der Geschmack von Zucker. Vorige Woche fuhren wir an einem Bauernhof vorbei, ich konnte den Misthaufen deutlich riechen, es war wunderbar! Ich bemerke inzwischen auch wieder unseren Abfalleimer, die Mülltonne, das benutzte Katzenklo, verschimmelte Zitrusfrüchte und abgestandenes Blumenwasser. Ja, darüber kann man sich tatsächlich unbändig freuen! Das hätte ich bis vor kurzem auch nicht für möglich gehalten. Es ist ein gutes, beruhigendes Gefühl, dass fast alle sicheren Wegweiser und Warnmelder wieder da sind. Die hochsensible Alarmanlage musste einen kompletten Neustart hinlegen und ist dabei nicht abgestürzt.

Es fühlt sich an, als wäre ich neu geboren, so frisch und intensiv nehme ich alles um mich herum wahr. Ich gerate in Verzückung über den Duft von Orangen und Äpfeln, von Kerzenrauch, Pfefferminz, Petersilie, Lavendel, Regenluft, Kaffee und Toast. Ich genieße den Geschmack von Sahne und Milch, Joghurt und Quark, Kaugummi, Süßkartoffel, Möhre, Schlangengurke, frisch gemahlenem Parmesan, Weihnachtsmarmelade (besonders die von Wilkin & Sons) und Schokolade. Manchmal gönne ich mir auch einfach alles durcheinander. Mir wird davon nicht etwa schlecht, es tut einfach nur gut, wieder so viel zu schmecken und zu riechen. Lebkuchengewürz! Spekulatiusgewürz! Bourbon Vanille!

Gelegentlich entwickle ich sonderbare, für mich untypische Gelüste, über die ich mich selbst wundere, und muss dann unbedingt weiche Marshmallows, kleine Salzkaramelltrüffel, klebrige runde Physalis, saure Gewürzgürkchen, Toblerone mit Honignougat oder englischen Cheddar mit „Original Branston Mixed Pickles“ essen. Diese Pickles bekommt man in England zum „Ploughman’s Lunch“, und die angenehme Erinnerung, im warmen Pub mit besten Freunden zu sitzen bei gedämpfter englischer Hintergrundkonversation, wird damit sofort „getriggert“.

(Calum Lewis/unsplash)

Leider waren die Pickles echt schwer zu bekommen so kurz vor Weihnachten, denn die englischen Läden hier waren so gut wie leer gekauft. Aber schließlich wurde ich doch noch fündig und bestellte auch gleich ein Glas „Heinz Sandwich Spread“, das strich mir meine „englische Mutter“ Pat immer auf die Lunchbrote, und „Coleman’s Mintsauce“. Die gab es stets zu den gräßlichen Lammgerichten.  In GB sind die „Lämmer“ offensichtlich deutlich älter als hier in Deutschland, so dass englisches Lammfleisch unangenehm nach Hammel schmeckt und riecht, darauf habe ich auch kein bisschen Lust, seltsamerweise aber auf die knallgrüne Mintsauce, die damals zuverlässig den ekligen Hammelgeschmack abmilderte.

Die Lamb-Mint-Kombination gab es oft bei meinen Landlords, einem äußerst netten älteren Ehepaar, das leider schon lange nicht mehr lebt, an das ich mich aber gern erinnere. Daher wohl auch der Mintsauce-Trigger, der mich auf der Stelle in das gemütliche Holmansche Eßzimmer versetzt, wo Mrs Holman von ihrem letzten Urlaub erzählt und dabei ihre Ringe dreht. Jetzt gerade bekomme ich übrigens auch noch Lust auf den Earl Grey Tea von Twinings (hab ihn leider nicht vorrätig), den tranken wir immer in unserem Haus in der Kitchener Avenue, und Mr Holman bezeichnete den typischen Geruch gern als „Chanel No 5“. Und Mince Pies (haben wir dieses Jahr leider auch nicht). Wie leicht man mit Aromen aller Art in die Vergangenheit reisen kann, und wie schön, dass ich diese Möglichkeit wieder habe, dass die Sinnes-Türen zu meinen Erinnerungen wieder offen stehen.

Ich schwelge in Soul Food (Spaghetti mit Tomatensauce, Weißbrot mit frischem Holländer, Pfannkuchen und Waffeln) und vertrautem, fast vergessenen „Kinderessen“, mache mir grünen Waldmeister-Wackelpeter, trinke Coca Cola (classic, das Lieblingsgetränk meines Vaters) und Rotbäckchen. Beides mag ich eigentlich schon lange nicht mehr, aber es tut einfach unglaublich gut, es wieder schmecken zu können, denn es weckt so viele Erinnerungen! Die richtigen Veilchenpastillen (die liebte mein Vater) und gebrannte Mandeln (die liebte meine Mutter) habe ich noch nicht auftreiben können, aber ich halte die Augen und die Nasenflügel offen.

In der Zwischenzeit gönne ich mir die knusprigen Kekse nach den alten Rezepten meiner Großmütter, luftiges Rosinenbrot (fast hatte ich vergessen, wie unglaublich süß und weich Rosinen sind) und warme, in Zucker gewälzte Krapfen. Jedes Mal habe ich wieder das beglückende Gefühl, „nach Hause“ zu kommen, zurück zu meinen feinen hochsensiblen Sinnen. Ich fühle genau, wie ich heile. Diese unberechenbare,  heimtückische, oft lebensbedrohliche und leider allzu oft tödliche Krankheit, die gerade überall auf der Welt wütet und ein Land nach dem anderen in die Knie und in den Lockdown zwingt, hat mich (hoffentlich) nur gestreift.

Noch weiß man es nicht genau, aber einige Studien lassen darauf schließen, dass es möglicherweise vor allem die milden Verläufe sind, die mit dem für die Krankheit typischen Symptom des Geruchs- und Geschmacksverlusts einhergehen (70-85%), so dass die plötzliche „Sinnesänderung“ im Grunde vielleicht sogar ein gutes Zeichen ist. Anscheinend löst das Virus bei Patienten, die einen totalen Verlust des Geruchssinns erleiden, in der Nase eine sehr starke lokale Immunreaktion aus, die zwar zu Geruchsverlust führt, gleichzeitig aber dafür sorgt, dass die Infektion auf den Riechkolben beschränkt bleibt und das Virus nicht weiter vordringt. Bei schweren Fällen kommt das Symptom weit weniger häufig vor (nur bei 10-15%). Die Überlebenden von schweren Verläufen, die ich persönlich kenne, hatten alle keinen Geruchsverlust.

(Calum Lewis/unsplash)

Bei meinem Oktober-Eintrag war ich noch nicht sicher. Inzwischen weiß ich es. Es war gar nicht so schwer, den Antikörpertest machen zu lassen, und die junge Labordame hat meine Vene zu meiner Erleichterung auch gleich gefunden. (Meine Blutabnahme-Erfahrungen sind leider ziemlich schrecklich.) Das Ergebnis lag bereits am nächsten Morgen vor. Ich war einigermaßen fassungslos und musste mehrfach hinsehen. Zuerst empfand ich tiefe Erleichterung, doch schon bald nagten erste Zweifel. „Was, wenn der Test jetzt falschpositiv ist?“ fragte meine Angst. „Bei gleich drei Arten von Antikörpern? Ziemlich unwahrscheinlich.“ „Und wenn ich mich jetzt noch mal anstecke?“ „Also sehr wahrscheinlich ist das im Moment nicht.“ „Aber es gibt doch schon so viele gefährliche Mutationen!“ „Nun beruhige dich erst mal und sei dankbar, dass es dir wieder gut geht!“ „Soll oder kann ich mich denn jetzt überhaupt noch impfen lassen oder wäre das total verkehrt?“ „Das wird sich alles noch klären. Noch sind wir eh nicht dran.“

Wie lange werden die lästigen Rückfälle mit den totalen Erschöpfungsattacken aus heiterem Himmel wohl noch auftreten? Es gibt Tage, an denen fühle ich mich wie nach einer überlangen Flugreise. Jetlag vom Feinsten, ich liege flach, zu müde zum Lesen oder Schreiben, quäle mich durch die Stunden, und die Fingergelenke tun so weh, dass ich sie kaum bewegen kann. Aber am nächsten Tag ist alles gut, als wäre nichts gewesen.

Bei vielen Menschen kann es noch Wochen und Monate nach der Infektion zu Fehlwahrnehmungen und Anosmie kommen, zu plötzlichem Haarausfall, extremen Erschöpfungszuständen, Konzentrationsproblemen, Nebel im Kopf und starken Gelenkbeschwerden, wie ich aus den großen Selbsthilfeforen weiß. Ein ständiges Auf und Ab. Haarausfall? Corona-Fatigue? „Kann, aber muss nicht“, beruhige ich die Angst. Das Lesen der vielen schlimmen Erfahrungsberichte tut uns nicht gut. Die Angst befürchtet immer gleich das Schlimmste, und ich verspreche ihr, nicht mehr jeden Tag dort vorbeizuschauen. „Hab doch bitte noch ein bisschen Geduld“, rate ich ihr. „Vielleicht haben wir ja Glück.“

Nachts machen wir deutlich mehr Fortschritte, im Traum trage ich jetzt keinen Mund-Nasen-Schutz mehr und kann andere auch wieder liebevoll umarmen. In meinen Träumen fühle ich mich schon sehr viel sicherer, im realen Leben hat sich außer einer gewissen Erleichterung beim Bahnfahren und Menschentreffen nur wenig geändert, die AHA+L Regeln werden weiter eingehalten, Kontakte weiter gemieden, die Masken nach jedem Ausflug sorgsam gewaschen. Ich werde die Sicherheitsvorkehrungen so lange befolgen, bis die Pandemie eingedämmt ist. Außerdem bin ich ja nicht allein. Was für ein Segen, dass ich einen lieben Knuffel-Kontakt und eine liebe Katze habe!

Seit dem 16. Dezember befinden wir uns im zweiten harten Lockdown, leider auch an Weihnachten, doch die Stimmung scheint trotz allem besser als beim ersten Mal. Wir wissen inzwischen viel mehr über das Virus, es gibt bereits zwei offenbar hochwirksame Impfstoffe, und heute (in einigen Orten auch schon gestern) beginnt man in der EU mit dem Impfen. In den USA und GB wird schon seit einigen Tagen geimpft. Der Twittertroll im Weißen Haus wird die Weltbühne bald verlassen, auch wenn man ihn wohl mit Gewalt wegschleppen muss, und der britische Mini-Trump hat an Heiligabend endlich den blöden Brexit durchgezogen. Es geht weiter. Mal sehen, was jetzt passiert.

Die aggressive neue Corona-Mutation, die vor allem in „meinem“ Teil Englands auftritt, macht mir Sorge, und die armen 30 000 Trucker, die tagelang auf den Straßen Kents festsaßen, nichts zu essen und zu trinken hatten, von Toiletten und Waschgelegenheiten ganz zu schweigen, und tausendmal lieber zu Hause mit ihren Familien Weihnachten gefeiert hätten, sind mir auch nicht aus dem Kopf gegangen. Doch die Staus sind jetzt aufgelöst, die Grenzen zu Frankreich wieder offen. Jetzt machen andere Länder dicht, um sich den winzigen mutierten Feind vom Leib zu halten, aber er wird seinen Weg schon finden. Leider. Im Fernsehen schaue ich mir die Jahresrückblicke an, bin bisweilen den Tränen nahe und hoffe aus tiefster Seele auf ein besseres, menschenfreundlicheres Jahr. Time for a change. High time!

Hier im Einkaufscenter hat man sich für den vorweihnachtlichen Lockdown einiges einfallen lassen, um bei den Kunden das Gefühl der Trostlosigkeit zu verhindern. Vor Weihnachten duftete es beim Hereinkommen nach frischem Brot und Teeladen, wie ich dank meines Sinneswandels erfreut feststellte, die meisten Läden waren zwar geschlossen, jedoch weiterhin beleuchtet, prächtige Weihnachtsbäume schmückten die Gänge, und von irgendwoher ertönte leise festliche Musik. Schade, dass ich bei jedem Ausflug nach draußen so in kalten Schweiß gebadet bin, dass ich mich anschließend umziehen muss. Klaustrophobie unter der Maske? Virus-Nachwehen? An die Masken haben wir uns doch längst gewöhnt? Die Angst weiß es auch nicht und schweigt lieber.

Die Menschen bewegten sich ruhig und besonnen, es gab weder Schlangen vor den Klopapierregalen noch Staus an den Kassen, nicht mal an Heiligabend. Vielleicht haben diesmal tatsächlich viele ganz allein „gefeiert“? Die meisten meiner älteren Verwandten, mit einigen habe ich in diesem Jahr viel mehr telefoniert als in sämtlichen Jahren davor zusammen, haben ihren Weihnachtsbesuchern abgesagt. Einige Geschäfte ermöglichten es den Kunden, bestellte Waren abzuholen, auch davon machten viele Gebrauch. Es waren mehr kleine Läden offen als beim ersten Lockdown, auch der Gewürzladen, den ich kurz vor den Festtagen mehrfach aufgesucht habe, weil ich plötzlich unbändige Lust auf geröstete Koriandersaat, zerdrückte Wacholderbeeren, Zimtstangen, Kürbisgewürzmischung, Arabisches Kaffeegewürz und Garam Marsala hatte. Und auf Szechuan Pfeffer, der frisch einfach unwiderstehlich duftet. Ein olfaktorisches Feuerwerk. Dass ich das vorher nie bemerkt habe!

Morgens und abends mache ich seit einigen Wochen „Riechtraining“, Physiotherapie für die Nase, habe im Internet Sets mit verschiedenen Düften erstanden, die auch von HNO-Ärzten empfohlen werden. Vier Duftrichtungen sind abgedeckt und können trainiert werden: blumig, würzig, fruchtig und harzartig.

So schnuppere ich an Thymian, Eukalyptus, Rose, Jasmin, Zitrone, Mandarine, Minze und Gewürznelke. Leider hat meine Nase immer noch viele blinde Flecken, so konnte ich unseren Adventskranz nicht riechen und leider im Moment auch nicht den hübschen kleinen Weihnachtsbaum. Schade. Ich liebe Waldgeruch! Vielleicht sollte ich mir noch ein paar ätherische Öle (Zeder, Fichte, Kiefer) zulegen? Auch bei den Duschgels ist nach wie vor kaum was los. Mir fehlen offenbar noch etliche holzige, dunkle Aromen. Aber meine Sinne sind auf einem guten Weg.

Veröffentlicht unter Corona | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Lebendiger Ökumenischer Adventskalender

„Kleines Dorf im Winter“, historischer Adventskalender, Richard Sellmer Verlag

„Peter und Liesel“, Reichhold & Lang, ca. 1920

Ohne „Corona“ würden mein Mann und ich am 1. Dezember genau wie in den vergangenen Jahren in der evangelischen Kirche in Weiden mit großer Freude im Rahmen des Lebendigen Ökumenischen Adventskalenders „das erste Türchen öffnen“, gemeinsam einen liebevoll vorbereiteten (und hoffentlich kurzweiligen) Powerpoint-Vortrag über Adventskalender halten und dabei Bilder von antiken und modernen Papierkalendern zeigen. Danach würden wir bei selbstgebackenen Plätzchen und Glühwein noch eine Weile gemütlich mit unseren Gästen plaudern. Doch leider mussten wir unseren Vortrag „pandemiebedingt“ auf das nächste Jahr verschieben, daher möchte ich unser Türchen in verkürzter Form hier auf meiner Seite öffnen.

Auch diesmal haben wir uns wieder auf die Suche nach thematisch passenden Kalendern für das fast verflossene Jahr gemacht und in unserer Sammlung einige Adventskalender aus dunklen Zeiten gefunden, etwa die sogenannten „Notkalender“. Sie stammen aus Vorkriegs- und Kriegszeiten sowie aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, als viele Menschen unter Traumata, Hunger und Entbehrungen litten und in den vertrauten Kalendern, in denen die Welt noch (oder wieder) heil war, ein wenig Trost und Hoffnung fanden. Die Notkalender sind auf dünnem, nicht sehr hochwertigen Papier gedruckt und sehen inzwischen fast alle sehr fleckig, „abgeliebt“ und vergilbt aus. Trotzdem sind sie kleine Schätze, denn sie haben sicher alle ihre eigene Geschichte.

„Traumnacht“, 1962, Richard Sellmer Verlag (Detail)

Es gibt auch einige historische Adventskalender in unserer Sammlung, die auf den ersten Blick recht düster wirken, etwa die sogenannten „schwarzen Adventskalender“ mit ihrem tiefschwarzen Himmel. Dies gilt auch für einen neueren Kalender („Traumnacht“, 1962) aus dem Sellmer Verlag, den der Künstler Frans Haacken bewusst dunkel gestaltet hat. Nur an wenigen Stellen gibt es sparsame Farbtupfer. Mir persönlich gefällt er gut, weil er „so anders“ ist. Oben am Himmel fliegt sogar eine fröhliche Hexe (vielleicht die Weihnachtshexe Befana?). Sellmer bietet ihn bei den historischen Nachdrucken immer noch zum Kauf an. Irgendwie passt er gut in dieses „ausgefallene“ Jahr, daher bekommt er  diesmal einen besonderen Platz in unserer kleinen privaten „Ausstellung“ hier im Haus.

Frauenkirche im Schnee, M. Röhl, Dresden, 1948 (Detail)

In Deutschland haben Adventskalender eine lange Tradition (hier wurden sie um 1900 auch „erfunden“) und sind aus der Vorweihnachtszeit gar nicht wegzudenken, auch wenn vor allem die gefüllten Varianten immer bizzarer ausfallen (u.a. gibt es sie mit Alkohol, Wurst, Parfüm, Tiernahrung und Erotikartikeln) und mit Weihnachten so gar nichts mehr zu tun haben.

Die „echten“ Adventskalender haben ihren besonderen Zauber wohl nie verloren. Selbst in Notzeiten gab es sie noch, da wurden sie von Eltern oder älteren Geschwistern gebastelt, um den Kleinen, die auf so vieles verzichten mussten, jeden Tag wenigstens eine kleine Freude zu machen.

In meiner Kindheit gehörte der Gang zum Schreibwarenladen an der Hand meiner Oma (und später meiner Mutter) zu den schönsten Highlights des Jahres. Die Verkäuferin breitete gleich zwanzig oder mehr neue Kalender auf die Theke aus, ich konnte mich gar nicht sattsehen und hatte die Qual der Wahl. Ich durfte mir leider, leider nur einen aussuchen. Ich war so aufgeregt! Ach, all die schönen Engel, Nikoläuse, Weihnachtsmänner, Märchenbilder, Zwerge, Rehe, Dörfer, Schneelandschaften und die feierlichen Krippenszenen! Glitter und Glimmer! Adventsuhren, Aufstellkalender, Türchenkalender, Abreißkalender! Sogar Hampelkalender gab es! Am liebsten hätte ich sie alle mitgenommen, doch das klappte erst, als ich erwachsen war. Die Kinderkalender habe ich immer noch. Auch den allerersten. Damals liebte ich vor allem die Bilder von Fritz Baumgarten, doch dieser Illustrator und meine alten Kalender verdienen einen eigenen Beitrag.

Kurz nach Beginn des zweiten Weltkriegs wurden Adventskalender zwar zunächst noch gedruckt, allerdings zunehmend ideologisch gefärbt und schließlich sogar bewußt für politische Zwecke mißbraucht. 1940 wurde der Druck von Kalendern verboten, da Papier nur noch für kriegsrelevante Druckerzeugnisse benutzt werden durfte. Ganz verzichten wollte man aber nicht auf den Adventskalender, daher veröffentlichte die NSDAP kurzerhand ab 1941 ihre eigene Version, den „Vorweihnachtskalender“. Darin wurden christliche Bräuche umgedeutet, so wurde aus St. Nikolaus ein martialisch wirkender „Rupprecht“, aus dem Adventskranz wurde ein „Sonnenwendkranz“,  aus dem Weihnachtsbaum ein „Julbaum“, und es gab Bastelanleitungen für Kriegsspielzeug und Lichtersprüche für Soldaten und den Führer. Der Kalender erschien in hohen Auflagen, wurde jedes Jahr leicht verändert und diente vor allem dem Zweck, Kinder auf diesem Weg ideologisch zu beeinflussen.

„Die kleine Stadt“, Richard Sellmer Verlag, 1946

Nach dem Krieg spendeten die ersten „richtigen“ Adventskalender sicher vielen Menschen Trost, denn auf ihnen waren ruhige, friedliche Szenen und vertraute Städte, Märkte und Gebäude zu sehen, die in Wirklichkeit völlig zerstört waren, etwa die Frauenkirche in Dresden. In der sowjetischen Besatzungszone erschienen die ersten Adventskalender bereits wieder 1945, und vor allem aus dem Raum Dresden sind noch viele erhalten. Immer noch erstehen kann man übrigens den ersten Kalender des Sellmer Verlags nach dem 2. Weltkrieg, die zeitlos schöne „kleine Stadt“.

Auch farbenfrohe, fröhliche Kalender wollten wir zeigen, mit all den Dingen, auf die wir in diesem Jahr schweren Herzens verzichten müssen: wimmelige Dorfszenen, geschäftige Weihnachtsmärkte, gemütliche Weihnachtswerkstätten, unbeschwerte Familien.

„Peter und Liesel“ von Lotte Block

„Peter und Liesel“, unseren „Familienkalender“, hätten wir auch wieder mitgebracht. Wir haben ihn nicht nur als gedruckten kommerziellen Kalender mit den Illustrationen von Josef Mauder (als Album und Abreißblock), sondern auch in Form von zwei ganz besonderen handgezeichneten „Originalen“.

Die erste Version stammt von „Tante Lotte“, die damit die drei Kinder ihrer allzu früh verstorbenen besten Freundin trösten wollte, die andere von der Mutter meines Mannes, die Tante Lottes Werk erbte und als Vorlage benutzte, damit jedes ihrer beiden Kinder seinen eigenen „Peter und Liesel“ Kalender  hatte. Beide Kalender sind so gestaltet, dass man sie immer wieder benutzen kann.

„Peter und Liesel“ von Hilde Leidel

Der Text (bei Tante Lotte in Sütterlinschrift) steht auf der Rückseite der Bilder, die gelocht und mit einem roten Bändchen auf ein hübsch bemaltes Stück Pappe aufgezogen sind. Jeden Tag wird die oberste Karte abgenommen und die  Geschichte darauf vorgelesen. Die Schlussbilder sind unterschiedlich, weil (bei den Eltern) eigene Familienmitglieder als Vorbild dienten. Sind alle Karten gelesen, werden sie in der richtigen Reihenfolge wieder aufs Bändchen gezogen.

Ich hätte auch wieder meinen besonderen Liebling, das Weihnachtsmärchen „Die Christrose“, mitgebracht. Der Kalender stammt aus den 1920er Jahren, die Illustrationen sind von Else Wenz-Vietor, der Text von Sepp Bauer. „Die Christrose“ thematisiert als einziger Adventskalender überhaupt die Suche nach Heilung und wirkt daher in diesem Jahr noch anrührender als sonst. In der Geschichte machen sich die Geschwister Fritz und Grete auf eine gefährliche Reise, um ihren todkranken Vater zu retten, denn nur der Duft einer ganz besonderen Blume, die vom Christkind persönlich gesegnet wurde, kann ihn wieder gesund machen. Dazu müssen die Kinder mit Hilfe vieler Tiere (u.a. Eisbär, Reh, Wildgans, Maus und Rentier) und Märchenwesen (einem bedrohlichen Riesen) das eisige, unwirtliche Land des Winterkönigs durchqueren, um  hinauf in den Himmel zu gelangen.

„Die Christrose“, Reichhold & Lang, um 1926

Jeden Tag geht die Geschichte mit einem kleinen Text und einem neuen Bild weiter, bis Fritz und Grete zum Schluss gemeinsam mit dem Nikolaus und dem Christkind im Himmelsschlitten zur Erde zurückkehren und ihrem Vater die himmlische Wunderblume bringen. Der arme Holzfäller atmet den Duft ein und wird gesund. Eine heilende Blume bräuchten so viele Menschen in aller Welt in diesem Jahr!

Der Kalender aus dem Hause Reichold & Lang war damals so beliebt, dass es ihn über mehrere Jahre in verschiedenen Ausführungen gab: als Abreißkalender mit unterschiedlichen Alben (die Bilder wurden eingeklebt, und am Ende hatte man ein Bilderbuch) und sogar in Kombination mit dünnen Schokoladentäfelchen. Damit war er 1926 möglicherweise der erste Schokoladenkalender überhaupt. Er entstand in Zusammenarbeit mit der Kölner Schokoladenfabrik Stollwerck, und als wir vor einigen Jahren im Schokoladenmuseum eine Adventskalenderausstellung hatten, fragte ich nach und daraufhin entdeckte man im Archiv sogar noch zwei bisher unbekannte Entwürfe von weiteren Schokoladenkalendern. Die wurden dann gleich mit ausgestellt, was mich sehr freute.

Vor einiger Zeit (2006) legte der Lappan Verlag „Die Christrose“ als Bilderbuch neu auf, so dass man sich auch heute noch von dem alten Weihnachtsmärchen trösten lassen kann. Leider ist das Buch bereits vergriffen, wird jedoch in vielen Antiquariaten noch angeboten.

„Die Christrose“ von Else Wenz-Vietor und Sepp Bauer, Verlag Reichhold & Lang, um 1926

 

 

Veröffentlicht unter Adventskalender, Feste, Kindheit | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Herbst – anders als erwartet

Mit Wehmut denke ich an den Beitrag „Oktoberland mit allen Sinnen“ zurück, den ich im vorigen Jahr über meinen Lieblingsmonat geschrieben habe. Wie wunderbar der Herbst sonst immer schmeckt und duftet! All die intensiven Momente, vor allem draußen. Und ich freue mich jedes Mal aufs Neue auf den besonderen, typischen Geruch beim Aushöhlen der Halloween-Kürbisse. Doch diesmal war alles anders. Ich konnte den bunten, leuchtenden Oktober weder riechen noch schmecken, was mich in ziemliche Unruhe versetzte. Immerhin grassiert gerade eine Pandemie, zu deren Leitsymptomen Geschmacks- und Geruchsverlust gehören.

Es fing an wie bei vielen Infekten, ich fühlte mich abgeschlagen und müde. Die Nase war verstopft, Kopf und Gelenke schmerzten, ich konnte mich nicht konzentrieren, mein Puls war zu schnell, und ich geriet bei den kleinsten Anstrengungen ins Schwitzen. Ich lag auf dem Sofa, lenkte mich mit TV-Serien ab und hoffte inständig, dass der Infekt nicht Covid war und bitte nicht richtig schlimm werden würde. Was anders war als sonst: Ich konnte nichts mehr riechen und schmecken. Ich ging nicht mehr vor die Tür. Mein Mann fühlte sich auch nicht wohl, und wir nahmen mehrmals am Tag hochdosiert Vitamin C (Pulver in Brausetablette aufgelöst). Woher kam der Infekt? Ich bin extrem vorsichtig, verlasse das Haus nur selten, trage dabei immer Maske, wasche mir dauernd die Hände. Vielleicht über die Augen? Oder hatte mein Mann das mitgebracht?

Die Corona-Warn-App zeigt mir zwar nach jedem meiner „Ausflüge“ mehrere Risikomeldungen (meistens 4), aber immer nur grüne mit niedrigem Risiko. Wenn man bedenkt, wie wenige Menschen die App überhaupt installiert haben, ist das eigentlich erschreckend viel. Zum Glück hatte ich weder Fieber noch Husten und Atemnot. Doch mein Schlaf war flach und voller (Corona-)Alpträume. Selten hat mich ein Infekt derart in Unruhe versetzt.

Nach einigen Tagen ging es uns wieder besser, doch meine Welt blieb geruch- und geschmacklos, und der Oktober war für mich gelaufen. Nicht mal, dass einer der beiden Kürbisse faul war, habe ich gerochen, dabei stinkt das widerlich. Normalerweise bin ich ja ein wandelnder Lebensmittelverfallsdetektor und olfaktorischer Warnmelder („Hier stimmt was nicht! Das riecht komisch! Irgendwie anders!“), und plötzlich nahm ich nichts mehr wahr. Nicht mal (die absolute Härte!) das frisch benutzte Katzenklo, das ich normalerweise über zwei Etagen wittere. Es stank todsicher genau wie immer, doch meine Nase signalisierte nichts. Die inneren Alarmglocken schrillten, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht ist das ja bei jedem Schnupfen so und mir bloß bisher nie aufgefallen? Ich habe darauf noch nie vorher geachtet.

Oft genug habe ich mir im Laufe meines Lebens mitten in all den Geruchswirbeln und Reizbombardements gewünscht, zur Abwechslung mal keine hochsensible Nase zu haben, und mich gefragt, wie sich Anosmie (Geruchsverlust) wohl anfühlen könnte. Jetzt weiß ich es! Gruselig! Manchmal habe ich mir auch gedacht, dass ich ganz gut auf einige meiner extremen, intensiven Geruchswahrnehmungen verzichten könnte, weil es einfach so viele sind, weil einige stundenlang nachhallen („Nasenwürmer“), wenn der Reiz längst verflogen ist (Essig, Katzenklo, Schweiß, Jauche, Zigarettenrauch, Katermarkierung, faules Wasser, Abfluss, Mülltonne). Aber ich habe nicht geahnt,  wie verloren und orientierungslos ich mich ohne meine vertrauten sinnlichen „Wegweiser“ fühlen würde. Unsicher. Traurig. Ungeduldig. Gereizt. Panisch. Wie lange dauert das noch? Ob das jetzt so bleibt? Jetzt weiß ich, wie wichtig mein Geruchsinn für mich ist. Die Welt um mich herum war kalt, flach und steril, irgendwie leerer – und machte mir noch mehr Angst als ohnehin schon.

Dass ich nicht mehr schmecken konnte, war nicht ganz so schlimm, es nahm mir allerdings den Genuss und die Freude am Essen. Ich esse wirklich gern, liebe die Kombination aus Duft und Geschmack von Speisen, Gewürzen und Kräutern. Als meine Nase wieder „frei“ war, ging ich zum Gewürzschrank und „probierte Schmecken“. Es war erschreckend. Nur bei Salz spürte ich was. Ausgerechnet! Salz mag ich nicht. Ich reagiere darauf empfindlich, schnell sind Gerichte für mich versalzen, die für andere normal oder gar laff schmecken. Die Salzempfindung war noch da, ein eindeutiger Reiz auf der Zunge. Ich nahm mir fest vor, nie mehr über versalzene Speisen zu schimpfen….

In den folgenden Tagen und Wochen versuchte ich das Schmecken immer wieder, vor allem mit meinen Lieblingsgewürzen. Ich erkannte die Pfeffersorten nicht mehr (sonst sind sie alle unterschiedlich: leicht brennend, warm, nussig, frisch, zitronig, scharf oder holzig-bitter), spürte aber stattdessen die unterschiedlichen Texturen deutlicher. Als hätte sich eine zusätzliche Instanz eingeschaltet, um mir zu helfen. Zucker schmeckte nach nichts, selbst extrem Saures konnte ich nicht mehr erkennen. Den Vitamin-C-Drink, bei dem ich mich normalerweise angewidert schüttle, kippte ich ungerührt in mich hinein. Beim Essen fühlte sich einiges im Mund kühl, weich oder prickelnd an, auf der Zunge gab es also offenbar noch Empfindungen, doch ich konnte sie nur einordnen, weil ich wußte, wie es normalerweise schmecken würde.

Als Mensch mit einer „Jagdhundnase“ macht man offenbar (unbewusst) recht merkwürdige Dinge. Mir fiel auf, dass ich an (fast) allem, was ich esse, berühre oder anziehe, vorher rieche. In meinem Buch über Hochsensibilität habe ich dem Geruchssinn nicht von ungefähr das längste Kapitel gewidmet, denn er ist eindeutig mein „nervigster“ Sinn. Jetzt ertappte ich mich bei „sinnlosen“ (ritualisierten?) Witterungsaktionen, beobachtete, wie ich die Nase in meinen (geruchlosen) Pullover drückte, die (geruchlose) Milchpackung beschnupperte, das (geruchlose) Katzenfutter, den (geruchlosen) Käse. NICHTS. Ich roch weder angebranntes noch duftendes Essen, nicht mal Bacon oder Sauerkraut (hängt normalerweise tagelang deutlich wahrnehmbar in der Luft), keinen Kaffee, keinen Herbstgarten, kein nasses Laub. Keinen Heizungskeller, keine Waschküche, kein Auto, keine Straße, keine Regenluft. Alles war „neutral“ und irgendwie kalt. Auch die Vorratskammer und das Gewürzschränkchen waren steril. Mülleimer, Biomüll und Abfluss müffelten nicht mehr. Ich roch draußen kein fauliges Wasser im Übertopf, kein Brünnchen- oder Teichwasser, kein Efeulaub, keine Perückenstrauchblätter (beides sehr angenehm), und drinnen kein „altes“ Wasser in der Vase, keinen Zitronenschimmel, keinen alternden Apfel, keine Tomate, keinen meiner vielen Bastelkleber. Kein Holz, keine Kürbissuppe, kein frisches Brot, kein Papier, keine Zeitung, keine Bücher, keine karamellige Créme brûlée-Kruste.

Von feineren Düften wie Katzenfell ganz zu schweigen. (Ich konnte meine Katzen immer am Geruch ihres Fells unterscheiden, selbst ihre Pfoten rochen individuell. Feuchtes Katzenwelpenfell riecht übrigens wie nasse Wolle.) Hundefell hätte ich wahrscheinlich auch nicht mehr wahrgenommen (als Kind wurde mir regelmäßig schlecht, wenn unser Hund aus dem Regen ins Haus kam). Ich roch auch nicht mehr, ob der DHL-Mann im Auto geraucht hatte (normalerweise am Päckchen klar zu erschnüffeln) oder ob die Verpackung im Keller gelagert worden war (unangenehm, nicht wegzukriegen). Ich rieche bei offener Tür zum Garten auch gleich, wenn nebenan der Großvater zu Besuch kommt, denn er raucht Pfeife.

Meine Handcremes und Duschgels (ich habe mehrere, je nach Stimmung) rochen nach NICHTS. Genau wie die verschiedenen Seifen, Spül- und Putzmittel. Ich versuchte es mit schweren Kalibern: Salbe aus Indischem Weihrauch und Isopropylalkohol. Keine Reaktion. Oh Gott, nichts mehr, das mich warnt, wenn ich verfallene, giftige, gefährliche Substanzen in die Nähe meines Gesichts bringe, berühre oder zu mir nehme? Und was ist mit Brandgeruch oder Gas? Gasgeruch versetzt mich immer in Panik, zum Glück haben wir keins hier im Haus. Chlor? Das nimmt man doch sicher mit verschiedenen Sinnen wahr? Ich rieche es in englischen Häusern überdeutlich (wegen des gechlorten Wassers), und im Schwimmbad brennen und stechen mir davon ganz schlimm die Augen. Aber Chlorreiniger war nicht zur Hand, weil ich ihn hassbedingt längst aus dem Haus verbannt habe. Feuchte Wände? (Hoffentlich nicht!) Die meisten Rohrbrüche hier im Haus habe ich gerochen. Und wenn es jetzt irgendwo brennt? (Hoffentlich nicht!). Zwei wichtige Teile meiner hochsensiblen Alarmanlage waren ausgefallen! Auch mich selbst nahm ich nicht mehr wahr. Ich hätte wie ein Stinktier durch die Gegend laufen können und nichts davon gemerkt!

Zu meinem Erstaunen (das einzig Interessante an dem unfreiwilligen „Experiment“) entdeckte ich in der geruchlosen Welt gleich zu Anfang einen Sensor, den ich vorher noch nie bemerkt hatte. Ich spürte nämlich in all der Wahrnehmungsleere ein feines Prickeln oder Kribbeln in der Nase, wenn ich an Produkten zu riechen versuchte, die möglicherweise einen gemeinsamen Bestandteil enthielten. Sowohl Flüssigseife, Shampoos als auch Duschgels „prickelten“ subtil in der Nase. Der Reiz erinnert mich an die Empfindung, die ich beim Schnuppern an Wein oder Bier habe. War das vielleicht ein geheimer Detektor für Alkohol? Ich schaute mir mit der Lupe (winzige Schrift!) die Inhaltsstoffliste an. Alkohol gehört zu meinen Problemsubstanzen, mir entgeht kein Tröpfchen davon im Essen, gleich bekomme ich einen „Flush“, doch auf der Haut tut er mir nichts. Jetzt entdeckte ich ihn tatsächlich in Produkten, in denen ich ihn nie vermutet hätte. Gibt es möglicherweise einen eigenen Sensor für Alkohol, den man unter all den dominanten Geruchs- und Geschmacksreizen, die dauernd auf einen einprasseln, nicht bemerkt? Das wäre immerhin noch ein zuverlässiges Warnsignal!

Normalerweise erkenne ich vertraute Orte, Räume und Menschen an ihrem individuellen Geruch und identifiziere alle mir bekannten Duftwässer sofort. Noch vor kurzem habe ich damit eine Bekannte beeindruckt. Es umwehte sie eine Wolke, die mich gleich zweifach in die Siebziger Jahre versetzte. Eau de Lancôme! Studentinnenheim in Köln! Das Haus in England! Diesen Duft benutzten damals zwei meiner Freundinnen, was mich immer stark irritierte, denn sie waren ansonsten völlig unterschiedlich. Lang her, aber klar und unverwechselbar gespeichert, gleich mit zwei Zeiten, Orten und Personen. Gerüche, Düfte und Erinnerungen sind bei mir so eng verknüpft, dass ich sie oft bewusst und gern als „Schreibtrigger“ benutze (etwa Jasmintee, Käsekuchen oder heiße Schokolade). Wenn ich einen Kaninchenstall rieche (Wiesenheu, trockenes Stroh, Kaninchen), fange ich an zu weinen. Ich kann nicht anders. Der Geruch versetzt mich so intensiv in meine Kindheit und zu meinen Kaninchen, dass ich emotional völlig fertig bin. Aber auf eine gute Art.

Ich merkte, dass ich ohne meine übliche „Smellscape“ (Geruchslandschaft) immer mehr die Orientierung verlor, und versuchte gegenzusteuern. Das Essen schmeckte zwar neutral, aber die Erinnerung half. Ich wusste ja genau, wie alles riechen und schmecken sollte, stellte mir beim Kauen und Schlucken den Geschmack vor und achtete zum Trost noch mehr als sonst auf die Textur und Temperatur der Nahrungsmittel in meinem Mund. Die glatte Haut der Paprika, ihr weiches Fleisch, die raue Kruste der Bratkartoffeln, das kühle Prickeln des Mineralwassers, das warme, weiche Teewasser, die cremige Sahne, der dicke griechische Joghurt.

Dass ich nicht mal mehr meine Mundspülung („Listerine Cool Mint“) schmecken konnte, erstaunte mich. Das Zeug riecht und schmeckt normalerweise extrem stark (nicht besonders angenehm). Den Geschmack und Geruch habe ich stundenlang in Mund und Nase, aber meine Zahnärztin schwört drauf und es ist eindeutig gut für mein Zahnfleisch. Und jetzt? Nur ein schwacher „Luftwechsel“ im Mund und die erstaunte Erinnerung daran, wie intensiv es eigentlich schmecken müsste. Immer wieder der Gedanke: Hoffentlich erholen sich meine Sinne schnell wieder! Im Internet las ich, dass es Monate dauern kann, wenn Covid das Riechzentrum erwischt. Und schlimmstenfalls sogar bleibt. Aber vielleicht war das ja nicht Corona, sondern irgendwas anderes.

Ich machte weiterhin mehrmals am Tag mein Schmeck- und Riechtraining in Bad und Küche, am Gewürzschrank, im Keller, draußen bei den Kräutern. Bei Kümmel gab es die erste kleine Reaktion, vorn auf der Zunge. Alles andere schmeckte und roch weiter neutral. Wacholderbeeren, Koriander, Muskat, Vanille, Zimt, Gewürznelken, Schwarzbrot, Toast, Orangen, Tomaten, Äpfel – alles gleich. Aber ich konnte es leicht an der Textur unterscheiden. Dann die erste richtige „Sensation“, gleich beim ersten Versuch. Szechuan Pfeffer! Warum war mir der nicht schon früher eingefallen (über die extreme Prickelwirkung und meine Abneigung gegen dieses Gewürz habe ich hier vor einiger Zeit schon geschrieben). Ich war glücklich und gönnte mir das Kribbeln gleich mehrmals. Die Zungenspitze prickelte so wild, als hätte ich sie in Brausepulver getaucht. Allerdings wurde diesmal meine Mundschleimhaut danach nicht taub. Erst nach mehr als zwei Wochen hatte ich den Eindruck, wieder mehr schmecken zu können.

Frische Kräuter (Rosmarin, Thymian, Koriander, Petersilie, Salbei, Minze, Basilikum, Zitronenmelisse, Zitronenverbene) schmeckten und rochen weiter neutral. Leider auch meine Eau de Toilette-Sammlung (auch hier wähle ich den Duft normalerweise je nach Tagesstimmung). Ich probierte meine Lieblingsdüfte geduldig immer wieder aus. Jeden Tag nebelte ich mich mehrfach ein, und die Zimmer auch, allerdings mit einem anderen Duft. Das erste, was ich identifizieren konnte, war „Drakkar Noir“. Dann erkannte ich (entfernt) „Cool Water“. Beide sind sehr intensiv, verflogen allerdings im Gegensatz zu sonst schnell wieder.

Nach einer weiteren Woche ging es bergauf. Ich roch jetzt (schwach) verschiedene Wurstsorten (leider immer noch keinen Käse), Wein (beim üblichen Glasbeschnuppern, mit deutlichen Prickeleffekt), schmeckte Wacholderbeeren (schwach), Muskat (schwach), Pfeffer (schwach). Und dann kam mein „Listerine“ urplötzlich mit aller Macht zurück. Am Vorabend hatte es noch nach nichts geschmeckt und gerochen. Ich war hocherfreut.

Petersilie war als erstes Kraut wieder am Geruch und Geschmack erkennbar, dicht gefolgt von Zitronenmelisse und Zitronenverbene. Rosmarin, Thymian und Salbei brauchten deutlich länger. Inzwischen kann ich sie alle wieder unterscheiden, habe aber den Eindruck, dass ich nur über einen kleinen Teil meiner normalen Wahrnehmungskraft verfüge. Auch Korianderkörner und mein arabisches Kaffeegewürz duften wieder. Der schlimmste Gestank braucht komischerweise am längsten: Katzenklo! Extrem dezent im Vergleich zu sonst, aber egal. Überhaupt wieder riechen und schmecken zu können, fühlt sich an, als wäre ich nach einer unfreiwilliger Verbannung wieder nach Hause gekommen.

Herbst (Thomas Millot/unsplash)

Schlimm war der Abend, an dem ich einen Topf mit Waschpulver für die Maskendesinfektion aufsetzte und dann in ein anderes Zimmer ging. Ohne meine Nase merkte ich erst, dass er komplett leer gekocht war, als die Sicherung herausflog. Nur gut, dass keine Masken drin waren und die Küche nicht in Brand geriet. Der Topf war völlig schwarz verfärbt und konnte nur mit einer halben Flasche Stahlfix und viel Armarbeit wieder in den Normalzustand zurückversetzt werden, beinahe hätte ich ihn weggeworfen.

Schmecken kann ich inzwischen wieder gut. Beim Geruch muss ich zeitweise noch auf meine gut trainierte und immer sehr bewusste Wahrnehmung vertrauen. Anfang der Woche hatten wir (Probe aufs Exempel) Sauerkraut und Kassler, und der intensive Geruch hing zu meiner Erleichterung auch am nächsten Tag noch klar in der Luft. Vorgestern Curry. Auch mit normalem „Geruchsecho“. Das tolle Duschgel meines Mannes kann ich immer noch nicht riechen. Auch seine Niveacreme nicht. Und obwohl alle Gerüche schnell verfliegen, bin ich froh, dass sie zumindest kurz wieder da sind: „Frühstück“, „Küche“, „Wohnzimmer“, Efeu- und Perückenstrauch. Teich und Brünnchen „stinken“ wieder, nur schwächer, aber das finde ich nicht so schlimm (normalerweise muss ich mir die Hände zigmal waschen, um den Gestank loszuwerden). Auch die Kräuter sind auf einem guten Weg. Thymian und Rosmarin (meine Lieblinge) erkenne ich klar und deutlich.

„Phantomgerüche“ (halluzinatorische Wahrnehmung) oder „Fehlgerüche“ bemerke ich nicht, habe nur ein paarmal im Haus und im Garten plötzlich Rauch, Räucherstäbchen oder Lack „gerochen“, obwohl keine Quelle dafür auszumachen war. Hoffentlich verschont mich die Parosmie (Geruchsstörung), vor allem die eklige Kakosmie (Gerüche werden fälschlicherweise als unangenehm wahrgenommen), von der ich inzwischen einiges gelesen habe. Da riecht Toast plötzlich wie Jauche und Seife wie Schweißfüße. Oder die ganze Welt stinkt tagelang nach Urin. Aber es gibt ja auch die Euosmie (Gerüche werden fälschlicherweise als angenehm empfunden), dann duftet das Katzenklo vielleicht nach Maiglöckchen. Oder der Teich nach Rosen.

Meine Welt wird mit jedem Tag wärmer und heimeliger. Gestern habe ich Plätzchen gebacken. Der ultimative Test, denn ich gehe beim Backen immer nur „der Nase nach“, was Backzeit und Temperatur betrifft, egal was im Rezept steht. Das erste Blech braucht manchmal nur 12 Minuten, das nächste vielleicht 15. Es lief recht gut. Der „Plätzchen sind fertig!“-Duft ist eindeutig wieder da. Die „Meldung“ kommt ganz plötzlich, und dann muss ich das Gebäck sofort aus dem Ofen holen. Ich backe nie mehrere Bleche auf einmal, weil meine Cookies dann nicht „perfekt“ werden. Dauert zwar länger und man muss daneben sitzen, aber das ist es wert.

Eins habe ich mir fest vorgenommen: Ich werde nie mehr über meine feine Nase klagen. Ohne sie bin ich nicht ich selbst. Ob der „Infekt“ Covid war? Wenn ja, hatte ich offenbar ein Riesenglück. Wenn ich wüsste, wo man hier den Antikörpertest machen kann, würde ich ihn machen. Bestimmt käme ich dann entspannter durch Lockdowns und Winter. Gegen Grippe bin ich inzwischen wie immer geimpft, und die Covid-Impfung werde ich mir sofort holen, wenn es die Möglichkeit dazu gibt. Übrigens ist der neu entdeckte subtile Alkohol-Detektor immer noch da, was ich durchaus als Bereicherung empfinde.

Veröffentlicht unter Corona, Herbst, Hochsensibel | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Sankt Martin reitet heute nicht

„St. Martin“ ( Ulla Genzel )

Ohne „Corona“ wäre heute St. Martin und „Kölner Jeckentag“. In meiner Kindheit war  das Martinsfest einer meiner Lieblingstage. Schon frühmorgens war ich aufgeregt und konnte es kaum aushalten, bis wir uns gegen fünf endlich „im Dorf“ (Dunkerhofstraße) versammelten und mit unseren bunten Laternen los zogen. Immer mit der Angst, es könnte zu regnen anfangen oder der Wind könnte die Kerzenflamme so umlenken, dass die „Lööt“ aus Papier zu brennen anfing. Wir sangen inbrünstig zum Klang der Blaskapelle unsere plattdeutschen und hochdeutschen Lieder und folgten St. Martin auf seinem mächtigen, schnaubenden Schimmel.

St. Martin (planet_fox/pixabay)

Flankiert von zwei römischen Soldaten ritt er langsam durch die Straßen. Bis zu unserer Schule, wo auf dem weiten Feld das große Martinsfeuer in den Himmel loderte und der frierende Bettler seine Kreise zog. St. Martin schenkte ihm den halben Mantel (warum eigentlich nicht den ganzen?), dann kam das Feuerwerk, und danach liefen wir begeistert in die Schule und bekamen unsere „Bloas“ (Tüte mit Obst und Leckerzeug). Zu Hause gab es „Püfferkes“ und „Mutzemandeln“. Ach, wie lange habe ich keine Püfferkes mehr gegessen! Mit Äpfeln! Und Rosinen! Aber mir fehlt leider das Rezept meiner Mutter.

Laterne, Laterne…. (Bellahu123/pixabay)

Das farbensprühende Feuerwerk war so schön, dass ich als kleines Kind nach der Hand meiner Oma griff und später, als Schulkind, nach der Hand meiner Freundin. Noch später, als Teenager, nach der Hand meines Freundes, und dann, als leidenschaftliche Tante, nach der Hand meiner kleinen Nichte. So etwas Wunderbares kann man nur genießen, wenn man die Hand eines Menschen drückt, den man wirklich lieb hat. Ich bin jahrzehntelang an diesem Tag an den Niederrhein gefahren, um dort „richtig“ den Zug zu genießen.

St. Martin „bemaskt“ (Caniceus/pixabay)

Ähnlich emotional werde ich, wenn ich die Wildgänse oder die Kraniche beobachte, die über unser Haus ziehen (wie gestern!). Dann denke ich an meinen Vater („Kind, komm schnell nach draußen, die Zugvögel sind da!“). Jetzt rufe ich meinen Mann („Jan! Komm schnell runter, die Zugvögel sind da!“) Meistens braucht er zu lange, bis er endlich im Garten ankommt, aber gestern hat er es geschafft. Zum Glück war es nämlich nicht nur ein Zug, es waren gleich drei hintereinander. Ich saß in der Küche, flickte meinen Lieblingspullover, hörte die fernen Rufe und stürzte gemeinsam mit meiner Katze sofort nach draußen. Ich liebe Zugvögel!

Ganz viel Gans (Caniceus/pixabay)

Gänse spielen auch an St. Martin eine Rolle, aber keine schöne. Jedenfalls nicht für die Vögel. Für Fans von Gänsekeulen mit Rotkraut und Klößen schon. Warum haben die dummen Tiere ihn auch durch ihr Geschrei verraten, als er  sich bei ihnen im Stall versteckte, weil man ihn zum Bischof machen wollte! Eigentlich hätte man sie dafür entsprechend belohnen müssen – und nicht aufessen! Als Kind verstand ich diese Logik nicht. Aber wahrscheinlich hat die Martinsgans ganz andere Wurzeln und mit dem Heiligen kaum was zu tun: Am 11.11. wurden nämlich früher die Steuern und Lehnsabgaben fällig, und die wurden oft in Form von Naturalien „gezahlt“. Also auch mit Gänsen.

Herbstwald (Romansolar/pixabay)

Ähnlich schwer tat ich mich bei einem anderen Heiligen, dessen Fest erst wenige Tage zurückliegt: St. Hubertus, der ein erklärter Gegner der Jagd wurde, nachdem ihm ein weißer Hirsch mit einem leuchtenden Kreuz in den Geweihstangen begegnete (Jägermeister!). Daraufhin änderte er sein Leben und wurde erst zum friedlichen Einsiedler und später (wie St. Martin!) widerstrebend zum Bischof. Warum wurde ausgerechnet dieser friedfertige Mann und erste Jagdgegner zum Schutzpatron der Jäger (und der Metzger und Büchsenmacher)? Eigentlich hätte man ihn doch zum Schutzpatron der Waldtiere machen müssen? Ihm zu Ehren fand am 3. November jedenfalls zuerst eine Messe (mit feierlichem Hörnerklang) und dann eine Treibjagd statt, und am Ende lagen die armen Tiere reihenweise tot auf dem Boden. Mein Vater brachte an diesem Tag stets bedauernswerte leblose Wesen mit nach Hause, meist geflügelt oder mit langen weichen Ohren. Ich weigerte mich, sie zu essen. Bis heute rühre ich kein Wild an. Niemals. Gänsebraten habe ich übrigens auch noch nie gegessen.

Kempen (Caniceus/pixabay)

Doch zurück zu St. Martin. Im benachbarten Kempen, einer wahren Martinshochburg und für seine  Lichterumzüge zu Recht berühmt, war alles noch prächtiger. Da zogen (und ziehen!) etwa 2 000 Kinder sogar an mehreren Tagen durch das alte Städtchen mit den schmalen Gassen. Die Besuche dort waren überwältigend. Noch viel mehr Musik, eine schier endlose Prozession von Kindern mit leuchtenden „Fackeln“ (so nennt man am Niederrhein die Laternen). Inzwischen sind allerdings die meisten Fackeln auch in Kempen in Plastik „eingepackt“ und haben eine ungefährliche Beleuchtung und keine echten Kerzen wie in meiner Kindheit. Und zum Schluss gibt es ein Feuerwerk, das direkt aus der Burg in den Himmel steigt und an den Seiten wie flüssige Lava herabströmt. Ich habe eine CD mit unseren Martinsliedern (kann man im Internet beim St-Martin-Verein Kempen erstehen). Ich muss nur aufpassen, dass mir beim Hören nicht die Tränen kommen.

Vielleicht gibt es ja sogar eine Verknüpfung von St. Martin und Halloween, denn früher wurden im Herbst auf dem Land auch Laternen aus ausgehöhlten Rüben umhergetragen.  Und am Ende der Erntesaison wurde ein Feuer auf den Feldern angezündet, zum Dank für die Ernte und als Abschied vom Jahr. Solche Herbstfeuer gibt es auch in Ländern, die mit St. Martin nichts am Hut haben, etwa in England, wo am 5. November im ganzen Land „Bonfires“ angezündet werden und unter lautem Geknalle der „Guy“ verbrannt wird. („A penny for the guy, Miss!“ höre ich meine kleinen Schüler durch die Jahrzehnte rufen.) Das Fest erinnert angeblich an Guy Fawkes, aber die Wurzeln liegen sicher tiefer.

vertrauter Anblick am Niederrhein (Foto Rabe/pixabay)

Am Niederrhein sind die Zugvögel im Herbst und Winter tatsächlich ein Naturschauspiel, denn in „meiner“ Gegend überwintern ungefähr 170 000 Wildvögel, vor allem an den Krickenbecker Seeen, und wenn die eintreffen, ist das schon sehenswert. Mein Vater ließ mich früher oft die Namen der Vogelarten aufsagen: Nilgans, Blässgans (von November bis Februar am Niederrhein), Graugans, Kanadagans, Kurzschnabelgans, Ringelgans, Saatgans, Weißwangengans, Brandgans (knallroter Schnabel, leicht zu erkennen).

Gänseflug (pixabay)

Am Niederrhein brüten sogar Weißstörche, und einige bleiben auch im Winter dort, weil sie auch dann noch genug zu fressen haben. Im Kreis Wesel finden sich im Winter rund 25 000 arktische Gänse ein. Ich war tief beeindruckt, wie nahe wir an die Tiere heran kamen. Wenn man klein ist, kann eine flügelschlagende, zischende oder schreiende Gans ganz schön eindrucksvoll sein. Wir besuchten die Wasservögel jeden Sonntag nach der Messe. Es war ein schönes Ritual, neben meinem Vater am Ufer zu stehen und immer wieder nach seiner großen, warmen Hand zu greifen. Blöd war bei den Gänsen nur, dass ich ewig brauchte, bis ich ihren Namen richtig schreiben konnte. Ich schrieb nach Gehör und verstand nicht, wieso ein Wort mit z gesprochen, aber mit s geschrieben wurde. Noch schlimmer war es nur noch bei Artzt.

St. Martin unbemaskt (Caniceus/pixabay)

Kein Wunder, dass ich jedes Jahr im November sentimental werde. Auch dieses Jahr, obwohl St. Martin gestrichen ist. Fantasievolle und kinderfreundliche Menschen haben sich einige Alternativen ausgedacht: Lichterfenster, Martinsfenster, St. Martin mit Laterne zu Hause im Wohnzimmer oder draußen im Garten. Mal sehen, ob es funktioniert. Ich versuche es jetzt einfach mal mit diesem Beitrag als „virtuelles“ Fenster. Schade, dass es so wenige schöne Fotos von den Laternenzügen gibt, ich versuche jedes Jahr wieder, welche zu machen, aber meine Ausbeute fällt immer mager aus, entweder sind die Lichtverhältnisse grottenschlecht oder die Laternen „verhüllt“. Und weil hier die Kinder nicht „richtig“ laufen. Nicht so wie am Niederrhein.

Wir wohnen neben einer Schule, so dass ich in unmittelbarer Nähe des Martinsfeuers bin, ich höre es im Haus draußen prasseln und krachen, und der Rauch weht meistens genau in unseren Garten. Im vorigen Jahr war das Feuer eine Katastrophe, denn der Hausmeister hatte feuchtes Heu zwischen das Holz gepackt. Der Gestank hing bis zum nächsten Morgen im Flur, aber darüber habe ich im letzten November schon geschrieben. In diesem Jahr gibt es nicht mal ein Feuer, obwohl das Holz schon seit einiger Zeit bereit liegt.

St. Martin (Caniceus/pixabay)

Auch die berühmte Fünfte Jahreszeit wird diesmal nicht gebührend eingeläutet, denn Karneval ist ebenfalls abgesagt. Kein Maskenball, keine Jecken auf den Straßen und in den Bahnen. Stattdessen Alkoholverbot, auch draußen, Feiern untersagt, bei Verstößen wird konsequent eingeschritten. So ruhig wie heute war es hier am 11. 11. noch nie. Für Touristikbranche, Kneipen und Kostümgeschäften eine Katastrophe. Stattdessen gibt es eine Demonstration gegen die Corona-Schutzbestimmungen (seufz) und einen Zeppelin über der Innenstadt mit der Aufschrift „Bliev zohuss“ (gute Idee!). Auf der anderen Seite steht „Bleibt gesund“. Wie heute in Düsseldorf der Hoppeditz erwacht, kann man sich im Internet ansehen. Aber zu Düsseldorf haben wir Kölner ja ein eher gespanntes Verhältnis. Wir haben den Ähzebär, aber der fällt nächstes Jahr auch aus. Ich habe mich lange gefragt, warum ausgerechnet der Elfte im Elften der Auftakt der Narrensaison ist und glaube jetzt, die Antwort zu kennen. Genau wie beim echten Karneval beginnt nämlich direkt nach diesem Tag die Fastenzeit (die vor Weihnachten natürlich), und da muss man sich einfach noch ein letztes Mal aufbäumen und so richtig über die Stränge schlagen und „die Sau rauslassen“.

Remembrance Day (CalvinStuttart/pixabay)

In Großbritannien begeht man übrigens heute den Poppy Day oder Remembrance Day und gedenkt der Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Das habe ich nach meinem Leben in England an diesem Tag auch noch im Hinterkopf. Ich besitze sogar eine kleine Mohnblume, wie man sie sich dort an diesem Tag ansteckt.

So viele Gedanken und Gefühle an einem einzigen Tag. Übrigens sind viele der Fotos zu diesem Beitrag von einem Fotografen aus Kempen, den ich heute bei pixabay entdeckt habe.

Veröffentlicht unter Corona, Köln, Niederrhein | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Kölner Stämme – Die Piraten (2)

Piratenschiff? (JACLOU-DL/pixabay)

Mitunter kann Schreiben ein erstaunlich abenteuerliches Unterfangen sein, denn es können dabei merkwürdige Dinge passieren. Sogar kleine Wunder. So fand ich durch meinen ersten Roman den längst verloren geglaubten kleinen Friedhofsengel meiner Kindheit wieder, durch ein anderes Buch landete ich unerwartet im „Kölner Treff“ und bekam sogar eine wunderbare seelenverwandte Bärenschwester. Doch meistens habe ich natürlich keine Ahnung, wo meine Buchkinder und Geschichten hinfliegen und landen. Schon gar nicht, wenn die Texte nur im Internet erscheinen. Hier auf meiner Seite fabuliere ich daher also mehr oder weniger ins Blaue hinein und freue mich, wenn zufällig jemand meine Gedanken findet und meine Bilder anschaut. Normalerweise habe ich keine Ahnung, wer diese Personen sind, sie hinterlassen nämlich keine für mich sichtbaren Spuren, es sei denn, sie nehmen mit mir Kontakt auf. So wie nach meinen Beitrag über die Kölner Stämme.

Pirat Wolf Pinfeather (BFL)

Höchstwahrscheinlich wäre es wohl bei dem ersten allgemeinen Beitrag geblieben, wenn mir nicht ein kühnes Mitglied der „Löstige Gladiatore“ eine freundliche Mail geschickt hätte, die mich zum Recherchieren und Weiterschreiben beflügelte. Jetzt hatte ich einen Ansprechpartner, der mir auch bei kniffligen Fragen und Zuordnungen weiterhelfen konnte. Über viel Hintergrundwissen, was die Kölner Stämme betrifft, verfüge ich leider (noch) nicht, denn bei den Stämmelagern war ich vor allem als Fotografin unterwegs und nicht als Reporterin oder Schriftstellerin. Aber ich lerne gern dazu, und besonders schön ist es, wenn ich weiß, dass meine Texte anderen Freude machen und tatsächlich gelesen werden.

Käpt’n Kalli (BFL)

Auf Seemann, Tod und Teufel!

Die „Santa Colonia“ (BFL)

Nach meinem Mailwechsel mit dem kampferprobten Gladiator beschloß ich aus literarischen Gründen (R.L. Stevenson, über den ich unbedingt irgendwann schreiben muss, denn ich war schon drei Mal im „Lady Stairs House“, dem Schriftstellermuseum in Edinburgh!), mit den Piraten anzufangen. Und zu meiner großen Verblüffung wurde auch dieser Beitrag in Windeseile erspäht, allerdings diesmal von messerscharfen stahlblauen Piratenaugen. Und jetzt kenne ich bloß durch mein Schreiben nicht nur einen veritablen Gladiator, sondern auch einen gefährlichen Seeräuber!

Leider teilte mir der Pirat in einer zweiten Nachricht mit, dass Käpt’n Kalli, der erfahrene, mit allen Wassern der Sieben Meere gewaschene Seebär und stolze Kapitän der Dreimastbark „Santa Colonia“, am Montag dieser Woche seine letzte Fahrt angetreten hat. Genau einen Tag, nachdem ich meinen Beitrag geschrieben hatte. Ein trauriger Zufall. Der heutige Beitrag ist daher auch ein kleiner Nachruf auf einen wohl ganz besonderen Piraten und Menschen. Möge seine Überfahrt sanft sein! Seine wilde Crew schaut ihm wehmütig nach und verabschiedet sich auf ihre Weise: „Auf Seemann, Tod und Teufel!“  „Fair winds, Captain!“ „Komm gut über die Brücke!“ Vergessen werden sie ihn sicher nie, und bestimmt wird er weiterhin an ihrer Seite bleiben, wenn sie fluchend die Sieben Meere unsicher machen. Auf Seemann, Tod und Teufel!

Pirat Jack Sperrholz (BFL)

Inzwischen weiß ich schon einiges mehr über die „Original 1. Kölner Piraten von 1968 k.e.V.“ (ein fürwahr langer Name, und die Abkürzung steht für „kein eingetragener Verein“). Überhaupt zeichnet sich die Crew durch einen typisch kölschen Humor aus.“Der Verein“ wurde vor nunmehr 52 Jahren von Karl-Heinz Hansmann gegründet, jenem Mann, der später unter dem Piratennamen Käpt’n Kalli berühmt wurde und zuerst ganz allein unterwegs war, aber schon bald eine immer größer werdende wilde Horde anführte. Bis letzten Montag. Ich bedauere sehr, dass ich mich bei den Stämmelagern nicht näher an ihn herangetraut habe, aber die Piraten sahen einfach zu unheimlich aus!

Käpt’n Kalli (BFL)

Vor drei Tagen nahm ich schließlich allen Mut zusammen und enterte heimlich bei Nacht und Nebel die „Homepage“ und schaute mir auch gleich die Gesichtsbucheinträge der Piraten an. Zum Glück hat mich dabei keiner erwischt, auch der Steuermann nicht, er war anderweitig beschäftigt. Ich sah mich in Ruhe um und fand mich schon bald in der wilden Seeräuberwelt einigermaßen zurecht. Einiges habe ich kurzerhand mitgehen lassen („requiriert“ würden die Piraten wohl sagen) und ungefragt für diesen Beitrag verwendet (darauf steht sicher normalerweise eine empfindliche Strafe, mindestens „Prozessanhals“), aber ich schätze, dass die Seeräuber mir das ausnahmsweise nicht übel nehmen, denn ich habe es schließlich nur „ausgeliehen“, um ihren Ruhm zu mehren und ihren Käpt’n zu ehren.

Pirat Schwarzbart (BFL)

Jedenfalls kenne ich jetzt die Namen der momentanen „Santa Colonia“-Crew und kann einige Personen auf meinen Fotos sicher identifizieren. (Offenbar war ich bereits bei vier Stämmelagern!) Ich finde nicht nur Käpt’n Kalli, sondern auch Jack Sperrholz, Turners Frank, Smutje Jean Lafitte, Navigator Schwarzbart („Hält den Kurs. Manchmal.“) und Havanna Charly. Bei den Piratenbräuten bin ich mir nicht sicher. Sind das jetzt Mary Reed und Coco Batida? Oder Jamaica Ann und Tina Osborn? Oder gar Käptn’s Chef? Der imposanten Charlotte de Berry bin ich bisher offenbar noch nicht persönlich begegnet. Auch den 1. Offizier James Blood („Hält die Fäden in der Hand. Und die Neunschwänzige.“) finde ich nicht auf den Bildern, aber vielleicht fehlt mir da der messerscharfe Piratenblick. Ich habe dummerweise ein kurzsichtiges und ein weitsichtiges Auge und sehe dadurch alles irgendwie schräg. Sogar Piratengesichter.

Piratenversammlung (BFL)

Havanna Charly (BFL)

Meinen kühn erbeuteten Quellen zufolge ist der Pirat Calico Jack ein „Grielächer“, also ein Spötter (typisch kölsches Wort), was immer das bei einem Piraten bedeuten mag. Ein wenig spöttisch sieht er schon aus (Sie finden sein Bild im vorigen Beitrag, da habe ich die Bildtitel inzwischen aktualisiert). Havanna Charly hatte ich aufgrund seiner wuchtigen Präsenz zunächst fälschlich für einen weiteren Käpt’n der Crew gehalten, sah meinen Irrtum aber rasch ein. Laut Aussage seines furchteinflößenden Crewmitglieds (meiner streng geheimen stahlblauäugigen Zusatzquelle) ist er aber nur „ein ganz normaler Pirat“, allerdings mit einer Schwäche fürs Modeln, denn sein markantes Konterfei ziert weltweit zahllose Fahndungsplakate. Eins davon habe ich sogar abgelichtet, weiß aber nicht mehr, in welchem Jahr. Kann es sein, dass er mir darauf die Zunge herausstreckt, oder ist das bloß wieder mein schräger Blick?

Ex-Crew-Mitglied (BFL)

Einige Piraten, die ich damals aufs Bild gebannt habe, gehören inzwischen leider nicht mehr zur Crew und bleiben daher namenlos. Seinen Piratennamen sucht man sich (normalerweise) selbst aus, erfahre ich von meinem seeräuberischen Geheimkontakt. Wie ich sehe, gibt es an Bord sogar einen kühnen Kölner Robert Surcouf. Aber auch mit Henry Goldfinger, Joshua Flint, dem Logbuchverwalter (er hat so schlimme Augen wie Mad Eye Moody), Le Doc („Rauchende Hand. Schmerzfrei.“), Bloody Hands und Barfossa ist sicher nicht zu spaßen. Allesamt zum Fürchten und sicher grenzenlos grausam! Auf einem Seitendeck der frisch gestrichenen „Homepage“ fand ich (gut getarnt) erschreckende Fotos von Piratentaufen, die echt furchtbar zu sein scheinen, weil man dabei kübelweise (bestimmt eisekaltes!) Wasser ins Gesicht geschüttet bekommt und gnadenlos gezwungen wird, eklig aussehende trübe Flüssigkeiten zu schlucken und gräßliches Zeug zu kauen (wahrscheinlich ranzig und übel stinkend), während man unbequem mit Händen und Hals im „Joch“ steckt und sich nicht regen kann. Ich kann nur hoffen, dass die Knöchel des neuen Piraten dabei nicht auch noch im „Stock“ hängen.

Piratenkopf (BFL)

Auf einem echten Piratenschiff darf natürlich auch ein Klabautermann nicht fehlen. Den hört man normalerweise nur. Er warnt den Kapitän vor Gefahren, und „wenn er klopft, bleibt er, wenn er hobelt, geht er.“ Man sollte es sich also mit ihm besser nicht verscherzen. Angeblich sieht er aus wie ein Matrose mit Hammer und Pfeife, manchmal auch mit Seemannskiste, roten Haaren und grünen Zähnen. Wenn er sich zeigt, ist das ein schlechtes Zeichen. Er verlässt das Schiff erst, wenn es untergeht.  Das erinnert mich an mein maritimes Kinderbuch, das noch unfertig in meiner Schublade liegt. Darin kommt nämlich auch ein Klabautermann vor. Er heißt „der Chintz“, und das Ganze spielt in Lübeck, einer meiner Lieblingsstädte. Vielleicht setz ich mich diesen Winter doch noch mal dran und baue gleich auch noch ein paar von den Piraten ein. Zeit genug hab ich ja dank Lockdown und so.

Ex-Crew-Mitglied (BFL)

Auf dem waffenstrotzenden Piratenseitendeck kann man zwischen Schatztruhen, glänzenden Piasterhaufen, trockenem Schiffszwieback (mit Maden drin, also vor dem Essen ordentlich schütteln oder abklopfen oder besser nur im Dunkeln verzehren), diversen Sanduhren, Schiffsglocken und gut gefüllten Rum- und Wasserfässern einiges über das Leben und Wirken der Piraten im 17. und 18. Jahrhundert erfahren. Unter anderem entdeckt man Navigationsinstrumente wie Kamal, Jacobsstab, Quadrant, Traversboard oder Backstaff. Noch nie was von gehört, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Na ja, Quadrant schon, aber was genau das ist, wußte ich trotzdem nicht, hab ja damals auch das Piratenbuch nicht übersetzen dürfen. Auch Astrolabium und Nocturlabium waren mir unbekannt und klangen eher wie irgendwas aus „Harry Potter“, aber dafür kannte ich den Trepanationsbohrer, den Mundknebel, die Amputationssäge und „die Neunschwänzige“ (die gefürchtete Katze im roten Sack, mit der Matrosen gezüchtigt werden. An den Wunden kann man sogar sterben!). Dass Piraten ihren Zopf zu teeren pflegten, wußte ich auch noch nicht. Klingt echt schmierig.

„Die Oma im Käfig“ (BFL)

In einer äußerst schlecht beleuchteten Ecke (achtern) entdeckte ich eine staubige Flaschenpost mit Informationen über das bleiche Gerippe im Käfig (genannt „die Oma“), das (oder die) grausam verstümmelt wurde, weil feindliche Piraten versucht hatten, es (oder sie) zu entführen, ihm (oder ihr) dabei aber nur etliche Knochen brachen. (Gendergerechte Sprache muss heute leider sein, auch bei Beiträgen über Piraten.)

Dass die furchteinflößenden Seeräuber hier jedes Jahr traditionell den berühmten Rosenmontagszug als Vorgruppe anführen, hätte ich als Kölnerin eigentlich wissen müssen (jetzt weiß ich es für alle Zeiten). Auch hätte ich mir denken können, dass sie originalgetreu gewandet und bis an die Zähne bewaffnet (nebst Entermesser, Säbel, Vorderlader, Schwarzpulver und sogar Kanone) nichts lieber tun als  Stadt-, Hafen- und Hansefeste unsicher zu machen.

„Santa Colonia“ (BFL)

Man kann sie sogar privat anheuern und sich selbst und/oder seine Gäste (und Gästinnen!) in Angst und Schrecken versetzen. Wer über genug Nervenstärke verfügt, kann sich dabei auch demonstrieren lassen, wie man früher Zahnbehandlungen durchzuführen pflegte (oder vielmehr erlitt). Natürlich ohne Narkose. Die Zähne zog der Barbier. Besonders gut war der sicher nicht. Daran mag ich nicht mal denken, mir graut ja schon vor hochmodernen sterilen Zahnbehandlungen. Mit Narkose. Einen eigenen Song mit Video (googeln Sie mal „Schäng. Piratenpolonäse“, zu finden bei YouTube) haben die Piraten auch, da kann man sie alle in voller Aktion sehen. Aber aus Sicherheitsgründen nur heimlich gucken, damit nichts passiert! (Sie wissen schon: Prozessanhals! Mindestens!) Mit diesen Kölner Piraten ist nicht zu spaßen!

Schatzkarte (MasterTux/pixabay)

Veröffentlicht unter Köln | Verschlagwortet mit , , , , , , , , , | Schreib einen Kommentar