Herbst – anders als erwartet

Mit Wehmut denke ich an den Beitrag „Oktoberland mit allen Sinnen“ zurück, den ich im vorigen Jahr über meinen Lieblingsmonat geschrieben habe. Wie wunderbar der Herbst sonst immer schmeckt und duftet! All die intensiven Momente, vor allem draußen. Und ich freue mich jedes Mal aufs Neue auf den besonderen, typischen Geruch beim Aushöhlen der Halloween-Kürbisse. Doch diesmal war alles anders. Ich konnte den bunten, leuchtenden Oktober weder riechen noch schmecken, was mich in ziemliche Unruhe versetzte. Immerhin grassiert gerade eine Pandemie, zu deren Leitsymptomen Geschmacks- und Geruchsverlust gehören.

Es fing an wie bei vielen Infekten, ich fühlte mich abgeschlagen und müde. Die Nase war verstopft, Kopf und Gelenke schmerzten, ich konnte mich nicht konzentrieren, mein Puls war zu schnell, und ich geriet bei den kleinsten Anstrengungen ins Schwitzen. Ich lag auf dem Sofa, lenkte mich mit TV-Serien ab und hoffte inständig, dass der Infekt nicht Covid war und bitte nicht richtig schlimm werden würde. Was anders war als sonst: Ich konnte nichts mehr riechen und schmecken. Ich ging nicht mehr vor die Tür. Mein Mann fühlte sich auch nicht wohl, und wir nahmen mehrmals am Tag hochdosiert Vitamin C (Pulver in Brausetablette aufgelöst). Woher kam der Infekt? Ich bin extrem vorsichtig, verlasse das Haus nur selten, trage dabei immer Maske, wasche mir dauernd die Hände. Vielleicht über die Augen? Oder hatte mein Mann das mitgebracht?

Die Corona-Warn-App zeigt mir zwar nach jedem meiner „Ausflüge“ mehrere Risikomeldungen (meistens 4), aber immer nur grüne mit niedrigem Risiko. Wenn man bedenkt, wie wenige Menschen die App überhaupt installiert haben, ist das eigentlich erschreckend viel. Zum Glück hatte ich weder Fieber noch Husten und Atemnot. Doch mein Schlaf war flach und voller (Corona-)Alpträume. Selten hat mich ein Infekt derart in Unruhe versetzt.

Nach einigen Tagen ging es uns wieder besser, doch meine Welt blieb geruch- und geschmacklos, und der Oktober war für mich gelaufen. Nicht mal, dass einer der beiden Kürbisse faul war, habe ich gerochen, dabei stinkt das widerlich. Normalerweise bin ich ja ein wandelnder Lebensmittelverfallsdetektor und olfaktorischer Warnmelder („Hier stimmt was nicht! Das riecht komisch! Irgendwie anders!“), und plötzlich nahm ich nichts mehr wahr. Nicht mal (die absolute Härte!) das frisch benutzte Katzenklo, das ich normalerweise über zwei Etagen wittere. Es stank todsicher genau wie immer, doch meine Nase signalisierte nichts. Die inneren Alarmglocken schrillten, während ich versuchte, mich zu beruhigen. Vielleicht ist das ja bei jedem Schnupfen so und mir bloß bisher nie aufgefallen? Ich habe darauf noch nie vorher geachtet.

Oft genug habe ich mir im Laufe meines Lebens mitten in all den Geruchswirbeln und Reizbombardements gewünscht, zur Abwechslung mal keine hochsensible Nase zu haben, und mich gefragt, wie sich Anosmie (Geruchsverlust) wohl anfühlen könnte. Jetzt weiß ich es! Gruselig! Manchmal habe ich mir auch gedacht, dass ich ganz gut auf einige meiner extremen, intensiven Geruchswahrnehmungen verzichten könnte, weil es einfach so viele sind, weil einige stundenlang nachhallen („Nasenwürmer“), wenn der Reiz längst verflogen ist (Essig, Katzenklo, Schweiß, Jauche, Zigarettenrauch, Katermarkierung, faules Wasser, Abfluss, Mülltonne). Aber ich habe nicht geahnt,  wie verloren und orientierungslos ich mich ohne meine vertrauten sinnlichen „Wegweiser“ fühlen würde. Unsicher. Traurig. Ungeduldig. Gereizt. Panisch. Wie lange dauert das noch? Ob das jetzt so bleibt? Jetzt weiß ich, wie wichtig mein Geruchsinn für mich ist. Die Welt um mich herum war kalt, flach und steril, irgendwie leerer – und machte mir noch mehr Angst als ohnehin schon.

Dass ich nicht mehr schmecken konnte, war nicht ganz so schlimm, es nahm mir allerdings den Genuss und die Freude am Essen. Ich esse wirklich gern, liebe die Kombination aus Duft und Geschmack von Speisen, Gewürzen und Kräutern. Als meine Nase wieder „frei“ war, ging ich zum Gewürzschrank und „probierte Schmecken“. Es war erschreckend. Nur bei Salz spürte ich was. Ausgerechnet! Salz mag ich nicht. Ich reagiere darauf empfindlich, schnell sind Gerichte für mich versalzen, die für andere normal oder gar laff schmecken. Die Salzempfindung war noch da, ein eindeutiger Reiz auf der Zunge. Ich nahm mir fest vor, nie mehr über versalzene Speisen zu schimpfen….

In den folgenden Tagen und Wochen versuchte ich das Schmecken immer wieder, vor allem mit meinen Lieblingsgewürzen. Ich erkannte die Pfeffersorten nicht mehr (sonst sind sie alle unterschiedlich: leicht brennend, warm, nussig, frisch, zitronig, scharf oder holzig-bitter), spürte aber stattdessen die unterschiedlichen Texturen deutlicher. Als hätte sich eine zusätzliche Instanz eingeschaltet, um mir zu helfen. Zucker schmeckte nach nichts, selbst extrem Saures konnte ich nicht mehr erkennen. Den Vitamin-C-Drink, bei dem ich mich normalerweise angewidert schüttle, kippte ich ungerührt in mich hinein. Beim Essen fühlte sich einiges im Mund kühl, weich oder prickelnd an, auf der Zunge gab es also offenbar noch Empfindungen, doch ich konnte sie nur einordnen, weil ich wußte, wie es normalerweise schmecken würde.

Als Mensch mit einer „Jagdhundnase“ macht man offenbar (unbewusst) recht merkwürdige Dinge. Mir fiel auf, dass ich an (fast) allem, was ich esse, berühre oder anziehe, vorher rieche. In meinem Buch über Hochsensibilität habe ich dem Geruchssinn nicht von ungefähr das längste Kapitel gewidmet, denn er ist eindeutig mein „nervigster“ Sinn. Jetzt ertappte ich mich bei „sinnlosen“ (ritualisierten?) Witterungsaktionen, beobachtete, wie ich die Nase in meinen (geruchlosen) Pullover drückte, die (geruchlose) Milchpackung beschnupperte, das (geruchlose) Katzenfutter, den (geruchlosen) Käse. NICHTS. Ich roch weder angebranntes noch duftendes Essen, nicht mal Bacon oder Sauerkraut (hängt normalerweise tagelang deutlich wahrnehmbar in der Luft), keinen Kaffee, keinen Herbstgarten, kein nasses Laub. Keinen Heizungskeller, keine Waschküche, kein Auto, keine Straße, keine Regenluft. Alles war „neutral“ und irgendwie kalt. Auch die Vorratskammer und das Gewürzschränkchen waren steril. Mülleimer, Biomüll und Abfluss müffelten nicht mehr. Ich roch draußen kein fauliges Wasser im Übertopf, kein Brünnchen- oder Teichwasser, kein Efeulaub, keine Perückenstrauchblätter (beides sehr angenehm), und drinnen kein „altes“ Wasser in der Vase, keinen Zitronenschimmel, keinen alternden Apfel, keine Tomate, keinen meiner vielen Bastelkleber. Kein Holz, keine Kürbissuppe, kein frisches Brot, kein Papier, keine Zeitung, keine Bücher, keine karamellige Créme brûlée-Kruste.

Von feineren Düften wie Katzenfell ganz zu schweigen. (Ich konnte meine Katzen immer am Geruch ihres Fells unterscheiden, selbst ihre Pfoten rochen individuell. Feuchtes Katzenwelpenfell riecht übrigens wie nasse Wolle.) Hundefell hätte ich wahrscheinlich auch nicht mehr wahrgenommen (als Kind wurde mir regelmäßig schlecht, wenn unser Hund aus dem Regen ins Haus kam). Ich roch auch nicht mehr, ob der DHL-Mann im Auto geraucht hatte (normalerweise am Päckchen klar zu erschnüffeln) oder ob die Verpackung im Keller gelagert worden war (unangenehm, nicht wegzukriegen). Ich rieche bei offener Tür zum Garten auch gleich, wenn nebenan der Großvater zu Besuch kommt, denn er raucht Pfeife.

Meine Handcremes und Duschgels (ich habe mehrere, je nach Stimmung) rochen nach NICHTS. Genau wie die verschiedenen Seifen, Spül- und Putzmittel. Ich versuchte es mit schweren Kalibern: Salbe aus Indischem Weihrauch und Isopropylalkohol. Keine Reaktion. Oh Gott, nichts mehr, das mich warnt, wenn ich verfallene, giftige, gefährliche Substanzen in die Nähe meines Gesichts bringe, berühre oder zu mir nehme? Und was ist mit Brandgeruch oder Gas? Gasgeruch versetzt mich immer in Panik, zum Glück haben wir keins hier im Haus. Chlor? Das nimmt man doch sicher mit verschiedenen Sinnen wahr? Ich rieche es in englischen Häusern überdeutlich (wegen des gechlorten Wassers), und im Schwimmbad brennen und stechen mir davon ganz schlimm die Augen. Aber Chlorreiniger war nicht zur Hand, weil ich ihn hassbedingt längst aus dem Haus verbannt habe. Feuchte Wände? (Hoffentlich nicht!) Die meisten Rohrbrüche hier im Haus habe ich gerochen. Und wenn es jetzt irgendwo brennt? (Hoffentlich nicht!). Zwei wichtige Teile meiner hochsensiblen Alarmanlage waren ausgefallen! Auch mich selbst nahm ich nicht mehr wahr. Ich hätte wie ein Stinktier durch die Gegend laufen können und nichts davon gemerkt!

Zu meinem Erstaunen (das einzig Interessante an dem unfreiwilligen „Experiment“) entdeckte ich in der geruchlosen Welt gleich zu Anfang einen Sensor, den ich vorher noch nie bemerkt hatte. Ich spürte nämlich in all der Wahrnehmungsleere ein feines Prickeln oder Kribbeln in der Nase, wenn ich an Produkten zu riechen versuchte, die möglicherweise einen gemeinsamen Bestandteil enthielten. Sowohl Flüssigseife, Shampoos als auch Duschgels „prickelten“ subtil in der Nase. Der Reiz erinnert mich an die Empfindung, die ich beim Schnuppern an Wein oder Bier habe. War das vielleicht ein geheimer Detektor für Alkohol? Ich schaute mir mit der Lupe (winzige Schrift!) die Inhaltsstoffliste an. Alkohol gehört zu meinen Problemsubstanzen, mir entgeht kein Tröpfchen davon im Essen, gleich bekomme ich einen „Flush“, doch auf der Haut tut er mir nichts. Jetzt entdeckte ich ihn tatsächlich in Produkten, in denen ich ihn nie vermutet hätte. Gibt es möglicherweise einen eigenen Sensor für Alkohol, den man unter all den dominanten Geruchs- und Geschmacksreizen, die dauernd auf einen einprasseln, nicht bemerkt? Das wäre immerhin noch ein zuverlässiges Warnsignal!

Normalerweise erkenne ich vertraute Orte, Räume und Menschen an ihrem individuellen Geruch und identifiziere alle mir bekannten Duftwässer sofort. Noch vor kurzem habe ich damit eine Bekannte beeindruckt. Es umwehte sie eine Wolke, die mich gleich zweifach in die Siebziger Jahre versetzte. Eau de Lancôme! Studentinnenheim in Köln! Das Haus in England! Diesen Duft benutzten damals zwei meiner Freundinnen, was mich immer stark irritierte, denn sie waren ansonsten völlig unterschiedlich. Lang her, aber klar und unverwechselbar gespeichert, gleich mit zwei Zeiten, Orten und Personen. Gerüche, Düfte und Erinnerungen sind bei mir so eng verknüpft, dass ich sie oft bewusst und gern als „Schreibtrigger“ benutze (etwa Jasmintee, Käsekuchen oder heiße Schokolade). Wenn ich einen Kaninchenstall rieche (Wiesenheu, trockenes Stroh, Kaninchen), fange ich an zu weinen. Ich kann nicht anders. Der Geruch versetzt mich so intensiv in meine Kindheit und zu meinen Kaninchen, dass ich emotional völlig fertig bin. Aber auf eine gute Art.

Ich merkte, dass ich ohne meine übliche „Smellscape“ (Geruchslandschaft) immer mehr die Orientierung verlor, und versuchte gegenzusteuern. Das Essen schmeckte zwar neutral, aber die Erinnerung half. Ich wusste ja genau, wie alles riechen und schmecken sollte, stellte mir beim Kauen und Schlucken den Geschmack vor und achtete zum Trost noch mehr als sonst auf die Textur und Temperatur der Nahrungsmittel in meinem Mund. Die glatte Haut der Paprika, ihr weiches Fleisch, die raue Kruste der Bratkartoffeln, das kühle Prickeln des Mineralwassers, das warme, weiche Teewasser, die cremige Sahne, der dicke griechische Joghurt.

Dass ich nicht mal mehr meine Mundspülung („Listerine Cool Mint“) schmecken konnte, erstaunte mich. Das Zeug riecht und schmeckt normalerweise extrem stark (nicht besonders angenehm). Den Geschmack und Geruch habe ich stundenlang in Mund und Nase, aber meine Zahnärztin schwört drauf und es ist eindeutig gut für mein Zahnfleisch. Und jetzt? Nur ein schwacher „Luftwechsel“ im Mund und die erstaunte Erinnerung daran, wie intensiv es eigentlich schmecken müsste. Immer wieder der Gedanke: Hoffentlich erholen sich meine Sinne schnell wieder! Im Internet las ich, dass es Monate dauern kann, wenn Covid das Riechzentrum erwischt. Und schlimmstenfalls sogar bleibt. Aber vielleicht war das ja nicht Corona, sondern irgendwas anderes.

Ich machte weiterhin mehrmals am Tag mein Schmeck- und Riechtraining in Bad und Küche, am Gewürzschrank, im Keller, draußen bei den Kräutern. Bei Kümmel gab es die erste kleine Reaktion, vorn auf der Zunge. Alles andere schmeckte und roch weiter neutral. Wacholderbeeren, Koriander, Muskat, Vanille, Zimt, Gewürznelken, Schwarzbrot, Toast, Orangen, Tomaten, Äpfel – alles gleich. Aber ich konnte es leicht an der Textur unterscheiden. Dann die erste richtige „Sensation“, gleich beim ersten Versuch. Szechuan Pfeffer! Warum war mir der nicht schon früher eingefallen (über die extreme Prickelwirkung und meine Abneigung gegen dieses Gewürz habe ich hier vor einiger Zeit schon geschrieben). Ich war glücklich und gönnte mir das Kribbeln gleich mehrmals. Die Zungenspitze prickelte so wild, als hätte ich sie in Brausepulver getaucht. Allerdings wurde diesmal meine Mundschleimhaut danach nicht taub. Erst nach mehr als zwei Wochen hatte ich den Eindruck, wieder mehr schmecken zu können.

Frische Kräuter (Rosmarin, Thymian, Koriander, Petersilie, Salbei, Minze, Basilikum, Zitronenmelisse, Zitronenverbene) schmeckten und rochen weiter neutral. Leider auch meine Eau de Toilette-Sammlung (auch hier wähle ich den Duft normalerweise je nach Tagesstimmung). Ich probierte meine Lieblingsdüfte geduldig immer wieder aus. Jeden Tag nebelte ich mich mehrfach ein, und die Zimmer auch, allerdings mit einem anderen Duft. Das erste, was ich identifizieren konnte, war „Drakkar Noir“. Dann erkannte ich (entfernt) „Cool Water“. Beide sind sehr intensiv, verflogen allerdings im Gegensatz zu sonst schnell wieder.

Nach einer weiteren Woche ging es bergauf. Ich roch jetzt (schwach) verschiedene Wurstsorten (leider immer noch keinen Käse), Wein (beim üblichen Glasbeschnuppern, mit deutlichen Prickeleffekt), schmeckte Wacholderbeeren (schwach), Muskat (schwach), Pfeffer (schwach). Und dann kam mein „Listerine“ urplötzlich mit aller Macht zurück. Am Vorabend hatte es noch nach nichts geschmeckt und gerochen. Ich war hocherfreut.

Petersilie war als erstes Kraut wieder am Geruch und Geschmack erkennbar, dicht gefolgt von Zitronenmelisse und Zitronenverbene. Rosmarin, Thymian und Salbei brauchten deutlich länger. Inzwischen kann ich sie alle wieder unterscheiden, habe aber den Eindruck, dass ich nur über einen kleinen Teil meiner normalen Wahrnehmungskraft verfüge. Auch Korianderkörner und mein arabisches Kaffeegewürz duften wieder. Der schlimmste Gestank braucht komischerweise am längsten: Katzenklo! Extrem dezent im Vergleich zu sonst, aber egal. Überhaupt wieder riechen und schmecken zu können, fühlt sich an, als wäre ich nach einer unfreiwilliger Verbannung wieder nach Hause gekommen.

Herbst (Thomas Millot/unsplash)

Schlimm war der Abend, an dem ich einen Topf mit Waschpulver für die Maskendesinfektion aufsetzte und dann in ein anderes Zimmer ging. Ohne meine Nase merkte ich erst, dass er komplett leer gekocht war, als die Sicherung herausflog. Nur gut, dass keine Masken drin waren und die Küche nicht in Brand geriet. Der Topf war völlig schwarz verfärbt und konnte nur mit einer halben Flasche Stahlfix und viel Armarbeit wieder in den Normalzustand zurückversetzt werden, beinahe hätte ich ihn weggeworfen.

Schmecken kann ich inzwischen wieder gut. Beim Geruch muss ich zeitweise noch auf meine gut trainierte und immer sehr bewusste Wahrnehmung vertrauen. Anfang der Woche hatten wir (Probe aufs Exempel) Sauerkraut und Kassler, und der intensive Geruch hing zu meiner Erleichterung auch am nächsten Tag noch klar in der Luft. Vorgestern Curry. Auch mit normalem „Geruchsecho“. Das tolle Duschgel meines Mannes kann ich immer noch nicht riechen. Auch seine Niveacreme nicht. Und obwohl alle Gerüche schnell verfliegen, bin ich froh, dass sie zumindest kurz wieder da sind: „Frühstück“, „Küche“, „Wohnzimmer“, Efeu- und Perückenstrauch. Teich und Brünnchen „stinken“ wieder, nur schwächer, aber das finde ich nicht so schlimm (normalerweise muss ich mir die Hände zigmal waschen, um den Gestank loszuwerden). Auch die Kräuter sind auf einem guten Weg. Thymian und Rosmarin (meine Lieblinge) erkenne ich klar und deutlich.

„Phantomgerüche“ (halluzinatorische Wahrnehmung) oder „Fehlgerüche“ bemerke ich nicht, habe nur ein paarmal im Haus und im Garten plötzlich Rauch, Räucherstäbchen oder Lack „gerochen“, obwohl keine Quelle dafür auszumachen war. Hoffentlich verschont mich die Parosmie (Geruchsstörung), vor allem die eklige Kakosmie (Gerüche werden fälschlicherweise als unangenehm wahrgenommen), von der ich inzwischen einiges gelesen habe. Da riecht Toast plötzlich wie Jauche und Seife wie Schweißfüße. Oder die ganze Welt stinkt tagelang nach Urin. Aber es gibt ja auch die Euosmie (Gerüche werden fälschlicherweise als angenehm empfunden), dann duftet das Katzenklo vielleicht nach Maiglöckchen. Oder der Teich nach Rosen.

Meine Welt wird mit jedem Tag wärmer und heimeliger. Gestern habe ich Plätzchen gebacken. Der ultimative Test, denn ich gehe beim Backen immer nur „der Nase nach“, was Backzeit und Temperatur betrifft, egal was im Rezept steht. Das erste Blech braucht manchmal nur 12 Minuten, das nächste vielleicht 15. Es lief recht gut. Der „Plätzchen sind fertig!“-Duft ist eindeutig wieder da. Die „Meldung“ kommt ganz plötzlich, und dann muss ich das Gebäck sofort aus dem Ofen holen. Ich backe nie mehrere Bleche auf einmal, weil meine Cookies dann nicht „perfekt“ werden. Dauert zwar länger und man muss daneben sitzen, aber das ist es wert.

Eins habe ich mir fest vorgenommen: Ich werde nie mehr über meine feine Nase klagen. Ohne sie bin ich nicht ich selbst. Ob der „Infekt“ Covid war? Wenn ja, hatte ich offenbar ein Riesenglück. Wenn ich wüsste, wo man hier den Antikörpertest machen kann, würde ich ihn machen. Bestimmt käme ich dann entspannter durch Lockdowns und Winter. Gegen Grippe bin ich inzwischen wie immer geimpft, und die Covid-Impfung werde ich mir sofort holen, wenn es die Möglichkeit dazu gibt. Übrigens ist der neu entdeckte subtile Alkohol-Detektor immer noch da, was ich durchaus als Bereicherung empfinde.

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Sankt Martin reitet heute nicht

„St. Martin“ ( Ulla Genzel )

Ohne „Corona“ wäre heute St. Martin und „Kölner Jeckentag“. In meiner Kindheit war  das Martinsfest einer meiner Lieblingstage. Schon frühmorgens war ich aufgeregt und konnte es kaum aushalten, bis wir uns gegen fünf endlich „im Dorf“ (Dunkerhofstraße) versammelten und mit unseren bunten Laternen los zogen. Immer mit der Angst, es könnte zu regnen anfangen oder der Wind könnte die Kerzenflamme so umlenken, dass die „Lööt“ aus Papier zu brennen anfing. Wir sangen inbrünstig zum Klang der Blaskapelle unsere plattdeutschen und hochdeutschen Lieder und folgten St. Martin auf seinem mächtigen, schnaubenden Schimmel.

St. Martin (planet_fox/pixabay)

Flankiert von zwei römischen Soldaten ritt er langsam durch die Straßen. Bis zu unserer Schule, wo auf dem weiten Feld das große Martinsfeuer in den Himmel loderte und der frierende Bettler seine Kreise zog. St. Martin schenkte ihm den halben Mantel (warum eigentlich nicht den ganzen?), dann kam das Feuerwerk, und danach liefen wir begeistert in die Schule und bekamen unsere „Bloas“ (Tüte mit Obst und Leckerzeug). Zu Hause gab es „Püfferkes“ und „Mutzemandeln“. Ach, wie lange habe ich keine Püfferkes mehr gegessen! Mit Äpfeln! Und Rosinen! Aber mir fehlt leider das Rezept meiner Mutter.

Laterne, Laterne…. (Bellahu123/pixabay)

Das farbensprühende Feuerwerk war so schön, dass ich als kleines Kind nach der Hand meiner Oma griff und später, als Schulkind, nach der Hand meiner Freundin. Noch später, als Teenager, nach der Hand meines Freundes, und dann, als leidenschaftliche Tante, nach der Hand meiner kleinen Nichte. So etwas Wunderbares kann man nur genießen, wenn man die Hand eines Menschen drückt, den man wirklich lieb hat. Ich bin jahrzehntelang an diesem Tag an den Niederrhein gefahren, um dort „richtig“ den Zug zu genießen.

St. Martin „bemaskt“ (Caniceus/pixabay)

Ähnlich emotional werde ich, wenn ich die Wildgänse oder die Kraniche beobachte, die über unser Haus ziehen (wie gestern!). Dann denke ich an meinen Vater („Kind, komm schnell nach draußen, die Zugvögel sind da!“). Jetzt rufe ich meinen Mann („Jan! Komm schnell runter, die Zugvögel sind da!“) Meistens braucht er zu lange, bis er endlich im Garten ankommt, aber gestern hat er es geschafft. Zum Glück war es nämlich nicht nur ein Zug, es waren gleich drei hintereinander. Ich saß in der Küche, flickte meinen Lieblingspullover, hörte die fernen Rufe und stürzte gemeinsam mit meiner Katze sofort nach draußen. Ich liebe Zugvögel!

Ganz viel Gans (Caniceus/pixabay)

Gänse spielen auch an St. Martin eine Rolle, aber keine schöne. Jedenfalls nicht für die Vögel. Für Fans von Gänsekeulen mit Rotkraut und Klößen schon. Warum haben die dummen Tiere ihn auch durch ihr Geschrei verraten, als er  sich bei ihnen im Stall versteckte, weil man ihn zum Bischof machen wollte! Eigentlich hätte man sie dafür entsprechend belohnen müssen – und nicht aufessen! Als Kind verstand ich diese Logik nicht. Aber wahrscheinlich hat die Martinsgans ganz andere Wurzeln und mit dem Heiligen kaum was zu tun: Am 11.11. wurden nämlich früher die Steuern und Lehnsabgaben fällig, und die wurden oft in Form von Naturalien „gezahlt“. Also auch mit Gänsen.

Herbstwald (Romansolar/pixabay)

Ähnlich schwer tat ich mich bei einem anderen Heiligen, dessen Fest erst wenige Tage zurückliegt: St. Hubertus, der ein erklärter Gegner der Jagd wurde, nachdem ihm ein weißer Hirsch mit einem leuchtenden Kreuz in den Geweihstangen begegnete (Jägermeister!). Daraufhin änderte er sein Leben und wurde erst zum friedlichen Einsiedler und später (wie St. Martin!) widerstrebend zum Bischof. Warum wurde ausgerechnet dieser friedfertige Mann und erste Jagdgegner zum Schutzpatron der Jäger (und der Metzger und Büchsenmacher)? Eigentlich hätte man ihn doch zum Schutzpatron der Waldtiere machen müssen? Ihm zu Ehren fand am 3. November jedenfalls zuerst eine Messe (mit feierlichem Hörnerklang) und dann eine Treibjagd statt, und am Ende lagen die armen Tiere reihenweise tot auf dem Boden. Mein Vater brachte an diesem Tag stets bedauernswerte leblose Wesen mit nach Hause, meist geflügelt oder mit langen weichen Ohren. Ich weigerte mich, sie zu essen. Bis heute rühre ich kein Wild an. Niemals. Gänsebraten habe ich übrigens auch noch nie gegessen.

Kempen (Caniceus/pixabay)

Doch zurück zu St. Martin. Im benachbarten Kempen, einer wahren Martinshochburg und für seine  Lichterumzüge zu Recht berühmt, war alles noch prächtiger. Da zogen (und ziehen!) etwa 2 000 Kinder sogar an mehreren Tagen durch das alte Städtchen mit den schmalen Gassen. Die Besuche dort waren überwältigend. Noch viel mehr Musik, eine schier endlose Prozession von Kindern mit leuchtenden „Fackeln“ (so nennt man am Niederrhein die Laternen). Inzwischen sind allerdings die meisten Fackeln auch in Kempen in Plastik „eingepackt“ und haben eine ungefährliche Beleuchtung und keine echten Kerzen wie in meiner Kindheit. Und zum Schluss gibt es ein Feuerwerk, das direkt aus der Burg in den Himmel steigt und an den Seiten wie flüssige Lava herabströmt. Ich habe eine CD mit unseren Martinsliedern (kann man im Internet beim St-Martin-Verein Kempen erstehen). Ich muss nur aufpassen, dass mir beim Hören nicht die Tränen kommen.

Vielleicht gibt es ja sogar eine Verknüpfung von St. Martin und Halloween, denn früher wurden im Herbst auf dem Land auch Laternen aus ausgehöhlten Rüben umhergetragen.  Und am Ende der Erntesaison wurde ein Feuer auf den Feldern angezündet, zum Dank für die Ernte und als Abschied vom Jahr. Solche Herbstfeuer gibt es auch in Ländern, die mit St. Martin nichts am Hut haben, etwa in England, wo am 5. November im ganzen Land „Bonfires“ angezündet werden und unter lautem Geknalle der „Guy“ verbrannt wird. („A penny for the guy, Miss!“ höre ich meine kleinen Schüler durch die Jahrzehnte rufen.) Das Fest erinnert angeblich an Guy Fawkes, aber die Wurzeln liegen sicher tiefer.

vertrauter Anblick am Niederrhein (Foto Rabe/pixabay)

Am Niederrhein sind die Zugvögel im Herbst und Winter tatsächlich ein Naturschauspiel, denn in „meiner“ Gegend überwintern ungefähr 170 000 Wildvögel, vor allem an den Krickenbecker Seeen, und wenn die eintreffen, ist das schon sehenswert. Mein Vater ließ mich früher oft die Namen der Vogelarten aufsagen: Nilgans, Blässgans (von November bis Februar am Niederrhein), Graugans, Kanadagans, Kurzschnabelgans, Ringelgans, Saatgans, Weißwangengans, Brandgans (knallroter Schnabel, leicht zu erkennen).

Gänseflug (pixabay)

Am Niederrhein brüten sogar Weißstörche, und einige bleiben auch im Winter dort, weil sie auch dann noch genug zu fressen haben. Im Kreis Wesel finden sich im Winter rund 25 000 arktische Gänse ein. Ich war tief beeindruckt, wie nahe wir an die Tiere heran kamen. Wenn man klein ist, kann eine flügelschlagende, zischende oder schreiende Gans ganz schön eindrucksvoll sein. Wir besuchten die Wasservögel jeden Sonntag nach der Messe. Es war ein schönes Ritual, neben meinem Vater am Ufer zu stehen und immer wieder nach seiner großen, warmen Hand zu greifen. Blöd war bei den Gänsen nur, dass ich ewig brauchte, bis ich ihren Namen richtig schreiben konnte. Ich schrieb nach Gehör und verstand nicht, wieso ein Wort mit z gesprochen, aber mit s geschrieben wurde. Noch schlimmer war es nur noch bei Artzt.

St. Martin unbemaskt (Caniceus/pixabay)

Kein Wunder, dass ich jedes Jahr im November sentimental werde. Auch dieses Jahr, obwohl St. Martin gestrichen ist. Fantasievolle und kinderfreundliche Menschen haben sich einige Alternativen ausgedacht: Lichterfenster, Martinsfenster, St. Martin mit Laterne zu Hause im Wohnzimmer oder draußen im Garten. Mal sehen, ob es funktioniert. Ich versuche es jetzt einfach mal mit diesem Beitrag als „virtuelles“ Fenster. Schade, dass es so wenige schöne Fotos von den Laternenzügen gibt, ich versuche jedes Jahr wieder, welche zu machen, aber meine Ausbeute fällt immer mager aus, entweder sind die Lichtverhältnisse grottenschlecht oder die Laternen „verhüllt“. Und weil hier die Kinder nicht „richtig“ laufen. Nicht so wie am Niederrhein.

Wir wohnen neben einer Schule, so dass ich in unmittelbarer Nähe des Martinsfeuers bin, ich höre es im Haus draußen prasseln und krachen, und der Rauch weht meistens genau in unseren Garten. Im vorigen Jahr war das Feuer eine Katastrophe, denn der Hausmeister hatte feuchtes Heu zwischen das Holz gepackt. Der Gestank hing bis zum nächsten Morgen im Flur, aber darüber habe ich im letzten November schon geschrieben. In diesem Jahr gibt es nicht mal ein Feuer, obwohl das Holz schon seit einiger Zeit bereit liegt.

St. Martin (Caniceus/pixabay)

Auch die berühmte Fünfte Jahreszeit wird diesmal nicht gebührend eingeläutet, denn Karneval ist ebenfalls abgesagt. Kein Maskenball, keine Jecken auf den Straßen und in den Bahnen. Stattdessen Alkoholverbot, auch draußen, Feiern untersagt, bei Verstößen wird konsequent eingeschritten. So ruhig wie heute war es hier am 11. 11. noch nie. Für Touristikbranche, Kneipen und Kostümgeschäften eine Katastrophe. Stattdessen gibt es eine Demonstration gegen die Corona-Schutzbestimmungen (seufz) und einen Zeppelin über der Innenstadt mit der Aufschrift „Bliev zohuss“ (gute Idee!). Auf der anderen Seite steht „Bleibt gesund“. Wie heute in Düsseldorf der Hoppeditz erwacht, kann man sich im Internet ansehen. Aber zu Düsseldorf haben wir Kölner ja ein eher gespanntes Verhältnis. Wir haben den Ähzebär, aber der fällt nächstes Jahr auch aus. Ich habe mich lange gefragt, warum ausgerechnet der Elfte im Elften der Auftakt der Narrensaison ist und glaube jetzt, die Antwort zu kennen. Genau wie beim echten Karneval beginnt nämlich direkt nach diesem Tag die Fastenzeit (die vor Weihnachten natürlich), und da muss man sich einfach noch ein letztes Mal aufbäumen und so richtig über die Stränge schlagen und „die Sau rauslassen“.

Remembrance Day (CalvinStuttart/pixabay)

In Großbritannien begeht man übrigens heute den Poppy Day oder Remembrance Day und gedenkt der Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Das habe ich nach meinem Leben in England an diesem Tag auch noch im Hinterkopf. Ich besitze sogar eine kleine Mohnblume, wie man sie sich dort an diesem Tag ansteckt.

So viele Gedanken und Gefühle an einem einzigen Tag. Übrigens sind viele der Fotos zu diesem Beitrag von einem Fotografen aus Kempen, den ich heute bei pixabay entdeckt habe.

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Kölner Stämme – Die Piraten (2)

Piratenschiff? (JACLOU-DL/pixabay)

Mitunter kann Schreiben ein erstaunlich abenteuerliches Unterfangen sein, denn es können dabei merkwürdige Dinge passieren. Sogar kleine Wunder. So fand ich durch meinen ersten Roman den längst verloren geglaubten kleinen Friedhofsengel meiner Kindheit wieder, durch ein anderes Buch landete ich unerwartet im „Kölner Treff“ und bekam sogar eine wunderbare seelenverwandte Bärenschwester. Doch meistens habe ich natürlich keine Ahnung, wo meine Buchkinder und Geschichten hinfliegen und landen. Schon gar nicht, wenn die Texte nur im Internet erscheinen. Hier auf meiner Seite fabuliere ich daher also mehr oder weniger ins Blaue hinein und freue mich, wenn zufällig jemand meine Gedanken findet und meine Bilder anschaut. Normalerweise habe ich keine Ahnung, wer diese Personen sind, sie hinterlassen nämlich keine für mich sichtbaren Spuren, es sei denn, sie nehmen mit mir Kontakt auf. So wie nach meinen Beitrag über die Kölner Stämme.

Pirat Wolf Pinfeather (BFL)

Höchstwahrscheinlich wäre es wohl bei dem ersten allgemeinen Beitrag geblieben, wenn mir nicht ein kühnes Mitglied der „Löstige Gladiatore“ eine freundliche Mail geschickt hätte, die mich zum Recherchieren und Weiterschreiben beflügelte. Jetzt hatte ich einen Ansprechpartner, der mir auch bei kniffligen Fragen und Zuordnungen weiterhelfen konnte. Über viel Hintergrundwissen, was die Kölner Stämme betrifft, verfüge ich leider (noch) nicht, denn bei den Stämmelagern war ich vor allem als Fotografin unterwegs und nicht als Reporterin oder Schriftstellerin. Aber ich lerne gern dazu, und besonders schön ist es, wenn ich weiß, dass meine Texte anderen Freude machen und tatsächlich gelesen werden.

Käpt’n Kalli (BFL)

Auf Seemann, Tod und Teufel!

Die „Santa Colonia“ (BFL)

Nach meinem Mailwechsel mit dem kampferprobten Gladiator beschloß ich aus literarischen Gründen (R.L. Stevenson, über den ich unbedingt irgendwann schreiben muss, denn ich war schon drei Mal im „Lady Stairs House“, dem Schriftstellermuseum in Edinburgh!), mit den Piraten anzufangen. Und zu meiner großen Verblüffung wurde auch dieser Beitrag in Windeseile erspäht, allerdings diesmal von messerscharfen stahlblauen Piratenaugen. Und jetzt kenne ich bloß durch mein Schreiben nicht nur einen veritablen Gladiator, sondern auch einen gefährlichen Seeräuber!

Leider teilte mir der Pirat in einer zweiten Nachricht mit, dass Käpt’n Kalli, der erfahrene, mit allen Wassern der Sieben Meere gewaschene Seebär und stolze Kapitän der Dreimastbark „Santa Colonia“, am Montag dieser Woche seine letzte Fahrt angetreten hat. Genau einen Tag, nachdem ich meinen Beitrag geschrieben hatte. Ein trauriger Zufall. Der heutige Beitrag ist daher auch ein kleiner Nachruf auf einen wohl ganz besonderen Piraten und Menschen. Möge seine Überfahrt sanft sein! Seine wilde Crew schaut ihm wehmütig nach und verabschiedet sich auf ihre Weise: „Auf Seemann, Tod und Teufel!“  „Fair winds, Captain!“ „Komm gut über die Brücke!“ Vergessen werden sie ihn sicher nie, und bestimmt wird er weiterhin an ihrer Seite bleiben, wenn sie fluchend die Sieben Meere unsicher machen. Auf Seemann, Tod und Teufel!

Pirat Jack Sperrholz (BFL)

Inzwischen weiß ich schon einiges mehr über die „Original 1. Kölner Piraten von 1968 k.e.V.“ (ein fürwahr langer Name, und die Abkürzung steht für „kein eingetragener Verein“). Überhaupt zeichnet sich die Crew durch einen typisch kölschen Humor aus.“Der Verein“ wurde vor nunmehr 52 Jahren von Karl-Heinz Hansmann gegründet, jenem Mann, der später unter dem Piratennamen Käpt’n Kalli berühmt wurde und zuerst ganz allein unterwegs war, aber schon bald eine immer größer werdende wilde Horde anführte. Bis letzten Montag. Ich bedauere sehr, dass ich mich bei den Stämmelagern nicht näher an ihn herangetraut habe, aber die Piraten sahen einfach zu unheimlich aus!

Käpt’n Kalli (BFL)

Vor drei Tagen nahm ich schließlich allen Mut zusammen und enterte heimlich bei Nacht und Nebel die „Homepage“ und schaute mir auch gleich die Gesichtsbucheinträge der Piraten an. Zum Glück hat mich dabei keiner erwischt, auch der Steuermann nicht, er war anderweitig beschäftigt. Ich sah mich in Ruhe um und fand mich schon bald in der wilden Seeräuberwelt einigermaßen zurecht. Einiges habe ich kurzerhand mitgehen lassen („requiriert“ würden die Piraten wohl sagen) und ungefragt für diesen Beitrag verwendet (darauf steht sicher normalerweise eine empfindliche Strafe, mindestens „Prozessanhals“), aber ich schätze, dass die Seeräuber mir das ausnahmsweise nicht übel nehmen, denn ich habe es schließlich nur „ausgeliehen“, um ihren Ruhm zu mehren und ihren Käpt’n zu ehren.

Pirat Schwarzbart (BFL)

Jedenfalls kenne ich jetzt die Namen der momentanen „Santa Colonia“-Crew und kann einige Personen auf meinen Fotos sicher identifizieren. (Offenbar war ich bereits bei vier Stämmelagern!) Ich finde nicht nur Käpt’n Kalli, sondern auch Jack Sperrholz, Turners Frank, Smutje Jean Lafitte, Navigator Schwarzbart („Hält den Kurs. Manchmal.“) und Havanna Charly. Bei den Piratenbräuten bin ich mir nicht sicher. Sind das jetzt Mary Reed und Coco Batida? Oder Jamaica Ann und Tina Osborn? Oder gar Käptn’s Chef? Der imposanten Charlotte de Berry bin ich bisher offenbar noch nicht persönlich begegnet. Auch den 1. Offizier James Blood („Hält die Fäden in der Hand. Und die Neunschwänzige.“) finde ich nicht auf den Bildern, aber vielleicht fehlt mir da der messerscharfe Piratenblick. Ich habe dummerweise ein kurzsichtiges und ein weitsichtiges Auge und sehe dadurch alles irgendwie schräg. Sogar Piratengesichter.

Piratenversammlung (BFL)

Havanna Charly (BFL)

Meinen kühn erbeuteten Quellen zufolge ist der Pirat Calico Jack ein „Grielächer“, also ein Spötter (typisch kölsches Wort), was immer das bei einem Piraten bedeuten mag. Ein wenig spöttisch sieht er schon aus (Sie finden sein Bild im vorigen Beitrag, da habe ich die Bildtitel inzwischen aktualisiert). Havanna Charly hatte ich aufgrund seiner wuchtigen Präsenz zunächst fälschlich für einen weiteren Käpt’n der Crew gehalten, sah meinen Irrtum aber rasch ein. Laut Aussage seines furchteinflößenden Crewmitglieds (meiner streng geheimen stahlblauäugigen Zusatzquelle) ist er aber nur „ein ganz normaler Pirat“, allerdings mit einer Schwäche fürs Modeln, denn sein markantes Konterfei ziert weltweit zahllose Fahndungsplakate. Eins davon habe ich sogar abgelichtet, weiß aber nicht mehr, in welchem Jahr. Kann es sein, dass er mir darauf die Zunge herausstreckt, oder ist das bloß wieder mein schräger Blick?

Ex-Crew-Mitglied (BFL)

Einige Piraten, die ich damals aufs Bild gebannt habe, gehören inzwischen leider nicht mehr zur Crew und bleiben daher namenlos. Seinen Piratennamen sucht man sich (normalerweise) selbst aus, erfahre ich von meinem seeräuberischen Geheimkontakt. Wie ich sehe, gibt es an Bord sogar einen kühnen Kölner Robert Surcouf. Aber auch mit Henry Goldfinger, Joshua Flint, dem Logbuchverwalter (er hat so schlimme Augen wie Mad Eye Moody), Le Doc („Rauchende Hand. Schmerzfrei.“), Bloody Hands und Barfossa ist sicher nicht zu spaßen. Allesamt zum Fürchten und sicher grenzenlos grausam! Auf einem Seitendeck der frisch gestrichenen „Homepage“ fand ich (gut getarnt) erschreckende Fotos von Piratentaufen, die echt furchtbar zu sein scheinen, weil man dabei kübelweise (bestimmt eisekaltes!) Wasser ins Gesicht geschüttet bekommt und gnadenlos gezwungen wird, eklig aussehende trübe Flüssigkeiten zu schlucken und gräßliches Zeug zu kauen (wahrscheinlich ranzig und übel stinkend), während man unbequem mit Händen und Hals im „Joch“ steckt und sich nicht regen kann. Ich kann nur hoffen, dass die Knöchel des neuen Piraten dabei nicht auch noch im „Stock“ hängen.

Piratenkopf (BFL)

Auf einem echten Piratenschiff darf natürlich auch ein Klabautermann nicht fehlen. Den hört man normalerweise nur. Er warnt den Kapitän vor Gefahren, und „wenn er klopft, bleibt er, wenn er hobelt, geht er.“ Man sollte es sich also mit ihm besser nicht verscherzen. Angeblich sieht er aus wie ein Matrose mit Hammer und Pfeife, manchmal auch mit Seemannskiste, roten Haaren und grünen Zähnen. Wenn er sich zeigt, ist das ein schlechtes Zeichen. Er verlässt das Schiff erst, wenn es untergeht.  Das erinnert mich an mein maritimes Kinderbuch, das noch unfertig in meiner Schublade liegt. Darin kommt nämlich auch ein Klabautermann vor. Er heißt „der Chintz“, und das Ganze spielt in Lübeck, einer meiner Lieblingsstädte. Vielleicht setz ich mich diesen Winter doch noch mal dran und baue gleich auch noch ein paar von den Piraten ein. Zeit genug hab ich ja dank Lockdown und so.

Ex-Crew-Mitglied (BFL)

Auf dem waffenstrotzenden Piratenseitendeck kann man zwischen Schatztruhen, glänzenden Piasterhaufen, trockenem Schiffszwieback (mit Maden drin, also vor dem Essen ordentlich schütteln oder abklopfen oder besser nur im Dunkeln verzehren), diversen Sanduhren, Schiffsglocken und gut gefüllten Rum- und Wasserfässern einiges über das Leben und Wirken der Piraten im 17. und 18. Jahrhundert erfahren. Unter anderem entdeckt man Navigationsinstrumente wie Kamal, Jacobsstab, Quadrant, Traversboard oder Backstaff. Noch nie was von gehört, wie ich zu meiner Schande gestehen muss. Na ja, Quadrant schon, aber was genau das ist, wußte ich trotzdem nicht, hab ja damals auch das Piratenbuch nicht übersetzen dürfen. Auch Astrolabium und Nocturlabium waren mir unbekannt und klangen eher wie irgendwas aus „Harry Potter“, aber dafür kannte ich den Trepanationsbohrer, den Mundknebel, die Amputationssäge und „die Neunschwänzige“ (die gefürchtete Katze im roten Sack, mit der Matrosen gezüchtigt werden. An den Wunden kann man sogar sterben!). Dass Piraten ihren Zopf zu teeren pflegten, wußte ich auch noch nicht. Klingt echt schmierig.

„Die Oma im Käfig“ (BFL)

In einer äußerst schlecht beleuchteten Ecke (achtern) entdeckte ich eine staubige Flaschenpost mit Informationen über das bleiche Gerippe im Käfig (genannt „die Oma“), das (oder die) grausam verstümmelt wurde, weil feindliche Piraten versucht hatten, es (oder sie) zu entführen, ihm (oder ihr) dabei aber nur etliche Knochen brachen. (Gendergerechte Sprache muss heute leider sein, auch bei Beiträgen über Piraten.)

Dass die furchteinflößenden Seeräuber hier jedes Jahr traditionell den berühmten Rosenmontagszug als Vorgruppe anführen, hätte ich als Kölnerin eigentlich wissen müssen (jetzt weiß ich es für alle Zeiten). Auch hätte ich mir denken können, dass sie originalgetreu gewandet und bis an die Zähne bewaffnet (nebst Entermesser, Säbel, Vorderlader, Schwarzpulver und sogar Kanone) nichts lieber tun als  Stadt-, Hafen- und Hansefeste unsicher zu machen.

„Santa Colonia“ (BFL)

Man kann sie sogar privat anheuern und sich selbst und/oder seine Gäste (und Gästinnen!) in Angst und Schrecken versetzen. Wer über genug Nervenstärke verfügt, kann sich dabei auch demonstrieren lassen, wie man früher Zahnbehandlungen durchzuführen pflegte (oder vielmehr erlitt). Natürlich ohne Narkose. Die Zähne zog der Barbier. Besonders gut war der sicher nicht. Daran mag ich nicht mal denken, mir graut ja schon vor hochmodernen sterilen Zahnbehandlungen. Mit Narkose. Einen eigenen Song mit Video (googeln Sie mal „Schäng. Piratenpolonäse“, zu finden bei YouTube) haben die Piraten auch, da kann man sie alle in voller Aktion sehen. Aber aus Sicherheitsgründen nur heimlich gucken, damit nichts passiert! (Sie wissen schon: Prozessanhals! Mindestens!) Mit diesen Kölner Piraten ist nicht zu spaßen!

Schatzkarte (MasterTux/pixabay)

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Kölner Stämme – Die Piraten

Abendrot (jplenio/pixabay)

Piraten – Calico Jack  (BFL)

Der November startet trübe und traurig, ein neuer Lockdown beginnt, und ich bekomme Lust, in Farben zu schwelgen. Nach meinem letzten Beitrag über die Kölner Stämme habe ich mich in den Tiefen des Hauses auf die Suche gemacht und endlich auch die anderen Fotos ausgegraben. Ob es die Piraten wohl noch gibt?

Als Kind war ich viel krank, was mir die Gelegenheit gab, heimlich die umfangreiche Bibliothek meiner Eltern zu erforschen, vor allem die verbotene oberste Reihe. Manchmal brachten Besucher auch zusätzlichen Lesestoff, und eines Tages bekam ich von einer Freundin meiner Mutter, die zwei erwachsene Söhne hatte, einen ganzen Stapel „Jungensbücher“. Eins davon war „Das Nibelungenlied“, das wahrscheinlich dazu führte, dass ich später Mittelhochdeutsch studierte, ein anderes „Die Schatzinsel“ von Robert Louis Stevenson.

Die wilden Piraten verfolgte mich bis in meine Träume, und der spannende Roman gehört bis heute zu meinen Lieblingsbüchern. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn schon gelesen habe. Am liebsten im Original und illustriert von Robert Ingpen oder N.C. Wyeth. Kein Wunder, dass mich die Piraten bei den Stämmelagern besonders faszinierten. Und es gab auch genügend wilde Piratinnen!

Piraten – Käptn Kalli  (BFL)

Alle sahen aus, als wären sie Zeitgenossen vom alten Bill Bones, dem heimtückischen Schwarzen Hund, dem gerissenen einbeinigen Schiffskoch Long John Silver und dem verruchten Käpt’n Flint. Der Käpt’n hatte sogar einen Papagei auf der Schulter, doch zum Glück schrie er nicht in einem fort „Dukaten“, sondern wirkte eher ausgestopft.

Piraten (BFL)

Stevenson schrieb sein Buch 1881 während eines verregneten Sommers für seinen Stiefsohn, und angefangen hat alles mit einer geheimnisvollen Schatzkarte. Die war vorn im Buch auch abgebildet. Da lag ich also unbeweglich mit Halswickel und Husten in meinem Kinderzimmer und stach in meiner Vorstellung gleichzeitig abenteuerlustig mit Jim Hawkins auf der „Esmeralda“ in See, schaute Long John Silver beim Kochen zu, beobachtete den gemeinen Israel Hands, wie er versuchte, Jim Hawkins mit dem Messer umzubringen, und hörte die Piraten ihr schreckliches Lied grölen („Fünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste – hohoho – und ’ne Buddel voll Rum“).

Piratenmutter mit Sohn (BFL)

Es störte mich nur, dass kein einziges Mädchen in dem Roman vorkam (und außer Jims ziemlich farbloser Mutter auch keine Frau), denn ich ahnte, dass es neben Blackbeard, Störtebecker und Sir Francis Drake auch berühmte Piratinnen gegeben hatte. Gab es auch, etwa Ann Bonny und Grace O’Malley.

Wenn es meine Geschichte gewesen wäre, hätte es todsicher auch ein mutiges Mädchen gegeben, das sich notfalls einfach als Junge verkleidet hätte. Und zumindest eine Frau hätte bei mir auch eine tragende Rolle gespielt. Meine eigene Mutter war nämlich die Idealbesetzung für eine resolute furchtlose Piratin. Sie hatte schließlich schon als junges Mädchen in ihrem kleinen Dorf am Niederrhein revolutionäre Hosen und Anzüge getragen und damit für Aufsehen gesorgt und außerdem geraucht wie ein Schlot!

Pirat Havanna Charly (BFL)

In meiner Kindheit gab es 1966 den Weihnachtsvierteiler „Die Schatzinsel“ mit Michael Ande als Jim Hawkins, und später war eine meiner Lieblingsserien „Das Wappen von Saint Malo“. (Gerade habe ich gesehen, dass man es inzwischen „digitally remastered“ als DVD erstehen kann, und jetzt raten Sie mal, was ich im kommenden Lockdown beim Bügeln gucken werde.) Ob ich Gérard Barray wohl immer noch so faszinierend finden werde wie damals als Kind? Der erste Junge, in den ich mich verliebte, sah ihm jedenfalls ziemlich ähnlich, dunkles Haar und schräge Katzenaugen. Der tollkühne Robert Surcouf war damals mein Held, und bisher hat ihn auch noch kein anderer Korsar entthront. Für Johnny Depps abgedrehte Piratenversion kann ich mich nicht erwärmen, auch wenn das Kostüm toll ist. Ich war vor einigen Jahren übrigens mal in Saint Malo und dachte dort natürlich auch an den berühmten Korsaren. Dort ist auch sein Grab.

Piraten (BFL)

Einmal war ich ganz nahe dran, ein dickes Buch über Piraten, Freibeuter, Bukaniere, Filibuster und Korsaren zu übersetzen. Woran es gescheitert ist, weiß ich nicht, denn der Auftrag kam nicht von einem Verlag, sondern von einem Redaktionsbüro in München. Ich kaufte mir begeistert ganz viele Bücher über Piraten, denn zum Übersetzen braucht man natürlich auch Sekundärliteratur! Ich war extrem motiviert!

Meine Probeübersetzung wurde zwar hochgelobt, doch aus dem Buch wurde nichts. Schade. Aber wir waren in dem Jahr zum Trost in Cornwall, haben einige berühmte Piratennester besucht und in Penzance staunend im „Admiral Benbow“ gesessen, zwischen Tauen, Schiffslaternen und Galionsfiguren. Und eins meiner Urlaubsmitbringsel war ein richtig schönes Buddelschiff….

Seeschlacht  (three-shots/pixabay)

 

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Kölner Stämme

Stämmelager 2010 (BFL)

Einzelne Vereine und „Stämme“ gab es schon seit den 1950er Jahren, doch erst 1991 schlossen sich die fast 80 verschiedenen Gruppierungen zu den „Kölner Stämmen“ zusammen. Zwei der großen Stämmelager habe ich als Gast besucht, und es fühlte sich ein bisschen an, als wäre man plötzlich in einem farbenprächtigen Filmset gelandet. Oder in einer anderen Welt. Das Eintrittsgeld ging an die CF-Selbsthilfe Köln, und dank der zahlreichen Besucher kam eine stolze Summe zusammen.  Viele Vereine und Gruppen sind dem Kölner Karneval entsprungen, doch den Mitgliedern der Stämme ging es augenscheinlich um mehr, etliche von ihnen „lebten“ ihre Rollen und feierten sogar ihre wichtigsten Feste in und mit der Gruppe. Alles sollte so authentisch wie möglich sein, dazu lasen sie Bücher, schauten sich Filme an und besuchten die Länder, aus denen ihre Figuren stammten. Manche lernten sogar die Sprache und luden Gäste aus „ihrem“ Land ein. Einige dieser „Ehrengäste“ waren auch bei den Stämmelagern anwesend.

Stämmelager 2010 (BFL)

Irgendwo in den Tiefen unseres Hauses befindet sich ein Bildband über die Kölner Stämme, den ich jetzt gern zu Rate ziehen würde, doch ich kann ihn nicht finden. Bei uns hausen Kobolde, die einen üblen Sinn für Humor haben und gern Sachen verstecken, um sie dann irgendwann, wenn man sie nicht mehr braucht, an genau den Stellen zu deponieren, wo man sie die ganze Zeit vermutet hat. Offenbar necken sie auf diese Weise Menschen, die sie mögen, also soll es mir recht sein. Auch mein Album mit den analogen Bildern bleibt (weiterhin) verschollen. Dabei weiß ich genau, wo es steht! Aber inzwischen habe ich wenigstens meine digitalen Fotos gefunden.

Gladiator Metilius (BFL)

Unser Führer auf der „Reise durch die Zeit“ war beide Male der römische Gladiator Metilius (der mir von seinem realen Vorbild erzählte, die genauen Daten sind mir leider entfallen). Er war Mitinitiator der „Kölner Stämme“ und 1. Vorsitzender der „Löstigen Gladiatoren“, hieß mit Kölner Namen Jürgen Kurth und ist leider allzu früh verstorben. Bei seiner Beerdigung vor acht Jahren gaben ihm die Kölner Stämme auf dem Nordfriedhof das letzte Geleit und verabschiedeten ihn mit „Ave Metilius!“ und „Maach et  joot, Jürgen.“ „Mach et joot“ sagt man hier in Köln oft an Gräbern. („Maach et joot, Jung“ oder „Maach et joot, Mädche“)

Gladiator Metilius (BFL)

Metilius hatte eisblaue Augen und wirkte in seinem Ledergewand äußerst imposant. Er hatte das, was man gern als „Aura“ bezeichnet und flößte jedem automatisch Respekt ein. Genauso hatte ich mir als Kind einen Gladiator vorgestellt! Einmal habe ich ihn gar auf dem Streitwagen gesehen. Pferde gab es nämlich auch bei den Stammestreffen, sogar riesige Kaltblüter, die man heute kaum noch sieht. Und Greifvögel, die man ganz aus der Nähe bestaunen konnte. Hier habe ich damals meinen ersten Weißkopfseeadler fotografiert, was für mich ein besonderes Erlebnis war, denn ich habe vor Jahren einen Bildband über Adler übersetzt.

Weißkopfseeadler (BFL)

Die Stimmung im „Stämmelager“ war entspannt und ruhig, aber auch lebhaft und ausgelassen, friedlich und einträchtig standen die Zelte der Gladiatoren, Ritter, Mongolen, Indianer und Hunnen nebeneinander, und es gab auch ein stimmungsvolles Piratenlager mit einem leider arg kleinen Schiff, aber ein Riesenschiff wäre eindeutig zu aufwändig gewesen. Dafür waren die Piraten wunderbar gewandet und hatten ein gruseliges Skelett in einem Käfig. Die wilden Kerle selbst waren eindrucksvoll und wirkten wie Figuren aus Stevensons „Schatzinsel“.

Es gab auch ein Badehäuschen mit einem Holzzuber, in dem irgendwann tatsächlich jemand saß, möglicherweise aus dem Mittelalter, und sich abschrubben ließ. Attilas gab es offenbar gleich mehrere, also auch mehrere Hunnenhorden sowie einen Sultan mit Prachtzelt und „Haremsdamen“, etliche Ritter der Tafelrunde, Ostgoten, Böschräuber, Cowboys und Indianer, Barbaren, Wikinger, Highlander (mit echten Dudelsäcken, einige wirkten auch echt schottisch), Mongolen, einen Clan der Nordmänner und den geheimnisvollen Ring der Schamanen.

Stämmelager 2010 (BFL)

Man konnte alle Zelte betreten, dazu gab es Handwerksstände und Ritterspiele, eine merkwürdige Zeremonie mit Sarg, Tod und rauchendem Feuer, und immer wieder irgendwo ein kleines Gelage oder eine Musik- oder Tanzeinlage. So lange die Menschen aus der anderen Zeit nichts sagten, wähnte man sich gelegentlich wirklich in der Vergangenheit, aber wenn sie sich lautstark auf Kölsch begrüßten, mit einem ins Gespräch kamen oder gar Karnevalslieder schmetterten, musste man doch grinsen, weil das, was man sah, und das, was man hörte, so gar nicht zusammenpasste. Aber irgendwie passte es dann auch doch, denn wir waren ja in Köln, der Hochburg der Verkleidung, Rollenspiele, Kostüme und Masken. Anders als im Karneval nahmen diese Darsteller ihre Rollen allerdings erstaunlich ernst. Sicher bewegt und fühlt man sich auch völlig anders, wenn man exotische Gewänder, Umhänge, Kopfbedeckungen oder schwere Waffen trägt. Metilius habe ich immer nur als Römer und Gladiator gesehen. Ich kannte auch seinen richtigen Namen nicht.

Die Hunnen hatten alle möglichen „Beutestücke“ in ihren Zelten aufgehäuft und trugen fantastische Kostüme, die natürlich auch „Beutestücke“ waren, wahrscheinlich zusammengetragen von Flohmärkten, Antikmärkten, Kostümverleihen oder Reisen. Dazu brauche man den „hunnischen Blick“, meinte eine der Hunnenfrauen lachend. Heute würde mir sicher das traditionelle Frauenbild der Stämme auffallen, auch wenn die Hunnenfrauen noch so imposant aussahen. Haremsdamen und Ritterfräulein? Aber vielleicht gab es auch eine Königin und eine Schamanin? Piratinnen gab es auf jeden Fall, und auch sie sahen zum Fürchten aus.

Der Tod (BFL)

Ich habe keine Ahnung, ob es die vielen Kölner Stämme heute noch gibt, einige haben todsicher inzwischen Namen und Aussehen stark verändert. Vieles geht gar nicht mehr. Dass die „Frechener Negerköpp“ so nicht weiterbestehen konnten, war wohl jedem klar. Sie tauften sich daher um in „Wilde Frechener“ und wie sie heute aussehen, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie grün oder blau? Ich meine mich zu erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, dass sie in ihrer alten Kostümierung mit Steinen beworfen, beschimpft und bedroht wurden. Wir sind heute sehr viel feinfühliger, was den Blick auf andere Kulturen und Ethnien betrifft. Irgendwo hört der Spaß selbst an Karneval auf. Sogar in Köln. 2018 bekam eine alteingesessene Kölner Konditorei Riesenprobleme, als man zur Jeckenzeit weiße und schwarze rundliche Gebilde mit Gesichtern und komischen Hüten in ihrem Schaufenster entdeckte, die stark an eine extrem klebrige Süßigkeit erinnerten, die wir als Kinder noch höchst unbedarft benannten und verzehrten.

Stämmelager – Schuhe (BFL)

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