Kevelaer, Maria 2.0 und der schönste Vorbeter von Kattendonk

Sonntags in Kevelaer (BFL)

Am letzten Wochenende war ich zum dritten Mal mit meinen Winnie-Romanen zu Gast in Kevelaer, wieder anläßlich der traditionellen „Landpartie am Niederrhein“. Und wieder fielen mir die alten Kindheitserinnerungen ein, als ich nach meiner Lesung durch das verschlafen wirkende „heilige“ Städtchen ging. Kevelaer räkelte sich trotz brütender Mittagshitze beneidenswert entspannt unter duftenden Linden. Ganz im Gegensatz zu mir. Ich hasse Hitze. Auf dem ungewohntem Parkplatz wußte ich plötzlich nicht, ob es zur Basilika nach links oder rechts ging, und fragte ein älteres Ehepaar nach dem Weg.  Der Mann warf einen prüfenden Blick auf unser Auto und meinte: „Wat wollt ihr denn in der Basilika? Ihr habt doch den Dom!“ Darauf fiel mir dummerweise nichts Passendes ein. Winnie wäre das nicht passiert. Sie hätte bestimmt gekontert: „Aber ihr habt Maria! Wir ham bloß die Knochen von den Heiligen drei Könijen!“

Maria im Weihrauch (BFL)

Die Kattendonker fuhren früher (vielleicht auch heute noch?) mehrmals im Jahr mit Rädern oder Autos gen Kevelear, doch die große Wallfahrt (zu Fuß) fand im Sommer statt. Nur ein einziges Mal bin ich mitgegangen. Ich erinnere mich noch gut an die dicken Blasen und an meine erschöpften Waden. Die Madonna hat mir offenbar längst verziehen, dass ich damals nicht aus religiösen Gründen pilgerte, sondern nur, weil ich unsterblich in den schönsten Vorbeter von Kattendonk verliebt war, sonst hätte sie meine Lesungswege nicht zum dritten Mal zurück in ihren Ort gelenkt.

Im zweiten Winnie-Buch kommt der Vorbeter höchstpersönlich vor und heißt Gabriel. Das ist zwar ein erfundener Name, aber er paßt perfekt. Bei dem beschwerlichen Pilgermarsch im Jahre 1970 (an dem auch meine Freundin Winnie teilnahm) tat er zu meinem großen Kummer die ganze Zeit so, als wäre ich komplett unsichtbar, und ich war immer wieder den Tränen nah. Die Madonna muss Mitleid mit mir gehabt haben, denn sie hat mir meinen Herzenswunsch kurze Zeit später tatsächlich erfüllt. Doch wie das so ist mit Herzenswünschen. Man sollte sich immer gut überlegen, was man sich wünscht. Nach einigen Jahren war alles vorbei, wir gingen getrennte Wege und haben uns seit vierzig Jahre nicht gesehen. Ob wir uns überhaupt noch erkennen würden? Besser gar nicht daran denken!

Flammenflackern (BFL)

Die Kevelaer Kirchenluft war auch diesmal auf vertraute Weise weihrauchgeschwängert, aber das gehört ja unbedingt dazu. Angeregt durch die erfreuliche Maria 2.0-Aktion der katholischen Frauen im Mai, hatte ich an dem Morgen fast alle meine Marienkapitel gelesen. Erst das lustige mit Tante Pias stets tonlos heruntergeleierter Lieblingsgeschichte vom Kaufmann Henrik Busmann, dem in Kevelaer „vor langer, langer Zeit“ Maria erschien. Die Gottesmutter sprach dabei lupenreines Kevelaer Platt, was wir äußerst erheiternd fanden. Wir erprobten dann immer unsere boshafte „Großtanten-Tirriterung“: Wir störten sie so lange mit dummen Fragen, bis ihr der Kragen platzte. Und natürlich las ich auch wieder „Maria und der Heilige Geist“. Schließlich war ich in ihrer Stadt!

Deckenbild in Kevelaer (BFL)

Deckenbild in Kevelaer (BFL)

Aus heutiger Sicht würde unsere kindliche feministische Revolte eindeutig in die Kategorie Maria 1.5 fallen, wenn nicht sogar bereits in die Kategorie Maria 2.0, doch außer für Winnie und mich blieb sie leider völlig ohne Resonanz. Den Frauen war es offenbar egal, wie man sie behandelte. Und auch, dass man ihre Große Göttin so schmählich ausklammerte, obwohl sie am Niederrhein doch omnipräsent war. Aber was können zwei ketzerische kleine Mädchen schon ausrichten gegen die geballte männliche Religionsmacht der Welt? Das Weibliche, Mütterliche hat uns damals gefehlt, und zudem waren wir felsenfest davon überzeugt, dass nicht der Heilige Geist, sondern Maria in die Dreifaltigkeit gehöre. Oder dass es zumindest eine Vierfaltigkeit (mit Maria) geben müsse.

Maria über den Kerzen (BFL)

Besser noch: Eine komplett weibliche Dreifaltigkeit. Wie die Niersmatronen. Oder Hekate mit den drei Köpfen. Oder die Dreiheit von Mother, Maiden und Crone bei den Kelten. Die kannten wir damals aber alle noch nicht. Leider. Denn damit hätten wir den Herrn Pastor todsicher beeindruckt. Unsere Überlegungen waren eindeutig schwere Gotteslästerung, wie uns die Großtanten entsetzt mitteilten. Tante Pia bekreuzigte sich sogar. Inzwischen weiß ich, dass „der“ Heilige Geist, der uns solche Probleme bereitete,  im Hebräischen und Griechischen tatsächlich feminin ist. Jammerschade, dass diese wichtige Nuance bei der Übersetzung verloren ging. Doch das ist den Übersetzern bestimmt nicht aufgefallen. Und wenn, hat es sie nicht gestört. Außerdem ist auch „pneuma“ im Deutschen maskulin, denn es heißt dummerweise „der Atem“. Keine Chance für das weibliche Geschlecht. Nicht mal für das grammatikalische!

Ein Teil der Kerzenwand in Kevelaer (BFL)

Draußen vor der Kapelle mit dem kleinen Gnadenbild versammelten sich unzählige Messdiener, die offenbar an einer Fahrradprozession teilgenommen hatten und direkt vom Zeltlager kamen. Sie stellten sich im Kreis auf, klingelten fröhlich mit ihren Fahrradklingeln und beteten dann wie aus einer Kehle „Gegrüßet seist du, Maria“. Untermalt von diversen Glocken. Erstaunlich wohltönenden übrigens.

Kevelaer Flagge (BFL)

Die Straßen waren wie üblich blaugelbweiß beflaggt (mit dem kiepentragenden Henrik Busmann aus Tante Pias Geschichte), die Menschen in Läden und Restaurants waren wie üblich gastfreundlich und gut gelaunt. Die unzähligen Kerzen vor den schwarzgerußten Wänden wirkten genau so unheimlich und andersweltlich wie früher, und auch die kleine Madonna in der Muschel war noch genau so weit weg und genau so schmerzerfüllt.

Ein Besuch im Andenkengeschäft musste diesmal sein, das war klar. Meinem Mann war die geballte katholische Devotionalienladung zu viel, so dass ich mich kurz darauf allein mit fünf Verkäuferinnen und ob der religiösen Wucht dann doch etwas überfordert in einem der großen Läden wiederfand.

Devotionalienschrank (BFL)

Drei geräumige Abteilungen mit unzähligen Regalen und Schränken, prall gefüllt mit Madonnen, Heiligen, Engeln, Krippenfiguren, Gebetsbüchern, Amuletten, Medaillen, Rosenkränzen, Kruzufixen, Ikonen, Kästen voller Heiligen- und Andachtsbildchen und Weihwassertöpfchen. Und natürlich Kerzen in jeder Größe. Transparent verpackt. Und geschmückt mit Bildern vom Papst, von Maria oder Jesus.

Kerzenfülle (BFL)

Ich entschied mich spontan für einen winzigen Holzaltar mit aufklappbaren Flügeln. Die dunkelblauen Fähnchen mit dem Marienbild, die ich als Kind immer so stolz nach Hause trug, fand ich nicht, sonst hätte ich mir glatt eins gekauft. Ob es sie überhaupt noch gibt? Als Kind besaß ich eine stattliche Sammlung. Sie standen als starrer Strauß auf meinem Klappbett in einer Vase und verloren regelmäßig das Gleichgewicht, wenn ich mich zu heftig von einer Seite auf die andere drehte. Sie standen gleich neben der kitschigen Plastikgondel, die mir Papa aus Venedig mitgebracht hatte.

Der kleine Marienaltar (BFL)

Übrigens im selben Jahr wie die Wallfahrt. Vor lauter Liebeskummer fuhr ich nämlich nicht wie sonst mit Papa in den Süden (meine Mutter verreiste grundsätzlich nie), sondern blieb zu Hause und hoffte auf ein Wunder. Das Wunder geschah. In Form eines hochromantischen Treffens unter drei alten krummen Sauerkirschbäumen. Danach nahm das Schicksal seinen Lauf. Papa hat mir das nie verziehen. Und ich war bis heute nicht in Venedig.

Wer Lust hat auf eine federleichte Sommerlektüre: die Geschichte mit dem schönsten Vorbeter von Kattendonk finden Sie in meinem zweiten Niederrheinbuch „Mit Winnie in Niersbeck“. Niersbeck ist mein Deckname für den Ort jenseits der Niers (von Kattendonk aus gesehen), in dem sich meine ehemalige Schule befindet. Damals war sie allerdings noch eine strenge Klosterschule, natürlich ausschließlich für Mädchen.

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Hochsensible Mäusewelt

der extrem schüchterne Nocturne (Foto: BFL)

Es begann damit, dass ich mich bei etsy Hals über Kopf in ein Mäusepärchen der jungen Filzkünstlerin Johana Molina aus Chile verliebte. Es dauerte fast einen Monat, bis die  beiden endlich hier eintrafen. Ich sah sie an – und nannte sie Cheddar und Mozzarella. Aber zwei Mäuse kommen selten allein, und die Mäuse fühlten sich einsam, daher geschah, was geschehen musste. Sie vermehrten sich rasant. Das ist nun vier Jahre her, und in der Zwischenzeit haben die Mäuse mein Leben ziemlich umgekrempelt. Ich hätte selbst nicht für möglich gehalten, dass ich eines Tages selbst Häuser, Läden und Möbel konstruieren und mich an fitzeligste Kleinarbeiten mit Holz, Papier und Fimo wagen würde. Im letzten Sommer haben die Mäuse auch noch einen reich bestückten Bücherladen bekommen, sogar die Erkerfenster und Regale sind selbst gebastelt.  Allein an den Büchern und Kleinstdekorationen saß ich tagelang.

Dante, Marisa und die hochbegabte Mila (Foto: BFL)

Inzwischen bevölkert eine wahre Mäusesschar unser Haus, und ihre Behausungen nehmen immer mehr Raum ein. Zum Glück habe ich einen geduldigen Mann, der sogar Mäusevillen m Schlafzimmer toleriert (solange sie nicht mitten im Bett stehen).

Da meine Schreibmotivation bei heißem Wetter arg leidet, konzentriere ich mich vor allem im Sommer auf meine Mausarbeit. Vielleicht wird ja eines Tages ein Buch daraus? Oder ein Kalender? In der letzten Zeit  sind gleich zwei neue kleine Läden entstanden: die rote Konditorei und der zartgrüne Gemüse- und Blumenladen. Dazu noch ein Halloweenmarktstand mit selbstgemachten Kürbissen und ein griechisch anmutendes Häuschen für die Schriftstellermaus Marco Polo, das aber noch nicht ganz fertig ist.

Hexenmaus Kashta (Foto: BFL)

Manchmal brauche ich ziemlich lange, bis ich verstehe, was die jeweiligen Mäuse sich wünschen oder was sie mir unbedingt mitteilen wollen. Jede Maus hat natürlich ihre eigene Biografie  und ihre eigenen Stärken und Schwächen. Der Liebling der Fangemeinde ist offenbar der schüchterne Nocturne, der nur auftaut, wenn er sich um Babys oder Tiere kümmern kann. Ansonsten traut er sich nicht aus dem Haus und ist sich selbst im Weg.

Mimolette, Lupinchen, Mila, Olga, Lunetta und Marisa (Foto: BFL)

Momentan arbeite ich an einem Zimmer für die große Hexenmaus Kashta, die eindeutig eine unheimliche Seite und eine ausgeprägte Vorliebe für Alraunen und sprechende Fliegenpilze hat. Und für Drachen und kleine Monsterchen. Zauberhaften Nachschub an magischen Kleinstwesen finden wir seit kurzem bei der bemerkenswerten Künstlerin Georgia Marfels.

Marisa, Olga und Chelsea (Foto:BFL)

Dann gibt es noch Chelsea, die Kleine mit der gelben Jacke und der bunten Schleife. Sie ist eine ideale Kuchenmaus mit hochsensiblen Geschmacksknospen und träumt schon seit einem halben Jahr von einem eigenen Café. Das hat sie mir erst im März eröffnet, und jetzt gehört ihr das „Chelsea’s Cherry On Top“, in dem vor allem Kuchen mit Kirschen verkauft und serviert werden. Der Grünladen „Parsly Sage Rosemary & Thyme“ gehört jetzt Toscanello, der Riesenspitzmaus mit der Supernase, und seinem Freund Bloomsdale, der sich gern um Pflanzen kümmert.

Bloomsdale und Minouche (Foto: BFL)

Schon die Namensfindung macht unglaublich Spaß, und ich suche unter all den Hunderten von Käsesorten genau den passenden Namen für die jeweilige Maus, oder unter all den vielen möglichen Wortspielen genau den richtigen Namen für den jeweiligen Laden aus. Dabei hilft mir, dass ich vor Jahren mal ein Buch mit dem Titel „Käsesorten der Welt“ übersetzt habe. Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich damals beim Übersetzen so einen Heißhunger auf Käse bekam, dass ich einen Sommer lang zum Dauerkunden im „Käsehaus Wingenfeld“ wurde, das nur fünf Minuten von meiner damaligen Wohnung entfernt lag. Ich war durchaus experimentierfreudig und futterte mich langsam durch alle möglichen (mir bis dahin unbekannten) Sorten. Die profunde Käsekenntnis kommt heute meinen Mäusen zugute.

Hexenmaus Caerphilly auf ihrer Veranda (Foto: BFL)

Bei den Ladentaufen und im täglichen Mausleben sind die vielen treuen Fans meiner fb-Seite „Cheddar & Mozzarella“ äußerst hilfreich. Sie  beflügeln meine Fantasie und die der Kleinen immer wieder aufs Neue. Ohne sie gäbe es die Geschichten gar nicht. Die fb-Seite besteht übrigens grade seit genau drei Jahren.

Also: Herzlichen Glückwunsch, meine kleinen Mäuse! Und vielen Dank, liebe Mausfans!

 

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Wieder online!

Manchmal ist es sehr hilfreich, wenn man einfach eine Hotline anrufen kann und tatsächlich das Glück hat, einen freundlichen, kompetenten Menschen am anderen Ende der Leitung zu haben, so wie ich heute bei Serverprofis. Jedenfalls ist mein Homepage Fehler jetzt behoben, und ich bin nach über einer Woche wieder online. Etliche Tage Stress und viele E-Mails hin und her, dabei war alles ganz einfach, und der „fatal error“ und die „technischen Probleme“ ließen sich rasch beseitigen. Man muss nur den richtigen Moment erwischen und einen netten Helfer haben. Aber heute ist ja auch ein besonderer Tag: Sommersonnenwende! Heute vor 21 Jahren habe ich zum ersten Mal meinen Garten betreten, das möchte ich nachher noch gebührend „feiern“. Und ab morgen gibt es wieder „richtige“ Beiträge. Morgen ist nämlich auch ein ganz besonderer Tag. Aber heute freue ich mich einfach nur! Seid alle herzlich gegrüßt!

mein kleiner Fuchs, gemalt von Ulla Genzel (BFL)

Mein Füchslein (gemalt von Ulla Genzel) (BFL)

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Ein Museum der Gefühle

Fensterecke (BFL)

Wie könnte ein Museum mit Hermann Göttings Schätzen wohl aussehen? Er selbst wünschte sich ein „Museum der Liebe zu den Dingen“, und ich kann mir vorstellen, was er damit meinte. Ich kannte ja seine Wohnung! Präsentiert wird vor allem die Zeit zwischen 1920 und 1960, und mein Fantasie-Museum ist randvoll mit nahen und fernen Erinnerungen, Alltagskultur, Kitsch und Kunst (und erinnert von der Stimmung her ein bisschen an das nordenglische „Beamish“). Es befindet sich vor den Toren Kölns (für das Belgische Viertel ist es zu groß) und besteht aus einem kleinen Platz mit Bänken, Tischen, Laubbäumen und einem Karussell, umgeben von hohen Stadthäusern. Alles liebevoll wieder aufgebaut, mit Giebeln, Treppenhäusern, Erkern und Balkonen, so ähnlich wie die Häuser am Brüsseler Platz und am Stadtgarten.

Lachende Frau (BFL)

Alles ist da, um die vielen Wohnungen bis hinauf in den Speicher zu bestücken (da kann man zum Beispiel die Wäsche aufhängen oder in geheimnisvollen abgeschabten Kartons mit Fotos und Kleidungsstücken herumstöbern), und ich bediene mich aus Hermanns riesigen Fundus an Möbeln, Teppichen, Kronleuchtern, Lampenschirmen, Kleidung, Kinderwagen, Türen, Fenstern, Schildern, Laternen, Reklametafeln, Schaufenstern – und vergesse auch die vielen nützlichen und überflüssigen Kleinigkeiten nicht, die den Menschen lieb und vertraut waren.

Zum Schluss besitzt jedes Haus seinen ureigenen Duft und seinen ganz besonderen Charakter. Die Zimmer sehen aus, als wären die Bewohner nur kurz hinaus gegangen und würden jeden Moment zurückkehren. Noch besser: Die Häuser sind richtig bewohnt! Die Besucher können durch die Räume streifen, mit den Bewohnern plaudern und sich nach Herzenslust umsehen. Menschen in zeitgenössischer Kleidung geben Auskunft oder gehen einfach ruhig ihren alltäglichen Aufgaben nach. Vielleicht stammen sie sogar aus alten Zeiten? In der Fantasie ist zum Glück alles möglich. Gern würde ich Familienmitglieder, die ich schon immer gern kennenlernen wollte, hier wohnen lassen. Zum Beispiel die kleine Ida.

Alle Bewohner haben eigene Biografien, Berufe, Vorlieben, Hobbys und Haustiere. Es gibt Wissensdurstige (mit Regalen voller Bücher), Künstler (mit Atelier oder chaotischem Schreibtisch), abgedrehte Außenseiter  (mit eindrucksvoller Uhren- oder Lampensammlung) und die unterschiedlichsten Paarkombinationen mit und ohne Kinder. Ein junger Mann sieht aus wie Martin W., den ich nur von Fotos kenne. (Er war Arzt, mit der Großmutter meines Mannes verlobt und starb im Ersten Weltkrieg.) Handwerker gibt es hier auch.

Zum Schuster gehe ich besonders gern, weil ich den Geruch nach Leder und Leim liebe. Mein Urgroßvater Xaver D. war Schuster (Hermanns Großvater übrigens auch). Vielleicht hat Hermann die kleine Werkstatt aus der Apostelstraße ja noch retten können? Als Studentin mit chronischem Geldmangel hat mir der freundliche Schuster dort immer Sonderpreise gemacht und keinen Ton über meine abgetragenen Schuhe verloren. Er reparierte und besohlte sie, und danach sahen sie (fast) aus wie neu.

Da ich schon immer eine Caféschreiberin war, gibt es gleich mehrere plüschige Cafés, in denen man sitzen und seinen Kaffee mit Sahnehaube trinken und dazu altmodischen Kuchen essen kann, der gleich Erinnerungen weckt. Buttercremetorte, Bienenstich, Kalter Hund, Grillagetorte, Holländer Kirsch. Hier sitze ich mit Notizbuch und Füllfederhalter und erfinde Geschichten. Nebenan gibt es einen schummrigen Nachtclub, doch der öffnet erst viel später, und der Conferencier sieht (kein Zufall) aus wie Hermann.

Brotbacken (Pexels/pixabay)

Wie üblich schaue ich kurz in die nach frischem Brot duftende Bäckerei mit eigener Backstube und kaufe mir ein knuspriges, noch ofenwarmes Steinofenbrot. Gleich nebenan befindet sich ein Eiscafé mit hausgemachtem Eis. Hier gibt es vor allem Klassiker, die ziemlich so schmecken wie im Eiscafé „Van der Put“ am Südfriedhof, einem sehr beliebten alten Kölner Familienbetrieb mit Sinn für Tradition.

Und dann ist da noch der Laden mit buntem Allerlei. Vor Ostern und Weihnachten ist es hier besonders schön. So alte Schätze findet man tatsächlich auch heute noch, etwa bei MAROLIN, wo nach wie vor mit Papiermachémasse und alten Formen gearbeitet wird. Hier bekommt man noch Osterhasen, Christbaumschmuck und Weihnachtsmänner aus den 20er Jahren, Krippenfiguren, Tiere, Märchenfiguren aus den 50ern, alten Glasschmuck für den Christbaum und auch die Märchenwüfel (aus Holz, beklebt mit bunten Bildern), mit denen ich als Kind gespielt habe.

Lädchen in Beamish (BFL)

Schokoladenmädchen (BFL)

Am liebsten würde ich ewig weiter durch mein Fantasiemuseum wandern, doch für heute soll es genügen. Außerdem muss ich langsam Abschied von Hermann Götting und seiner Welt nehmen. Also setze ich mich in mein Lieblingscafé (das mit dem Schokoladenmädchen), bestelle mir eine Kanne Tee (oder doch eine Riesentasse heiße Schokolade?) und einen Teller mit ganz besonderem Gebäck.  Und träume und schreibe ….

 

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Hermann Götting – Erinnerungen an einen Lebenskünstler (4)

Ausstellungen

Hermann Götting am Zirkus (Foto: Helga Pisters)

Als das Landesmuseum Koblenz im Jahr 2000 die Ausstellung „Das gestaltete Jahrhundert“ mit Exponaten aus der Sammlung Hermann Götting präsentierte, stand im Vorwort zum Begleitband: „Das Herzstück seiner Sammlung ist Hermann Götting selbst: Er lebt inmitten seiner Schätze, pflegt sie liebevoll und bietet seinen Gästen ein einzigartiges Ambiente, wenn er sie zu Festen einlädt, die weit über die Stadtgrenzen von Köln bekannt sind.“ Auch die Ausstellung „Mannequins“ in Gera (1996/97) war ein voller Erfolg. Hans-Peter Jakobson, der Direktor des Museums für Angewandte Kunst schreibt im Begleitband: „Ohne Zweifel darf man den Kölner zu den wichtigsten zeitgenössischen Sammlern in Deutschland zählen.“ Aber was ist hier in seiner Stadt von all seinen Schätzen geblieben? Bestand daran in Köln wirklich kein Interesse? Dabei war es doch vor allem Kölner Alltagskultur, die Hermann Götting gesammelt hat! Die Kölner Bürger hat man damals leider nicht gefragt, sie hätten bestimmt anders entschieden.

Hermann Götting, ausnahmsweise motorisiert (Foto: Helga Pisters)

Immerhin war die Ausstellung, die der Kölnische Kunstverein 1985/86 unter dem Titel „Von Maurice Chevalier bis zum Nierentisch“ mit Göttings Objekten veranstaltete, ein wahrer Publikumsmagnet und erreichte in den sechs Wochen Laufzeit die stolze Anzahl von 35 000 Besuchern. Mitten darin saß das Herzstück der Ausstellung, der Sammler höchstpersönlich. Hermann hat fest damit gerechnet, dass „die Stadt“ (wer immer das auch sein mag) seine Sammlung irgendwann angemessen würdigen würde, doch er hat nicht damit gerechnet, dass ihn der Tod so plötzlich mitten aus dem Leben reißen würde. Er hatte keine Vorkehrungen getroffen, und ohne seine schützende Hand waren seine Schätze hilflos. Es gab kein Testament, und die Erben waren wahrscheinlich überfordert. Zum Glück fand ein Teil der Sammlung in Gera ein neues Zuhause, hoffentlich auch viele seiner „stummen Freunde“ (Schaufensterpuppen). Fünfzig seiner seltenen Trachten wurden 2006 vom Thüringer Landestrachtenverband erworben, doch soweit ich in Erfahrung bringen konnte, werden sie dort nicht ausgestellt. Etliche Gewänder und Kostüme sind angeblich hier „beim Theater“ gelandet, berichten Hermanns Freunde. Einige alte Werbetafeln und die Kataloge zu den Ausstellungen werden ab und an noch bei Ebay angeboten. Aber wo sind all die schönen kompletten Laden- und Caféeinrichtungen geblieben?

Engel auf Melaten (Foto: BFL)

Beerdigung auf Melaten

Das „Programm“ zur Beerdigung

In diesem Jahr wäre Hermann Götting achtzig geworden, und vielleicht hätte auch ich wieder eine großformatige Einladung (Absender: von Hermes dem Götterboten) zu seinem Fünfzigsten bekommen. Doch leider ist er schon fünfzehn Jahre tot. Ich erinnere mich noch gut an die Beerdigung auf Melaten. Wenn ich die Notizen lese, die ich gleich nach der Trauerfeier geschrieben habe,  sehe ich sie wieder vor mir, die vielen Kölner, die Nachbarn aus dem Belgischen Viertel, mit denen ich (lange) vor der Trauerkapelle auf die eindrucksvolle Pferdekutsche und den (langen) Trauerzug wartete, der ihr vom Bestattungshaus in der Südstadt bis vor die Friedhofstore folgte. Es ist ein weiter Weg von der Friesenstraße bis zur Piusstraße, und es waren viele extravagante, weniger extravagante und kein bisschen extravagante Weggefährten, Freunde, Bekannte und Bewunderer von Hermann dabei. Einige hatten ihre Hunde mitgebracht, was den großen Tierfreund, der sich zum Geburtstag nie Geschenke wünschte, sondern Geldspenden für seine Tiere (und heimlich auf dem Brüsseler Platz sogar eine bestimmte Ratte fütterte, die sofort kam, wenn er sie rief), bestimmt gefreut hätte. Touristen habe ich nur wenige gesehen, obwohl die Beerdigung wahrlich sehenswert war. Auf dem Weg spielte eine Dixieland-Band, und während der Feier gab es unter anderem einen Auszug aus Wagners „Götterdammerung“, das „Largo“ von Händel und zum Abschluss „Thank you for the music“ von Abba. Keine Ahnung, wer die Musik zusammengestellt hat.

das „Programm“ zur Beerdigung

Die Wartenden vor der Trauerhalle wirkten fassungslos und ratlos. Jemand wie Hermann Götting konnte unmöglich einfach verschwinden! Das konnte nur ein Irrtum sein, war hoffentlich bloß einer seiner spektakulären Auftritte? Gleich würde er lachend hinter den Säulen hervortreten, auf seinem Roller über die Wege von Melaten fahren. So ein starker, wuchtiger Mensch, so ein Fels in der Brandung, war doch nicht von heute auf morgen weg! „Er hat unsere Stadt so schön bunt gemacht. Was wird denn jetzt bloß aus all seinen Sachen?“ „Köln braucht Menschen wie den Götting, so jemanden finden wir nie wieder. Der war ein Paradiesvogel, un so wat jit es doch hück ja net mih!“ (Ich hoffe, mein Kölsch stimmt.) Der besorgte alte Herr, der dies sagte, wohnte auch im Belgischen Viertel und hatte Tränen in den Augen. „Der verdient ein Museum! Und wenn die Stadt nix macht,  dann müssen wir an den Schramma schreiben! Sonst tut sich da nix!“ (Kurt Schramma war damals unser Oberbürgermeister.) Einvernehmliches Nicken. „Dafür hat der Hermann immer gekämpft. Jetzt sind wir dran! Wir müssen für ihn weiterkämpfen!“ Wollten wir ja! Aber wie? Das wussten wir auch nicht. Eine Unterschriftensammlung? Tatsächlich an den Oberbürgermeister schreiben? Persönlich vorsprechen? Oder lieber gleich die Museumsdirektoren aufsuchen? Einen Protestmarsch organisieren? Wir waren damals leider gar nicht gut vernetzt, kein bisschen organisiert und ziemlich überfordert, daher ist dann leider auch nichts passiert. Wenn man es weiß, kann man Hermann hier noch an der U-Bahn-Haltestelle Appellhof Platz sehen, als Kölner Kopf auf der Wand, aber ich bezweifle, dass ihn noch viele kennen – oder erkennen. Er wirkt auf dem Porträt fremd. Jedenfalls für mich. Vielleicht liegt es an den Farben. Oder daran, dass er nicht lächelt. Oder daran, dass er einen nicht ansieht.

Hermann Götting in der U-Bahn (Foto: BFL)

„Ich dachte immer, den Hermann könnte nichts umhauen“, sagte eine andere Anwohnerin. „Woran ist er bloß gestorben? Hat den etwa  jemand umgebracht?“ Erschrockene Blicke, dann Kopfschütteln. „In der Zeitung stand was von verschleppter Lungenentzündung.“ „Wat soll dat denn bedeuten? Verschleppt! Dat is doch keine Diagnose!“ Einvernehmliches Nicken. „Das Belgische Viertel wird anders sein ohne ihn.“ Stimmt. Das war es. Leerer. Leiser. Farbloser. Er fehlte uns damals sehr, und einigen fehlt er noch heute.

Kurz zuvor war Hermann zum fünfzehnten Mal fünfzig geworden. Jetzt lag er in dem bemalten Sarg, auf dem er selbst mit seinem weißen Tempelhund und der roten Katze Wunderkätzchen abgebildet war, was mich dann doch ziemlich aus der Fassung brachte, als ich meine Blumen ins offene Grab warf. Damit hatte ich nicht gerechnet. „Mach et joot, Hermännsche!“ riefen ihm zwei Freundinnen nach. Weinende Männer lagen sich vor dem Grab in den Armen. Es gab viel Prominenz aus der Szene. Die Trauerfeier hätte Hermann gefallen, auch die Ansprache von Bert van der Post (der merkwürdigerweise im „Programm“ nur als Hermann und Bernd, aber nie als Bert aufgeführt wird), und auch die überwältigende Anteilnahme (geschätzte 800 Trauergäste!), die Musik und das muntere Hundegebell. Wohl auch der Grabstein, eine Säule, umschlungen von einem steinernen Schal.

Neben mir in der Trauerkapelle stand eine betagte kleine Dame mit Schmetterlingsbrille und Blumenhut („Extra für Hermann angezogen, den mochte er immer so gern!“), die in jeder Manteltasche Unmengen von Leckerchen hatte und die unruhigen Vierbeiner in ihrer Nähe damit beruhigte, wenn sie auf die musikalische Untermalung allzu heftig reagierten („Hab ich immer dabei, für alle Fälle. Ich kenn doch so viele Hundemenschen!“). Amour, der zwei Tage lang neben seinem toten Herrchen gewacht hatte, überlebte ihn offenbar nicht lange, wie ich vor kurzem erfuhr. „Vor Trauer gestorben“, sagte meine Bekannte.

 

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