Hermann Götting – Erinnerungen an einen Lebenskünstler (2)

Hermann Götting mit Fächer (Foto: Helga Pisters)

Im Gegensatz zu Hermann Götting kleide ich mich äußerst unauffällig und mag überhaupt nicht, wenn man mich anstarrt, doch seine Sammelleidenschaft habe ich immer gut verstanden. Auch ich bin der Meinung, dass viele Dinge, die achtlos entsorgt und weggeworfen werden, Teil unserer Geschichte, unserer Kultur, unserer Stadt und unseres Lebens sind und allein deshalb absolut sammelwürdig. Auch ich rette gern Dinge vor der Zerstörung, allerdings in völlig anderen Dimensionen. Ich sammle kleine Dinge, eher Adventskalender als Film- und Werbeplakate, eher Puppenstubenmöbel als Couchgarnituren, Nierentische und Riesenvitrinen. Hermann Göttings Sammlung, die mühelos drei Außenlager und seine Jugendstilwohnung füllte, bestand zu 70% aus Objekten der Alltagskultur und „Kitsch“, der Rest waren von Künstlern geschaffene Objekte.

Zum Teil waren die „Objekte“ riesig, so besaß er mehr als 160 aufwändige Neonwerbeanlagen (u.a. die unter Lebensgefahr und trotz extremer Höhenangst vom Kölner Messeturm abmontierte Leuchtreklame von 4711), zig komplette Werkstätten von Handwerksbetrieben, ganze Ladeneinrichtungen, Verkaufstheken und gigantische Konzerttruhen.  Die Bandbreite war groß, seine Sammlung umfaßte die Alltagskultur des kompletten 20. Jahrhunderts, Doch seine besondere Liebe galt dem Jugendstil und den 50er Jahren. 

Eingeladen bei Hermann Götting (Foto: Helga Pisters)

Auch ich habe ein Schwäche für die Vergangenheit, und die Zeit meiner Kindheit habe in meinen Winnie-Romanen auf meine Weise zu retten und zu bewahren versucht. Mit ihren Läden, Häusern, Möbeln, ihrer Sprache, ihren Kinofilmen und Fernsehsendungen, den längst verklungenen Stimmen meiner Verwandten, den besonderen Düften und Gerüchen, den vertrauten Geräuschen und Klängen, dem typischen (niederrheinischen) Essen, den überquellenden Tante-Emma-Läden, den Glanzbildchen, Poesiealben, Köllnflocken, Lurchiheften, Bilderbüchern, dem Fürst-Pückler-Eis im Eiswürfelformer aus Aluminium, der Erdbeerbowle und dem Transistorradio.

Hermann Göttings Küche (Foto: Helga Pisters)

Genau wie Hermann versuche ich, alles im Blick zu haben. Teppiche, Tapeten, Möbel, Geschirr, Besteck, die Blumen auf der Fensterbank, Kleidung und Kopfbedeckungen. Sogar die Erinnerung daran, wie es war, im Sommer mit den nackten Beinen am Plastikbezug des Küchenstuhls festzukleben oder an Omas Geburtstag Eierlikör aus flachen Gläsern zu lecken. Auch das Gummizwicken in den weißen Kniestrümpfen (mach dich bloß nicht schmutzig, Kind!), die atemberaubenden Weihrauchschwaden im Hochamt, das gefährlich zischende Geräusch des großen schweren Bügeleisens auf feuchtem Stoff (mein Opa war Schneidermeister). Das hätte Hermann sicher gefallen. Wahrscheinlich hätte er Opas Werkstatt sofort gerettet. Aber so ist nur noch die riesige Schere da, und zwar hier bei mir. Als Kind hatte ich Angst, dass man mir damit irgendwann den Daumen abschneiden würde, genau wie im Struwwelpeter. 

Einmal im Jahr steckte pünktlich im August ein großer Umschlag mit schöner Schrift in meinem Postkasten. Die Einladung zu Hermanns Fünfzigsten, immer mit einem langen fantasievollen Text voller ungewöhnlicher Wörter und einem ansprechenden Foto, meistens von Helga Pisters. Es waren rauschende, bunte Feste mit Tanz, Gesang und Cabaret, natürlich in illustrer Gesellschaft. Faszinierend, doch nicht unbedingt das richtige Wohlfühlambiente für jemanden, der es hasst aufzufallen und sich gar nicht gern verkleidet……

Hermann Götting im Sommer (Foto: Helga Pisters)

Eines Abends, es muss Ende der 90er Jahre gewesen sein und zwar mitten im Winter, war Hermann Götting wieder einmal mit seinem vollgeladenen Handwagen unterwegs nach Hause. Ich kam vom Ring und sah von weitem, wie der Wagen umkippte und die ganze Pracht im Schnee landete. Hermann Götting konnte sehr laut und ausdrucksstark fluchen, wie ich bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal feststellte. Natürlich habe ich ihm geholfen, seine Schätze wieder einzusammeln, und zum Dank schenkte er mir einen Johnny Walker-Mann und etliche Oster- und Weihnachtskarten aus den 50er Jahren. 

Geradezu magisch fand ich Hermanns unzählige Schaufensterpuppen, und auch da entdeckte ich vertraute Gesichter. In meiner Kindheit wollte ich unbedingt immer zu einem ganz bestimmten Geschäft, weil mich die Schaufensterpuppen so faszinierten, besonders die lebensgroßen Käthe Kruse Figuren mit den „richtigen Haaren“. Es waren hübsch angezogene Jungen und Mädchen, die mit ernsten Gesichtern in die Ferne blickten und Stoffhände hatten. Auch die „erwachsenen“ Schaufensterpuppen waren schön und hatten ausdrucksvolle Gesichter, an die ich angesichts der häßlichen kahlen weißen Einheitsköpfe, die heute überall zu sehen sind, oft wehmütig denke. Im Laden selbst standen besondere Hutständer auf der Theke, elegante Damenbüsten, malerisch mit Schals und Hüten dekoriert. Bei Hermann sah ich sie alle wieder, zum Teil trugen sie seltene Trachten und fantasievolle Kostüme, und ich hätte sie stundenlang bewundern können. Vor allem Maurice Chevalier. Ich besitze nur eine einzige Büste, die nicht mal antik ist, aber dafür trägt sie sämtliche Hüte meiner Mutter, und zwar alle gleichzeitig. Genau deswegen habe ich sie ja auch gekauft. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, die vielen Hüte zu entsorgen. Hermann hätte das todsicher verstanden. 

 

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Hermann Götting – Erinnerungen an einen Lebenskünstler (1)

Hermann Göttings Küche, Dezember 1997 (Foto: Helga Pisters)

Beim Schreiben meines Romans, der im Moment noch auf Verlagssuche ist und in den Jahren 2002 und 2003 im Belgischen Viertel in Köln spielt, mußte ich oft an Hermann Götting denken, denn er wandert genauso heiter und beschwingt als schillernder Paradiesvogel durch mein Buch wie früher durch die Straßen unseres geliebten Veedels. Als ich noch in der Maastrichter wohnte, habe ich ihn draußen oft getroffen, wenn er wieder mal mit seinen Hunden unterwegs war oder sich mit seinem Bollerwagen im Schlepptau und einer Flasche Wein unter dem Arm auf die Jagd nach neuen Schätzen machte. „Nichts darf verloren gehen“ war seine Devise. Hermann Götting war ein passionierter Sachensammler und Spurensicherer, doch seine umfangreiche Sammlung, die auf jeden Fall ein eigenes Museum (und zwar hier in Köln!) verdient hätte, wurde nach seinem plötzlichen Tod 2004 schnell auseinandergerissen. Nur ein kleiner Teil seiner Objekte (etwa tausend von mehr als hunderttausend) konnte zusammen bleiben und befindet sich heute im Museum für Angewandte Kunst in Gera. Doch die meisten seiner Möbel, Büsten, Schilder, Vasen, Lampen, Türen, Fenster, Reklametafeln, Ladeneinrichtungen und Kostüme sind in alle Winde zerstreut. Dabei hätte ein Hermann-Götting-Museum so gut zu seiner Wahlheimat Köln gepaßt, denn er betrieb ja vor allem die Spurensicherung dieser Stadt!

Hermann Göttings Büstenparade, Dezember 1997 (Foto: Helga Pisters)

Hermanns zahlreiche Schätze füllten zu seinen Lebzeiten mühelos mehrere Lager, die ihm die Stadt zur Verfügung stellte, und natürlich auch die Zimmer seiner Wohnung in der Richard-Wagner-Straße. Jeder Raum war in einem anderen Stil dekoriert und eingerichtet, und man konnte sich kaum satt sehen an all den kunstvoll in Szene gesetzten Gegenständen, die er so liebevoll zusammengetragen hatte. Es hat mir große Freude gemacht, meinen Buchmädchen Marigard und Michan dieses Paradies zu zeigen und zu beobachten, wie sie staunend und ehrfürchtig durch Hermanns Zimmer gehen und anschließend andächtig mit ihm in der Küche sitzen, von Marigards Buchprojekt erzählen und süßen Kakao trinken. Hermann wußte übrigens tatsächlich von meinem Roman und gab mir und den Buchmädchen damals bereitwillig Auskunft, allerdings unter der Bedingung, dass er dann bitte schön auch ein ganzes Kapitel nur für sich bekommen wolle. Das hat er. Nichts leichter als das. Meine Erinnerungen sind übrigens auch deshalb noch so frisch und klar, weil Hermanns Paradiesvogelwelt von einer ganz besonderen Kölner Fotografin stimmungsvoll eingefangen und vor dem Vergessen bewahrt wurde. Ich freue mich sehr, dass ich einige ihrer Bilder zeigen darf, und hoffe, dass auch meine Erinnerungen und Marigards Schilderungen den Lebenskünstler wieder ein wenig präsenter machen können. Vielleicht sogar über die Grenzen von Köln hinaus. Hermann Götting hat es verdient. Nichts darf verloren gehen!

Hermann Götting mit Schirm und Entenkette (Foto: Helga Pisters)

Schon der Flur mit den vielen Lampen war eindrucksvoll, doch betrat man erst die Küche oder den Salon, kam man aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Noch nie habe ich so viele Starfotos, Schaufensterpuppen und Büsten auf einem Fleck gesehen. Leider wagte ich nie, bei meinen Besuchen den Fotoapparat zu zücken, es hätte irgendwie nicht gepaßt und vielleicht auch die ganz besondere Stimmung zerstört, obwohl er mich gelegentlich sogar als Lichtbildnerin bezeichnete. Das schrieb er auch auf die Umschläge, wenn er mich mit einer seiner tollen Karten zum Geburtstag einlud. Ab 1989 feierte er nur noch seinen Fünfzigsten (+). Keine schlechte Idee. Er feierte ihn leider nur fünfzehn Mal. Ich wurde für ihn zur Lichtbildnerin, weil ich im Viertel so viel fotografierte und ihn ab und zu mit Aufnahmen von Jugendstilfenstern und alten Straßenschildern überraschte, die er zu seinem Bedauern nicht hatte retten können. „Dann hab ich sie jetzt wenigstens als Bild“, meinte er. Ich selbst habe kein einziges Bild von ihm gemacht, doch zum Glück kenne ich die Fotografin Helga Pisters, die mit Hermann gut befreundet war und ihn, seine Hunde und die Wohnung ausgiebig fotografiert hat. Hermann war nicht nur ein leidenschaftlicher Sammler, er war auch ein begnadeter Selbstdarsteller, der sich jeden Tag anders gewandete, die meisten Kleidungsstücke und Kostüme selbst schneiderte und stets neu und „anders“ kombinierte. Nähen hatte er schon als Schüler gelernt, als einziger Junge unter lauter Mädchen.

Hermann Götting mit Bückeburger Haube (Foto: Helga Pisters)

Sein größter Traum, ein berühmter Schauspieler zu werden, hat sich zu seinem Bedauern nicht erfüllt, dafür aber sein zweitgrößter: Straßenbahnschaffner! Auch in dieser Rolle war er überraschend und gänzlich unkonventionell. Er pflegte in seinen Bahnen die Fahrgäste persönlich zu begrüßen und sämtliche Haltestellen singend anzukündigen, und seine Gäste lächelten, wenn sie ausstiegen. Hermann sah nicht nur eindrucksvoll aus (groß und gewichtig), er hatte auch eine kräftige, wohltönende Stimme und liebte es, als Conferencier und Entertainer vor großem Publikum aufzutreten und alte Schlager zu singen. Im Internet gibt es noch ein Video, in dem man sehen kann, wie er in einer seiner Gewandungen auf seinem kleinen Roller direkt in eine WDR-Talkshow fährt, begleitet von seinem japanischen Tempelhund Amour. Noch imposanter als Amour waren die Riesendoggen Valentino und Ivo Fürst von Metternich (Ivo 1 und Ivo 2). Vorher oder zwischendurch, genau weiß ich es nicht mehr, gab es auch noch den betagten schwarzgrauen Nicki und den eigenwilligen Chow Wotan Wahnwitz. Sämtliche Hunde waren ihrem Herrn äußerst zugetan und folgten ihm freiwillig ohne Leine überall hin. Nur Amor trug ein Geschirr, damit er nicht überfahren wurde, denn der weiße Akita Inu war taub. Neben dem Hunderudel beherbergte Hermann zeitweise auch jede Menge (ausgesetzte) Katzen, zwei Schlangen (eine riesige und eine kleinere), deren Leben er zufällig gerettet hatte, und etliche Kaninchen. Leider fraßen die Schlangen ausschließlich Lebendfutter, daher wurde die Fütterung von einer Freundin übernommen, während Hermann kurz an die frische Luft ging. Alles, was sie verschmähten, wurde sofort begnadigt und durfte fortan in Hermanns Küche wohnen.

Hermann Götting melancholisch (Foto: Helga Pisters)

Sein Kleiderschrank muss randvoll mit Fantasiekostümen gewesen sein, denn Hermann liebte Verkleidungen und war ungemein wandlungsfähig. Mich erinnerte er mit all seinen Strick- und Samtmützen, Kappen und Hüten oft an Rembrandt, und so heißt er auch bei der Familie in meinem Roman. Wenn er in wallenden Gewändern über die Kölner Ringe marschierte, kam es gelegentlich zu Auffahrunfällen, weil die Autofahrer ihren Augen nicht trauten und vor lauter Verblüffung nicht mehr auf den Verkehr achteten. Eins von Hermanns Lieblingsstücken war ein Mantel mit passender Krawatte (keine Ahnung, ob genäht oder geklebt) aus Plus-Plastiktüten. Mir gefiel das orangeblauweiße Teil überhaupt nicht, aber Hermann bestand darauf, dass es sein ganz persönliches kritisches Statement zur Konsumkultur sei. Offenbar war das Plusgewand ein sündhaft teures Designerstück, das sich der notorisch an Geldmangel leidende Hermann buchstäblich vom Mund absparen musste. Wenn ich mich nicht irre, befindet es sich heute im Kölnischen Stadtmuseum.

Hermann Götting mit Dogge  (Foto: Helga Pisters)

Wenn Hermann Götting vornehm wie ein Maharadscha mit seinen Tieren durchs Belgische Viertel schritt, huldvoll lächelnd und mit einem seiner übergroßen Fächer wedelnd, verrenkten sich die Touristen jedes Mal verdutzt die Hälse und begannen aufgeregt zu tuscheln (was er sehr genoß), während die Ureinwohner nur kurz aufblickten und „Da kütt de Jeck!“ murmelten (was ihn sehr erheiterte). Aus dem Belgischen Viertel war er jedenfalls nicht wegzudenken. Besonders malerisch fand ich seine Auftritte im Herbst und Winter. Ich werde nie vergessen, wie er an der Spitze seiner Hundekarawane in roter Gardeuniform und Stulpenstiefeln an St. Michael vorbei durch den Schnee stapfte oder bei heftigstem Blättertreiben mit einer Hand an seinem unglaublichen Wagenradhut zur Reinigung in der Neuen Maastrichter Straße eilte. Nur an Karneval verließ er sein Haus grundsätzlich nicht. Da räumte er lieber seinen Keller auf. Der Grund lag auf der Hand. An Karneval fiel er nicht auf, weil alle anderen dann auch verkleidet waren.

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Kölle alaaf!

„Clown“ (BFL)

Trotz Regen und Sturmwarnung lassen sich echte Kölner nicht von ihrem Rosenmontagszug abhalten…… Ich denke an das alte Fasteloavend-Lied aus meinem Heimatort, das ich immer noch auswendig kann, und wünsche Ihnen und euch allen einen schönen Tag!

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Der Mond in Zeiten des Krieges

Die „amerikanischen Jahre“ meines Vaters als Kriegsgefangener der US Army haben auf merkwürdige Weise auch mein Leben geprägt. Schon als Kind wollte ich unbedingt nach Arizona, um endlich den Mond über der Wüste zu sehen, von dem mein Vater so oft erzählte. Auch die Kakteen mit den merkwürdigen Namen wollte ich sehen, die turmhohen Saguaros, in denen die Eulen nisteten, die bizarren Joshua Trees mit ihren klagend zum Himmel hochgestreckten Armen. Als Erwachsene bin ich Ende der 1980er Jahre auf den Spuren meines Vaters tatsächlich dort gewesen. Mein Vater hatte recht. Hier ist der Mond wirklich anders. Eines Nachts, auf einer Fahrt durch die Wüste, hing er plötzlich wie eine riesige Leuchtkugel über mir, größer und geheimnisvoller als ich ihn mir als Kind auch nur annähernd vorgestellt hatte. Er war so hell und klar, dass man glaubte, jeden Krater erkennen zu können. Das Gefühl, das ich bei seinem Anblick empfand, war tiefe Ehrfurcht.

In der Wüste (Foto: privat)

Als junger Prisoner of War hat mein Vater den Mond als tröstlich empfunden. Die Kriegshölle lag endlich hinter ihm, auch wenn sie ihn bis an sein Lebensende verfolgen sollte. Doch das wußte er damals zum Glück noch nicht. Er war 21 Jahre alt, fühlte sich einsam und unglücklich, lebte gegen seinen Willen in der Fremde, doch er war in Sicherheit, hatte zu essen und zu trinken und das Glück, im Lager als Dolmetscher arbeiten zu dürfen. Er konnte sich zwar nicht frei bewegen, doch sein Freund David nahm ihn manchmal mit hinaus in die Wüste. Nachts, wenn mein Vater nicht schlafen konnte, stand er oft auf und hielt Zwiesprache mit dem Mond. Er erschien ihm wie eine stille Geliebte, eine gute Freundin oder vertraute Schwester, die man tagsüber heimlich herbeisehnt, wohl wissend, dass sie einen zuverlässig jede Nacht besuchen wird. Eine Gefährtin aus Kindertagen, die sich weder durch Stacheldraht, Wände noch Mauern abhalten lässt, die Grenzen, Gebirge und Ozeane mit Leichtigkeit überwindet. Ein Wesen aus uralten Zeiten, mit dem man sich unterhalten kann, dem man seine Sorgen erzählt, dem man Grüße auftragen kann an all jene, denen man sich verbunden fühlt, die Lebenden und die Toten, nah und fern oder unerreichbar in Raum und Zeit.

mein Vater (Foto: privat)

Mein Vater hat die Wüste geliebt. Genau wie ich, als ich sie zum ersten Mal sah. Für mich war es beinahe so, als ginge ich umher in den Landschaften seiner Erinnerungen, als käme ich zurück an einen mir seit langem vertrauten Ort. Auch in seinen Aufzeichnungen hat er darüber geschrieben:

„Zwischen Sand und Felsen herrschte eine Stille, die man sonst wohl nur im Tiefschlaf erlebt. Ich saß auf einem Felsplateau und blickte in das rosafarben leuchtende Sandmeer. Geheimnisvoll verwitterte Steinskulpturen ragten darin auf, wie von Künstlerhand hineingesetzt. Worte wie Frieden, Ruhe, Zurückkommen, gingen mir durch den Kopf. Die reglose Felsen- und Sandwelt scheint in sich selbst zu ruhen, angekommen, vollendet in ihrem eigenen Zauber. Immer wenn mich diese Stille umgab, wäre ich am liebsten für immer in dieser Welt versunken.“

(Kurt Felten, „Kakteen und Stacheldraht“, 2008)

Ich stelle mir vor, wie genau dieser Mond meines Vaters, der Mond der Wüste und der Kriegstage, etliche Stunden früher oder später in derselben Nacht die andere Seite des Erdballs erhellt. Es ist ein unwirtlicher Ort weit im Osten, an dem sich mein Schwiegervater, der Arzt und Dichter Hans-Joachim Leidel, befindet. Auch er hat sein Gesicht dem Himmel zugewandt.  Auch er sieht die silberne Schönheit, auch er denkt an seine Familie und an seine Kindheit. Doch er ist noch mitten im Krieg, muss jeden Tag aufs Neue um sein Leben fürchten, weiß nicht, was der nächste Tag bringen wird an Gräuel und Grausamkeit. Im Moment denke ich wieder sehr an Jachym, wie ich den vertrauten Unbekannten nenne, denn er starb in diesem Monat. Am 7. Februar 1962, im Alter von nur 46 Jahren. Der Mond in seinem Gedicht scheint über der Front.

Hans-Joachim Leidel (Foto: privat)

Mondschein an der Front
 
Wie hell es ist –
Ich lege den Kopf auf den Acker,
in dem kein Same ruht.
Sternensand, Schwärme, Gewimmel:
Die mystische Milch Gottes, das galaktische Rauschen.
Der Mond, den man als Kind besang, ist aufgegangen.
 
Wenn ich nun ginge,
wenn ich nun über die silberne Brücke ginge,
wenn ich mir nun sagte:
daheim bewacht der gleiche Mond die Lieben.
Trostgewinn, Mutschöpfen, fester den Kolben umgreifen,
größere Entschlossenheit?
 
Nein.
Mit diesem Moment rechnen die Generäle.
Die Hasser rechnen mit unserer Vollmondbereitschaft zum Träumen.
Auf unserer Phantasie bauen sie ihre Stellungen aus,
Sie sind nicht sentimental.
 
Niemals etwas anderes denken als das;
Dies ist Mord.
 
Mein Gott, wohin lässt du mich gehen?
Was lässt du mich tun?

(Hans-Joachim Leidel, undatiert)
Hans-Joachim Leidel (Foto: privat)
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The Year of the Pig

Freundliches Riesenschwein in „Beamish“, Nordengland (Foto: BFL)

Jetzt hat das Jahr des Schweins am 5. Februar 2019 auch in China begonnen, und ich wünsche allen, die diesen Beitrag lesen, viel Glück, Gesundheit und gutes Gelingen beim Verwirklichen ihrer Träume.

Pig (Foto: BFL)

Ich kann normalerweise mit Horoskopen nicht viel anfangen, bin aber immer wieder verblüfft, wie sehr ich mich mit meinem chinesischen Sternzeichen identifizieren kann. Da bin ich nämlich ein ruhiges, sensibles, kreatives, naturliebendes Holz-Schaf. Komischerweise „als Tier“ gar nicht so weit weg vom ungeduldigen, feurigen Widder, der stets mit dem Kopf durch die Wand will und mit dem ich nicht viel gemein habe. Höchstens vielleicht das ausgeprägte Durchhaltevermögen. Wie oft habe ich mir das als Kind anhören müssen: „Du bist aber kein typischer Widder!“ Das Schwein ist das zwölfte Zodiac-Zeichen und als Symbol in vielen Kulturen mit Reichtum und Glück verknüpft. Möge es für uns alle ein echtes Glücksschwein sein. Im Jahr 2019 kommt als Element (Feuer, Erde, Metall, Wasser, Holz) die Erde hinzu, wir haben es also diesmal mit einem veritablen Erdferkel zu tun. Beim „Chinese Light Festival“ hier in Köln gab es die chinesischen Sternzeichen auch als Lichtfiguren. Das Schweinchen war zwar extrem pink und für meine Augen auch ziemlich kitschig, aber vielleicht bringt es uns ja genau die richtige dringend benötigte Extraportion Glück?

Auch diese Ferkelchen habe ich in „Beamish“ getroffen (Foto: BFL)

Good Luck und viel Glück!

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