September Mood

Kürbisstunden (Alex Geerts/unsplash)

Das Weinlaub färbt sich langsam rot und wird von meinen Nachbarn wie jedes Jahr genau im Moment vor der Verzauberung einfach abgeschnitten. Komischerweise haben es die Nachbarn davor ganz genau so gemacht. Die wenigsten Leute mögen Kletterpflanzen, weil sie viel zu „wild“ sind und sich nicht an Grundstücksgrenzen halten, aber mein Wein und Efeu wächst zum Glück auch in anderen Gartenecken. Hier darf er sogar aufs Garagendach und wird erst geschnitten, wenn er seine prächtigen Blätter selbst verschenkt hat. Auf der Terrasse erfreut mich noch eine späte Clematis in verschiedenen Lilatönen, und merkwürdigerweise blühen seit ein paar Tagen sogar zwei Frühlingsprimeln.

Jeden Abend scheint es die Dunkelheit ein wenig eiliger zu haben. Endlich sind sie da, die ersten kühlen Nächte. Das erste wohlig leichte Frösteln, die ersten Pullover- und Strickjacken-Stunden mit Büchern, Decke und Gewürztee, meine heitere Septemberstimmung nach der langen inneren Sommerlähmung. Jetzt kommt die Zeit der Pilze und Nüsse, der Plätzchen und Schokolade, der Äpfel und Birnen. Die Zeit der vielen Gerüche und Düfte. Die Zeit der Gedichte, Ideen und neuen Bilder.

Spinnenkunst (unsplash)

Vorige Woche habe ich meinen ersten Zierkürbis erstanden. Im Blumenladen im Belgischen Viertel, wie jedes Jahr. Ein Ritual, das ich immer wieder genieße. Meine produktivste Schriftstellerzeit kann beginnen. Der Ahorn am Teich macht sich bereit für seine wundersamen Metamorphose. Das ganze Jahr über ist er unauffällig grün, im Herbst fängt er Feuer. Auch die Perückensträuche werden bald leuchten und glühen, aber das ahnt man nur. Immer mehr zartlila Asternknospen öffnen sich. Die dicken Chrysanthemenbüsche explodieren, und morgens glitzern die Spinnweben. Bald schwelgt die Natur wieder in Orange, Rot und Gelb. Normalerweise sind das gar nicht meine Farben, aber im Herbst liebe und bewundere ich sie.

Farbrausch (BFL)

Selten habe ich meine liebste Jahreszeit so herbeigesehnt wie in diesem Jahr. Es war ein harter, heißer Sommer. Für Menschen, Pflanzen und Tiere. Besonders übel für Personen mit empfindlicher Haut und Sonnenunverträglichkeit. Nur 2003 war es noch heißer. An den Sommer erinnere ich mich sehr genau, denn in dem Jahr spielt mein nächstes Buch. Meine Romankinder haben ihr eigenes Wort für die Hitze: Kamelwüstenwetter. Die Luft war aufgeladen, die Tageshitze kaum zum Aushalten, die Nächte waren tropisch. In den Pflegeheimen starben damals viele Senioren, weil sie zu wenig tranken. Ganz Europa ächzte in der Glut. Mein Mann und ich flohen schließlich zusammen mit meiner Buchfamilie in ein einsames Haus in die Bretagne, versteckt zwischen Hortensien und Rosmarinsträuchern, und dort saß ich abends an einem langen Tisch bei Kerzenschein zusammen mit Marigard, meinem Buchmädchen, während draußen das Käuzchen schrie. Marigard diktierte, ich schrieb. Einmal hat uns sogar eine Schleiereule erschreckt.

Der letzte Sommer war leider sehr viel trockener als der Sommer 2003. Ich habe noch nie so viel Wasser in unseren Garten gepumpt. Eibe und Kirschlorbeer, sonst überaus genügsam, brauchten Sonderrationen, Lebewesen, die man sonst kaum bemerkt, benötigten dringend Hilfe. Dehydrierte Eichhörnchen, Mäuse, Vögel, sogar Insekten. Bei jedem Gießen umschwirrten mich gierige Wespen, die vor Durst ganz wild waren und sich sofort auf den nassen Blättern niederließen. Ich habe ihnen täglich kleine Wasserschalen hingestellt. Trotzdem hat mich eine von ihnen übel erwischt. Dank meiner hochsensiblen Haut habe ich zwei Wochen lang intensiv an die blöde Wespe gedacht. Aber wo bleiben dieses Jahr bloß meine Stachelfreunde?

Herbstigel (Piotr Laskawski/unsplash)

Die vier Igel, ganz unterschiedlich groß und alt, die sich im letzten Herbst und im Frühjahr bei uns jeden Abend satt gefuttert haben, sind immer noch verschwunden. Vor allem die niedliche Igeline, die immer pünktlich kurz vor der Dämmerung eintraf und sogar zutraulich über unsere Schuhe lief, fehlt mir. Ich hoffe, sie leben noch und haben die Hitze gut überstanden. Aber wo mögen sie sein? Unser Haus liegt leider an einer der meistbefahrenen Straßen Kölns. Hat sie jemand überfahren? Sind sie verdurstet? Ob die Igeline überhaupt noch mal wiederkommt?

unsere Igeline (BFL)

Die vier Igelhäuser stehen bezugsbereit, und jeden Abend stelle ich kleine Testmengen Futter nach draußen. Für alle Fälle. Bisher blieben die Tellerchen unberührt. So lange haben die Stachelritter noch nie auf sich warten lassen, und ich mache mir Sorgen. Warum sind sie nicht hier in meinem Garten geblieben? Ich hätte ihnen so gern durch die brütende Hitze geholfen. Und Wasser gab es bei uns wirklich mehr als genug.

Pumpkin Time mit Katzenpfote  (Yulia Chinato/unsplash)

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Mülhausen revisited

unser ehemaliges Klassenzimmer, beim letzten Besuch, Ende der 1980er Jahre

Am 21. September werde ich meine alte Schule wiedersehen. Diesmal nicht als schüchterne Schülerin, sondern als gestandene Schriftstellerin. Einige wenige meiner damaligen Lehrerinnen leben noch. Ob sie da sein werden? Ob sie sich noch an mich erinnern? Hoffentlich werde ich auch ein paar ehemalige Klassenkameradinnen treffen. Ich bin sehr gespannt, wie es sich anfühlen wird, an den Ort meines zweiten Niederrhein-Romans zurückzukehren. Bei mir heißt er „Niersbeck“. Aus naheliegenden Gründen. Marlies und Winnie, die beiden Freundinnen im Buch, werden mich zum Glück begleiten, leise miteinander tuscheln und möglicherweise noch aufgeregter sein als ich.

Wie schade, dass meine Eltern nicht mehr leben. Sie hätten sich bestimmt gefreut und stolz in der ersten Reihe gesessen. Und wie schade, dass die echte Winnie, meine Freundin Kornelia, nicht da sein kann. Schon drei Jahre ist sie tot. Merkwürdigerweise jährt sich ihr Sterbetag genau am Tag meiner Lesung. Ein Zufall, der sie bestimmt amüsiert hätte. „Et jibt keine Zufälle, dat weißte doch!“ höre ich sie sagen. „Nie im Leben!“

Der Schulpark beim letzten Klassentreffen – Ende der 1980er Jahre

In unserem Versteck im Park haben wir damals oft philosophische Gespräche geführt und auch darüber gesprochen, wie wir uns das Leben nach dem Tod vorstellen. Genau wie Marlies und Winnie im Buch:

„Wat bedeutet Paradies überhaupt? Is‘ man da immer glücklich oder wat? Is‘ man da einfach bei Gott oder in ’nem anderen Land mit Bäumen und Tieren? So wie Adam und Eva. Oder in ’ner Schattenwelt wie im Hades?“

Winnie legte die Stirn in Falten und dachte nach. Sie hatte erstaunlich klare Vorstellungen vom Leben nach dem Tod. „Wenn man tot is‘, kann man all dat tun, wat man immer schon mal tun wollte. Man kann sich verwandeln in wat man will. In jedes Tier. Un‘ auch in Bäume. Oder Steine. Man kann fliejen bis über die Wolken. Man kann unter Wasser atmen un‘ bis zum Meeresjrund tauchen wie die Wale. Un‘ singen wie die Lorelei. Man kann sojar in der Zeit rumreisen. Auch zu den Dinosauriern. Un‘ zu den Indianern in die Canyons. Einfach alles. Un‘ dat bis in alle Ewigkeit.“ Die Vorstellung gefiel mir. Dann hatte also jeder Mensch sein eigenes Paradies?

„Ob lebende Menschen einen noch spüren können, wenn man tot is‘?“

„Nich‘ alle“, meinte Winnie. „Nur die wichtijen. Un‘ auch nur, wenn dat beide wollen. Dann kann man denen einfach im Traum erscheinen. Oder die können einen rufen, und dann kommt man.“

„Un‘ wie is‘ dat bei uns? Wenn einer von uns tot is‘ un‘ der andere noch lebt?“ Ein schrecklicher Gedanke. „Ob wir uns dann auch noch spüren können?“

„Wir janz bestimmt! Wir sind doch Blutsschwestern!“ (aus: „Mit Winnie in Niersbeck“)

Wie mag der alte verwunschene Park heute aussehen? Man hat mir erzählt, dass ein Großteil der Bäume einer Rasenfläche weichen musste. Gibt es unseren Schwanenteich noch? Duftet es in der Schule immer noch so vertraut nach Kreide und Bohnerwachs? Die Stimmung in den Fluren wird mit Sicherheit anders sein, denn heute gibt es so gut wie keine Ordensschwestern mehr, die mit flinken Schritten und dem leisem „Wusch“ ihrer Gewänder um die Ecken biegen oder mit einem leisen „Plopp“ unverhofft vor einem aus dem Boden schießen. Die ehemalige Klosterschule nur für Mädchen ist heute ein modernes Gymnasium, das selbstverständlich längst auch von Jungen besucht wird. Die strengen Kleiderregeln von damals gibt es heute zum Glück nicht mehr. Bei uns waren lange Hosen und ärmellose Kleider streng verboten. Und lange Haare durften auf keinen Fall offen, sondern nur als Pferdeschwanz getragen werden. So lange ist das her.

Wie wird es sich anfühlen, nach all der Zeit mit vorsichtigen Schritten zurück in die Vergangenheit zu gehen? Ich werde in der alten Bibliothek lesen, vielleicht ist die Zeit dort ja ein wenig mehr stehen geblieben? Auch die Bibliothek hatte immer ihren ganz eigenen Geruch. Es roch dort ein wenig nach Gewürzen und sehr „buchig“. Auf jeden Fall nehme ich meine Kamera mit und werde mich anschließend ausgiebig mit Marlies und Winnie unterhalten. Mit Sicherheit sehen sie mehr als ich, denn ich muss ja lesen, während sie sich ungehindert umschauen können.

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Hochsensibel im Hochsommer

Marco Polo

Aus hochsensiblen Temperaturgründen bin ich jedes Jahr den ganzen Sommer lang völlig schachmatt. Meine Alarmanlage springt schon bei etwa 25° heftig an und gerät bei über 30° sogar völlig außer Kontrolle. Was andere Menschen als schönen Sommertag empfinden, ist für mich nur Quälerei. Meine innere Zündschnur ist dann nur ganz kurz, vor allem, wenn mich dann auch noch jemand oder etwas in meiner Umgebung nervt. Bei Lärm und lauter Musik klinke ich dann völlig aus.

Schreiben geht im Sommer gar nicht (was mich in prä-hochsensibler Zeit oft in Panik versetzt hat), Überarbeiten von Texten oder Korrekturlesen funktioniert noch so grade. Das einzige, was noch Spaß macht, ist das Abtauchen in eine Welt jenseits der Hitze, in Bücher (einen Sommer lang las ich immer wieder „Die Nebel von Avalon“) oder kühle Filme (ich erinnere mich noch sehr gut an den Sommer, in dem ich nur Filme mit viel Wasser sah, etwa „The Deep Blue“, und dabei die Füße in einem Eimer mit kaltem Wasser hatte). Seit etwa drei Jahren habe ich nun die hochsensiblen Mäuse, die mich hervorragend ablenken, denn bei den hohen Temperaturen trocknen meine selbstgebauten Häuser und Möbel im Handumdrehen. Ich brauche nicht nachzudenken, ich kreiere einfach alles, was mir so in den Kopf kommt, und freue mich auf den Herbst. Mit Pappmaché, Holz und Farben wollte ich ohnehin immer schon mal „richtig“ arbeiten und experimentieren und bin nie dazu gekommen. Im Kleinen kann man sogar Vermessungsfehler ganz gut reparieren. Es gibt inzwischen außerdem wunderschöne Kreidefarben in allen möglichen Farben, die ungiftig, wasserlöslich und nahezu geruchsneutral sind. Außerdem kann ich alles auf dem großen Gartentisch aufbauen und nach Herzenslust fotografieren, was im Herbst und Winter nicht geht, weil die Mäuse nicht wegfliegen oder naß werden dürfen.

Die Mäuse helfen beim Ladenbauen

Im vorigen Jahr habe ich Piraten- und Strandhäuser gebaut, dieses Jahr einen Wohnwagen und einen Buchladen. Er ist fast fertig, und ich habe schon ziemlich viele Mini-Bücher und Regale gemacht. Sogar nach eigenen Entwürfen, mit Pappe und Balsa Holz. Beim Basteln und Bauen kann ich mich ganz gut entspannen und merke nicht mehr so sehr, wie arg mir die hohen Temperaturen zusetzen.

Der neue Mausladen

Ich kann mich nur an zwei Sommer erinnern, die ähnlich heiß und drückend waren. Im ersten war ich noch Studentin und musste mich dringend auf meine Zwischenprüfung vorbereiten. Ich wohnte im Studentenheim direkt unter dem Dach und kam vor Hitze fast um. An Schlaf war nachts nicht zu denken. Der einzige Ort in Köln, der dauerhaft kühl blieb, war der Dom. Dort habe ich mich dann tatsächlich fast jeden Tag in meine Lieblingsecke gesetzt und alles Mögliche auswendig gelernt. Den größten Teil der Nächte verbrachte ich im Volksgarten, denn das Studentenheim war nur wenige Minuten entfernt. Der zweite brüllheiße Sommer war 2003. Ein Jahrhundertsommer! Ich war völlig fertig mit der Welt. Genau in dem Jahr spielt zufällig mein nächstes Buch, für das ich jetzt nur noch einen Verlag finden muss. Aber das komplizierte Anschreiben, in dem jeder Satz sitzen muss, verschiebe ich besser auf einen kühleren Tag. Es ist ohnehin vor allem ein Herbstbuch, denn ich habe es von Halloween 2002 bis Halloween 2003 geschrieben. Eine selbstgesetzte Frist. Halloween ist für die Buchfamilie noch wichtiger als Weihnachten und alle Geburtstage zusammen.

Vielleicht macht mir meine kleine Mauswelt auch deshalb so viel Freude, weil wir die Weltpolitik und der Klimawandel seit einiger Zeit so viele Sorgen und Angst macht. Die Mauswelt ist friedlich und überschaubar, der Umgangston ist freundlich und rücksichtsvoll, keiner pöbelt oder beleidigt, und die vielen kleinen Mauswanderer aus aller Herren Länder leben einträchtig zusammen, helfen und trösten einander und genießen jeden neuen Tag. Da sie alle ihre eigene Biografie und Geschichte haben, sind sie für mich inzwischen ohnehin richtige kleine „Persönlichkeiten“. Sie sprechen mit mir, und ich denke mir viele kleine Geschichten aus, die hoffentlich auch bald in einem Buch ihren Platz finden.

Bühnenzauber

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Frühling am Niederrhein – mit Ulla Genzel

„Träumende Weiden“ (Ulla Genzel)

Ein wenig sind die Bilder meiner Freundin Ulla Genzel in den letzten Jahren meine ganz persönliche Tür zum Niederrhein geworden. Seit meine Eltern nicht mehr leben, bin ich nur noch selten dort. Doch in Ullas Bildern kann ich jederzeit völlig unbeschwert umherwandern und nicht nur Szenen aus meiner Kindheit, sondern sogar aus meinen Büchern entdecken. Jetzt im Frühling kann ich aus der Ferne zusehen, wie die knorrigen Kopfweiden, die im Winter so traurig und gestutzt als Wächter an den Flüssen stehen, zartgrün austreiben, bis sie richtig grüne Blätterperücken haben, und finde auch meine blaue Hasenblumenwiese wieder.

„Blue Bells“ (Ulla Genzel)

Ich kann mich nur zu gut erinnern, wie unsere Gärten und die Weiden und Wiesen an Nette und Niers im Frühling aussahen und rochen. Den Duft habe ich mir zum Teil auch in meinen Garten geholt. Auch hier wachsen Hyazinthen, Hornveilchen und Dichternarzissen, auch hier blühen gerade Ranunkelstrauch, Forsythien,  Scheinquitte, Holzapfelbaum, Obstbäume und schwefelgelber Ginster. Bei Ulla kann ich im Frühling sogar noch nach Herzenslust mit nackten Füßen durch die Felder laufen und den ersten Klee und Löwenzahn für meine Kaninchen pflücken. Besonders schön finde ich die versteckten kleinen Details, die man erst auf den zweiten Blick entdeckt. Manchmal ist es eine Zahl, die für Ulla eine besondere Bedeutung hat, ein andermal ein roter Luftballon, und hier bei den Frühlingsblumen ist es eine vorwitzige kleine Maus, die rechts unten aus dem Grün lugt.

„Frühlingsduft“ (Ulla Genzel)

Auch an die kleinen wilden Stiefmütterchen erinnere ich mich jetzt wieder, an das zierliche Wiesenschaumkraut, die ersten Schlüsselblumen und Windröschen, die wiegenden Schachbrettblumen an den zerbrechlichen Stängeln, an die ersten Wiesenblumensträuße, die wir von unseren Ausflügen mit nach Hause brachten. An den Geruch der Felder an einem milden Frühlingstag kurz vor dem Regen, wenn die Luft plötzlich irgendwie anders wurde, sich ein klein wenig kälter anfühlte und ein klein wenig strenger roch, und der Himmel sich auf einmal ein klein wenig grauer und trüber färbte. Damals fanden wir es schön, mitten im Feld zu stehen und uns beregnen zu lassen wie von einer sanften, erfrischenden Himmelsdusche, bevor wir notgedrungen den Schirm aufspannten. Zu nass durften wir ja nicht werden, das wäre aufgefallen! Bei uns zu Hause gab es damals nur eine langweilige Badewanne, die leider bloß einmal die Woche benutzt wurde. Traditionelle Familienbadezeit war samstags, nach dem Autowaschen, und man tat gut daran, als erste ins Wasser zu steigen, weil es dann noch schön heiß war. Am besten mit einer tiefgrünen „Fichtennadel“-Badetablette. Auf dem roten Höckerchen neben der Wanne stand das kleine Kofferradio. Ich setzte alles daran, pünktlich zu „Die großen Acht von Radio Luxemburg“ ins grüne Wasser zu steigen.

„Osterhase“ (Ulla Genzel)

Der einsame Waldwiesenweg erinnert mich an die vielen Fahrradtouren, die ich als Kind und Jugendliche mit meiner Freundin Winnie machte. Meistens fuhren wir in die Süchtelner Höhen, weil es da so schön einsam war. Es gab da eine ganz besondere Stelle, wo es so steil bergab ging, dass man das Gefühl hatte zu fliegen. Ich höre noch die Bienen und Hummeln, die vielen Singvögel und all die kleinen Tiere, die unsichtbar im Gras wisperten und wuselten, und spüre den weichen Waldboden unter meinen Füßen. Winnie und ich hatten immer genug zu essen und zu trinken dabei, um ein kleines Picknick zu machen. Es gab meistens Butterbrote mit „frischem Holländer“, eine Flasche Sprite und natürlich Plätzchen von de Beukelaer. Schließlich bekamen wir jede Woche freitags eine große braune Tüte mit Bruchkeksen aus Kempen mitgebracht. Wir waren ganz allein, weit weg von unserem Dorf, in einer anderen Welt, ganz nah bei Winnetou und Old Shatterhand, den sprechenden Tieren und all den Mythen und Märchen aus aller Welt, die wir so spannend fanden.

„Frühlingserwachen“ (Ulla Genzel)

Die drei lebenslustigen Damen, die auf Ullas Bildern immer wieder auftauchen und leicht schräg und bestens gelaunt (sogar bei Schnee und Regen!) durchs Leben tanzen, erinnern mich stark an mein kuchensüchtiges Tante Finchen aus den beiden „Winnie“-Büchern. Schade, dass meine anderen Großtanten nicht so unternehmungslustig und weltoffen waren wie Finchen – besonders die strenge Tante Pia. Sie war Finchens krasses Gegenteil, immer etwas säuerlich und ständig „auf Diät“. Zum Glück hatte Finchen für ihre Ausflüge ihre beiden Freundinnen aus dem Kirchenchor! Da Finchens Lieblingsfarbe Blau war, würde ich fast wetten, dass nur sie die Dame links auf der Bank sein kann. An genug Proviant für die Radtour (am Niederrhein heißt das Fahrrad übrigens „Fiets“) hätte sie bestimmt auch gedacht. „Essen hält Leib und Seele zusammen“ war schließlich ihr Lebensmotto.

„Fietstour über die Binnenheide“ (Ulla Genzel)

Wer weiß, vielleicht hat Ulla mein Tante Finchen ja mal getroffen? Meine Großtante war schließlich oft genug in Kevelaer und irgendwann bestimmt auch mal im „Kevelaer Kaffeehaus“. Finchen war nicht von ungefähr Spezialistin für alles, was man in Konditoreien erwerben kann. Schließlich war sie die Tochter eines Konditors, der am gesamten Niederrhein für seine exzellente „Grillagetorte“ berühmt gewesen war. Von ihm stammte auch Finchens Rezept. An den Kuchen habe ich mich beim Schreiben urplötzlich wieder erinnert und ihn beim nächsten Niederrhein-Trip dann auch endlich mal wieder gegessen. Leider war er längst nicht so gut wie der von Tante Finchen! Viel zu süß!

Wer mag, kann meine Niederrhein-Erinnerungen in den beiden Büchern „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“ nachlesen. Zu Ulla Genzel habe ich hier auf meiner Homepage übrigens schon mehrere Beiträge geschrieben. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten: „Sommer am Niederrhein – mit Ulla Genzel“.

„Aber bitte mit Sahne“ (Ulla Genzel)

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Weißer Sonntag am Niederrhein

Tante Pia und St. Blasius

Tante Pia war in unserer Familie die höchste Instanz für alles Kirchliche und Religiöse. Sie kam direkt hinter dem Papst, dem Herrn Pastor und dem Herrn Kaplan. Anfang Februar nahm sie mich immer mit, wenn sie an Maria Lichtmess ihre Kerzen segnen ließ, mit denen sie die ganze Familie versorgte, und danach bekamen wir beide den Blasiussegen. Ich war dabei immer ziemlich aufgeregt. Der Herr Pastor stand mit zwei gekreuzten brennenden Kerzen da, segnete uns den Hals und sagte dabei: „Auf die Fürsprache des heiligen Blasius bewahre dich der Herr vor Halskrankheit und allem Bösen.“

Dann kam der Ziegenpeter

So richtig schien der Heiligenschutz bei mir nicht zu funktionieren, denn ausgerechnet eine Woche vor meiner Erstkommunion schwoll meine linke Backe plötzlich an, bis sie doppelt so dick wie die andere war. Es tat schrecklich weh. Ich konnte den Kopf nicht mehr richtig bewegen, nicht mehr normal kauen und schlucken und kaum noch sprechen. Meine Mutter packte mich ins Bett und machte mir unbequeme warme Umschläge. Mit Öl! Nach drei Tagen wurde auch die andere Backe dick. Nicht ganz so dick wie die linke, aber trotzdem sah aus ich wie ein Monster oder wie mein Goldhamster, wenn er sich die Backentaschen vollgestopft hatte.

Unser Hausarzt Doktor Engels kam, sah und diagnostizierte Mumps, auch Ziegenpeter genannt. Den kannte ich schon aus meinen Heidi-Büchern, und das sagte ich ihm auch. „Der heißt aber nicht Ziegenpeter, sondern Geißenpeter“, erklärte Doktor Engels. „Aber Sie wollen mich jetzt nich’ operieren, oder?“, erkundigte ich mich ängstlich und dachte an Opas schiefen Hals. „Nein“, sagte Doktor Engels, „das braucht man nicht zu operieren, das geht von ganz allein wieder weg. Man muss nur ein wenig Geduld haben.“ Ich war am Boden zerstört. Das sollte mein schönster Tag werden? In diesem Zustand konnte ich ja wohl kaum Bräutchen sein! Inzwischen konnte ich nur noch Flüssiges zu mir nehmen, weil mir das Schlucken so wehtat.

Doktor Engels hatte mir strenge Bettruhe verordnet, doch ich wollte unbedingt mit den anderen zur Erstkommunion gehen. Auf das Kränzchen mit den kleinen Stoffrosen und das schöne weiße Bräutchenkleid hatte ich mich monatelang so gefreut. Sämtliche Verwandten legten ein gutes Wort für mich ein, vor allem Tante Pia redete mit Engelszungen. Am Ende wurde Doktor Engels schwach, und so zog ich mit Ziegenpeter und geschwollenen Mumpsbacken zusammen mit den anderen Kindern in die Kirche.

Mein schönster Tag?

Doch alles lief schief. Man hatte uns leider der Größe nach eingeteilt, so dass ich nicht neben meiner besten Freundin Winnie ging, sondern neben Martina, die zwar genauso groß war wie ich, aber sonst nur selten mit mir zusammen war. Die arme Martina war auch ein Mumpskind, allerdings schon auf dem Wege der Besserung. Nein, mein schönster Tag war es ganz gewiss nicht. Eher einer meiner schlimmsten. Weil mein Hals so weh tat, konnte ich kein bisschen andächtig sein und litt während der endlos langen Messe wahre Höllenqualen.

Dummerweise klebte mir im feierlichsten aller Momente auch noch die Hostie am Gaumen fest. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Mit der Zunge kriegte ich sie nicht runter, mit den Fingern ging es auch nicht, weil sie ja heilig war und man sie nicht berühren durfte, und mir war so gar nicht mehr würdevoll und feierlich zumute, sondern nur noch schrecklich elend. Vielleicht hatten die Ärzte ja doch Recht, wenn sie einem strikte Bettruhe verordneten? Nach dem großen Ereignis musste ich sofort wieder ins Bett und bekam wieder Umschläge mit ekligem warmem Öl um den Hals. Hunger hatte ich auch keinen, denn mir war übel. Meine vielen Gäste saßen derweil unten im Wohnzimmer und genossen die Festtafel. Sie hatten es gut! Ich hätte heulen mögen.

Frau Mahlzahn und Odysseus

Wirklich trösten konnte mich an diesem Tag nur der große Tisch mit den Geschenken, denn zwischen den unzähligen Reisenecessaires, Poesiealben, Handtüchern und Blumensträußen befanden sich auch etliche Bücher, unter anderem die neuesten Bände von „Hanni und Nanni“, aber vor allem zwei ganz besondere Kostbarkeiten. „Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab und „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ von Michael Ende. Beide Bücher durfte ich mit ins Krankenbett nehmen, und sie schafften es tatsächlich, dass ich für kurze Zeit meine Mumpsbacken vergessen und in andere Welten abtauchen konnte. Den ersten Tag verbrachte ich mit Jim und Lukas in Lummerland und Kummerland, traf Frau Waas, die Lokomotive Emma, Frau Mahlzahn, den kleinen Ping Pong, Prinzessin LiSi und den Scheinriesen Herrn Turtur, und an den folgenden Tagen bestand ich die aufregendsten Abenteuer mit Odysseus, Achill, Hektor, Ariadne, Poseidon, Herkules, Persephone und vielen, vielen anderen Helden. Es war einfach wunderbar, auch wenn der Hals noch so weh tat.

Mein Vertrauen in den Heiligen Blasius war danach stark erschüttert. Entweder er hatte versagt, was nicht sein konnte, wenn man Tante Pia und den anderen Großtanten Glauben schenkte, oder er konnte mich einfach nicht leiden. Ich fürchte, mit der zweiten Vermutung lag ich ganz richtig. Ich hatte als Kind auffallend oft Halsschmerzen und ständig geschwollene Drüsen. Vor allem am Hals und an den Ohren, den Spezialstellen des Heiligen.

(Erinnerungen aus „Mit Winnie in Kattendonk“ und „Mit Winnie in Niersbeck“)

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