Easter Tuesday
Dad.
thinking of you.
hope you are safe now.
On the other side.
Dad.
thinking of you.
hope you are safe now.
On the other side.
Dad
come fly with me
to the ancient trees.
Andersens Märchen haben mich als Kind traurig gemacht, aber auch oft getröstet. Besonders das vom häßlichen Entlein. Weil es gut ausging nach all dem Kummer. Ich verstand das häßliche Entlein, das überall aneckte, so gut. Ich fand Entenküken auch wunderschön, sie waren so niedlich, gelb und flauschig. Auch ich hatte das Gefühl, dass ich nicht dazugehörte. Ganz und gar nicht. Irgendwas war schief gelaufen bei mir. Ich war nicht niedlich, gelb und flauschig. Eher grau, unsicher, ungelenk, fehl am Platz. Und das Gefühl, dass andere deswegen auf mir herumhackten und mich zwackten, kannte ich auch. Es tat weh und bedrückte mich. Was machte ich falsch? Warum konnte ich nicht sein wie die anderen? Warum war ich so allein? Warum wurde ich dauernd mit den anderen verglichen? Meine Mutter versuchte zwar, mich zu beschützen, aber richtig zufrieden war sie auch nicht mit mir.
„Pfui! Wie das eine Entlein aussieht, das wollen wir durchaus nicht dulden!“ Und sogleich flog eine Ente hin und biss es in den Nacken. „Lass es in Frieden!“, sagte die Mutter, „es tut ja niemand etwas.“ „Ja, aber es ist zu groß und ungewöhnlich“, sagte die beißende Ente, „und deshalb muss es gezwackt werden.“ „Es sind hübsche Kinder, die uns die Mutter da vorführt“, sagte die alte Ente mit dem Lappen um das Bein, „alle sind sie schön, bis auf das eine, das ist nicht geglückt. Man möchte, dass sie es umarbeiten könnte.“
Wer gleichzeitig ängstlich, schüchtern und dünnhäutig ist, merkt meist schon früh, dass mit ihm etwas nicht stimmt, fühlt sich ausgegrenzt und unverstanden, empfindet sich als „falsch“, vielleicht sogar als krank. Leider finden das auch die anderen, manchmal sogar die eigenen Eltern. Ratschläge und Tadel gibt es wie Sand am Meer, man kann sie nur nicht umsetzen. Sätze wie „Du fühlst einfach zu viel!“, „Stell dich nicht so an!“ oder „Du musst dir ein dickeres Fell zulegen!“ sind den meisten zart besaiteten Menschen bereits in der Kindheit wohlvertraut. „Das ist doch nicht normal!“, sagten auch meine Eltern. „Das Mädchen ist lieber allein als mit anderen Kindern zu spielen.“ Ich war tatsächlich am liebsten allein, dann hatte ich wenigstens keinen Stress. Die anderen machten mir Angst.
„Kannst du Eier legen?“ fragte die Henne. „Nein.“ „So wirst du schweigen müssen!“ Und der Kater fragte: „Kannst du einen krummen Buckel machen, schnurren und Funken sprühen?“ „Nein.“ „So darfst du auch keine Meinung haben, wenn vernünftige Leute sprechen.“
Bis zu meiner Erkenntnis, hochsensibel zu sein, hatte ich oft genug das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Als Kind war es nahezu unerträglich. Meine Angst- und Stresspegel waren chronisch erhöht. Ich war schüchtern und traute mir nichts zu. Ich war extrem verletzlich (nicht etwa nachtragend, wie die anderen meinten, weil es so lange dauerte, bis ich mich wieder erholte) und sprach offenbar eine Sprache, die niemand verstand. Ich fühlte mich ausgeliefert, schutzlos, überempfindlich. Kam ich etwa von einem anderen Stern? Ich war „nicht geglückt“, genau wie das hässliche junge Entlein, nur dass aus mir bestimmt niemals ein Schwan werden würde. Nichts wünschte ich mir sehnlicher! Aber es half alles nichts. Ich war noch viel einsamer als das häßliche Entlein. In seiner Geschichte gab es ja ein Happy End. In meiner bestimmt nicht.
Das ungute Gefühl, nicht in diese Welt zu passen, hatte ich auch als Erwachsene lange noch. Ich hatte einfach zu viele Macken und Ängste. Ich begriff nicht, warum ich in bestimmten Situationen so viel mehr Stress hatte als andere, warum ich oft so erschöpft und ausgelaugt war, warum ich Einkaufszentren und Kaufhäuser hasste, bei Zeitdruck durchdrehte, in Gruppen verstummte und bestimmte Geräusche und Gerüche kaum ertrug. Gedanken, Bilder, Gefühle, alles klang bei mir viel länger nach als bei anderen. Nach einem Zahnarztbesuch war ich stundenlang fertig. Ein falsches Wort am Morgen, und der Tag war gelaufen. Oft war ich unglücklich mit mir selbst, weil ich mich trotz aller Mühe nicht ändern konnte.
„Ich gehe wohl am besten hinaus in die weite Welt!“ sagte das Entlein. „Ja, tue das!“ sagte die Henne. Und das Entlein ging; es schwamm auf dem Wasser, es tauchte unter, aber von allen Tieren wurde es wegen seiner Häßlichkeit übersehen.
Wahrscheinlich wäre mir viel Kummer erspart geblieben, wenn es das Konzept der Hochsensibilität bereits in meiner Kindheit gegeben hätte. Möglicherweise hätte man mich dann nicht so oft als „Mimose“, „Sensibelchen“ und „Zimperliese“ verspottet. Die Einsicht, dass ich einfach nur besonders feine Antennen habe und es vielen anderen Menschen genauso geht wie mir, hat mir geholfen, meine vermeintlichen „Schwächen“ anzunehmen.
Glücklicherweise kann man die vielen negativen elterlichen und gesellschaftlichen Botschaften, falschen Selbstbilder und unklaren Regeln, die man als Kind übernommen hat, als Erwachsener nachträglich noch außer Kraft setzen, indem man mit seinem inneren Kind Kontakt aufnimmt und es tröstet und stärkt. Gerade Hochsensible haben oft einen intuitiven Zugang zur eigenen Seele und verfügen über sehr gute Selbstheilungskräfte. Wer sein inneres Kind liebevoll annimmt, kann alte Wunden schließen und verschüttete Emotionen endlich zulassen und fördern. Oft stellt sich dabei sogar heraus, dass in unseren vermeintlichen Schwächen unsere größten Stärken verborgen liegen.
Man braucht nur jemanden, der einem den richtigen Weg zeigt. Das können andere Menschen sein, manchmal schafft es sogar ein einziges Buch oder der richtige Vortrag zur richtigen Zeit. Und dann stellt man eines Tages erstaunt fest, dass man gar kein hässliches Entlein mehr ist, sondern tatsächlich ein Schwan geworden ist. Und dass es noch viel mehr Schwäne auf dieser Welt gibt, die genau so sind und einen sehr gut verstehen. Aber es bleibt ein Wunder.
Aber was erblickte es da im klaren Wasser? Es sah sein eigenes Bild unter sich, und es war kein plumper, schwarzgrauer Vogel mehr; hässlich und garstig, sondern selbst ein Schwan.
(Textauszüge aus meinem Buch „Von wegen Mimose“ und aus „Das hässliche junge Entlein“ von Hans Christian Andersen; Fotos von unsplash und pixabay)
Kay Leverton: „Shamanka’s Dream“
Auf einer meiner ausgedehnten Hasensuchen fand ich auf bei Etsy (einer Plattform, auf der Künstler aus aller Welt ihre eigenen Werke anbieten) die Bilder der walisischen Künstlerin Kay Leverton und wurde auf der Stelle ihr Fan. Mit einigen ihrer Bilder habe ich vorige Woche schon meinen Beitrag „Angsthase, Pfeffernase“ untermalt. Die Frau in „Shamanka’s Dream“ ist eine geheimnisvolle Schamanin, die von den Wanderungen der Rentiere und Vögel träumt. Wenn man genau hinsieht, entdeckt man noch mehr Tiere, unten rechts springt ein Fuchs, und es gibt auch einen Schmetterling. Falter sind in vielen Kulturen Seelentiere. Entstanden ist dieses Bild tatsächlich aufgrund eines merkwürdigen „tiefen“ Traums während einer Krankheit, in dem Rentiere eine wichtige Rolle spielten.
Kay Leverton „Beneath her Robes“
Besonders angerührt hat mich das Bild von der walisischen Heiligen Melangell, die ich erst durch Kays Bilder kennengelernt habe. Sie ist nämlich die Schutzpatronin der Hasen! Sie war von vornehmer Herkunft und außergewöhnlich schön, wollte aber ihr Leben lieber Gott weihen als zu heiraten und lebte abgeschieden und allein als Eremitin. Bei einer Hasenjagd gewährte sie einem verfolgten Hasen Zuflucht unter ihrem Gewand und rettete ihn so vor den Jägern. Der junge Prinz, dem die Ländereien gehörten, war dem Hasen gefolgt und entdeckte die Jungfrau. Er sah, wie schön sie war und wie die Hunde und Jäger erschrocken zurückfuhren und keiner es wagte, sich ihr zu nähern. Daraufhin schenkte er ihr ein Stück Land, auf dem sie eine Abtei gründete. Jungfrau und Hase! Genau so ein Bild hatte ich gesucht! Kay hat Melangells Hasen noch ein zweites Mal dargestellt, wie er ruhig aus den Kleiderfalten seiner Beschützerin hervorschaut. Auch für Kay sind Hasen magische Wesen, denen sie gern nachspürt. Sie lässt sich bei ihren Bildern vor allem von der Natur und von ihrem Garten verzaubern und inspirieren und genießt es, durch die Hügel und Täler ihrer walisischen Heimat zu streifen, wo für sie „die Bäume flüstern und die Tiere sprechen“.
Kay Leverton „St. Melangell – Safe in her Arms“
Kay Leverton „Mother of Birds“
Zufällig habe ich eine Schwäche für Wales. Ich mag die walisische Landschaft und Literatur und finde auch die eigentümliche Sprache, Kymrisch oder Walisisch, hochinteressant – obwohl ich (noch) keinen Ton davon verstehe. Allein schon das Schriftbild springt einem förmlich ins Auge, manchmal mit schier endlos scheinenden Wörtern voller Konsonanten. Alle Schilder in Wales sind zweisprachig, und auch wenn Waliser Englisch sprechen, wirkt ihre Aussprache irgendwie singend und melodisch. Geheimnisvoll klingt diese Sprache, die zwar uralt, aber immer noch quicklebendig ist. „Dw yn dysgu cymraeg“, ich lerne Kymrisch, irgendwann, habe es mir fest vorgenommen, aber das dauert noch etwas. „Un gath wen“ heißt übrigens „eine weiße Katze“. Und ich liebe die Gedichte von Dylan Thomas und das „Mabinogion“, eine Sammlung von mittelalterlichen walisischen Manuskripten voll mit faszinierenden Gestalten und spannenden Geschichten, die zahlreiche Motive aus der vorchristlichen keltischen Mythologie enthalten. Es gibt sie auch in Romanform, geschrieben von der amerikanischen Schriftstellerin Evangeline Walton. Vor Jahren habe ich sie in einem Londoner Frauenbuchladen entdeckt und gleich mitgenommen. Fans von Tolkien dürften die drei Bände sicher gefallen. Aber es gibt auch das Original, u.a. in der ersten Übersetzung von Lady Charlotte Guest.
Bei einigen von Kays Bildern fühlte ich mich irgendwie an das „Mabinogion“ erinnert. Zum Beispiel an die uralte Göttin Rhiannon, zu deren Tieren nicht nur das weißes Pferd gehört, das sich immer weiter entfernt, je näher man ihm kommt, sondern auch drei magische Vögel, die „Adar Rhiannon“, und Singvögel im allgemeinen. Doch Kays „Mother of Birds“ ist eine starke, dunkle Gestalt, während die Jenseitskönigin Rhiannon stets hell und in goldenes Licht getaucht erscheint. Wenn ich einen Wunsch für die Anderswelt frei hätte, würde ich gern im Hain von Rhiannon leben und mich von Singvögeln umflattern lassen, deren lieblicher Gesang die Toten zum Leben erweckt und die Lebenden in Schlaf fallen läßt.
Kay Leverton „Waternymph“
Die Idee für das schöne Bild mit der Wassernymphe, die erstaunlicherweise auch einen Hasen beschützend im Arm hält, obwohl Hasen wahrscheinlich ziemlich wasserscheu sind, kam Kay ganz spontan, als sie eines Mittags an einem Teich saß und den Wasservögeln beim Tauchen zwischen den Seerosen zuschaute. Die Auswahl aus Kays vielen Bilder fällt mir schwer, am liebsten würde ich sie alle zeigen, all die Katzen und Eulen, Füchse und Hasen, Rentiere und Raben, Pflanzen und Blumen.
Zuerst hielt ich Kay Bilder für Radierungen oder Holzschnitte. Von Scraperboards oder Scratchboards (als Übersetzung fand ich im Deutschen nur die unschönen Bezeichnungen Schabkarton, Schabekarton und Kratzpapier) hatte ich bis dahin noch nie etwas gehört. Dabei handelt es sich um eine relativ alte Illustrationstechnik, die dem Tiefdruckverfahren ähnelt und bereits im 19. Jahrhundert genutzt wurde. Auf einen speziell für diese Technik mit weißer Kreide, Chinaton und Leim gestrichenen hochwertigen und nässebeständigen Trägerkarton, der nach dem Trocknen tiefschwarz überdruckt wird, lassen sich feinste Details und Schraffuren mit Hilfe von Nadeln (auch Radiernadeln), scharfen Spezialfedern, Cuttern oder anderen Werkzeugen durch Auskratzen herausarbeiten. Jeder Strich muss richtig gesetzt sein, da keine Korrekturen kaum möglich sind (es soll allerdings auch Reparaturtricks geben). Ähnlich wie bei Holzschnitten entsteht dabei ein Negativbild, auf dem sich feinste Haar- und Fellstrukturen wiedergeben lassen. Der Scratch Artist kann ausdrucksvolle Linien, Schraffuren und Flächen in Weiß schaffen. Die fertigen Zeichnungen stehen dann kontrastreich auf dem schwarzen Karton.
Kay Leverton „Dance of Crows“
Kay Levertons Bild mit den Vögeln und dem alten Obstbaum hat es mir besonders angetan und wurzelt in einer frühen Kindheitserinnerung an den alten Garten ihrer Großeltern. Dort sammelten sich an einem uralten Obstbaum jeden Abend flügelschlagend und lärmend unzählige Krähen, während die kleine Kay am Fenster stand und dem magischen Schauspiel gebannt zusah.
Das fertige Scraperboard Bild kann man übrigens zusätzlich auch noch farbig ausgestalten – mit Stiften, Pastellfarben, Wasserfarben oder speziellen Scraperboardfarben. In Deutschland ist Scrape Art offenbar noch nicht (oder nicht mehr) sehr bekannt, jedenfalls finde ich im Netz nur englische Tutorials. Auf jeden Fall weiß ich jetzt schon, was ich mir dieses Jahr zum Geburtstag wünsche! Ich habe mir sagen lassen, dass Scraperboard Zeichnen süchtig macht und freue mich schon darauf.
Kay Leverton
Kay Leverton arbeitet schon seit vielen Jahren als Künstlerin und läßt sich und ihre Fantasie vor allem von der Landschaft und Tierwelt ihrer walisischen Heimat beflügeln. Früher malte sie vor allem Pastell- und Acrylbilder, seit 2010 arbeitet sie mit Scraperboard und experimentiert inzwischen auch dort mit Farben.
Wer neugierig geworden ist, sollte unbedingt Kays Homepage oder ihren Etsy Shop besuchen.
Als Kind schämte ich mich, weil ich so schüchtern, ängstlich und sensibel war. Ich wollte kein Angsthase, kein Hasenherz, kein Hasenfuß, kein Feigling, kein Sensibelchen und keine Mimose sein. (Nicht von ungefähr habe ich sowohl das Hasenherz als auch die Mimose in die Titel meiner Bücher aufgenommen). Es gab und gibt viele abfällige, spöttische Bezeichnungen für ängstliche Menschen mit dünner Haut.
Merkwürdigerweise spielt der Hase dabei eine besonders wichtige Rolle. Aber warum? Der Ruf „Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase!“ (mit gleich zwei Hasen in einem Satz!) hallte mir vor allem in der Volksschule oft hinterher. Und er war alles andere als freundlich gemeint. „Mach dir nix draus!“ sagte meine Freundin Winnie dann tröstend, aber weh getan hat es trotzdem. Nicht die Wörter, sondern der Spott und die Verachtung, die darin deutlich mitschwangen. Ich wurde von den anderen negativ bewertet. Es bedeutete schließlich, dass ich mich wieder mal nicht getraut hatte. Dass ich allzu zögerlich und vorsichtig gewesen war. Dass ich eine alte Spielverderberin war. Als Übersetzerin und Sprachwissenschaftlerin bin ich dem „Kinderreim“, der mir früher so viel Kummer gemacht hat, einmal genauer nachgegangen.
„Hare on the run“ (Kay Leverton)
Hasen sind bemerkenswerte Tiere. Ich habe nie verstanden, warum ausgerechnet sie im Deutschen auf so negative Weise bewertet werden. Hasen sind alles andere als „schwach“ und „feige“. Genau wie menschliche „Angsthasen“. Wie viel Kraft brauchen Menschen mit Angst oft schon, nur um einen für andere ganz normalen Tag durchzustehen. Das „Hasenherz“, das in ihnen schlägt, ist stark und mutig. Denn nur wer Angst hat und sich bedroht fühlt, kann mutig sein. Der Jäger, der mit geladenem Gewehr dasteht, braucht keinen Mut. Der Jagdhund auch nicht. Der Hase schon. Die kräftigen Hasenfüße, auf denen der Feldhase notfalls das Weite sucht, sind schnell und geschickt. „Hasenfuß“? Hier ist es die Flucht, die als „Feigheit“ ausgelegt wird. Aber was ist die Alternative? Soll der Hase sich etwa entspannt hinsetzen und erschießen lassen? Wäre das mutig? Waren die Soldaten, die als Hasenfüße galten, weil sie nicht sterben wollten, feige?
In anderen Kulturen werden Hasen als weise verehrt, als Vermittler zwischen den Welten, zwischen Diesseits und Jenseits, als Boten der Anderswelt. Sie sind die Begleiter der Großen Göttin, haben eine besondere Beziehung zum Mond, der in den meisten anderen Sprachen weiblich ist. Beim Übersetzen hat es mir gelegentlich zu schaffen gemacht, denn all die schönen Personifizierungen der Mondin als silbern schimmernde fremdartige Frau funktionieren im Deutschen nicht. Schade, dass es bei uns nicht auch „die Mond“ und „der Sonne“ heißt. Das englische „hare“ ist geschlechtsneutral, und oft ist damit die Häsin gemeint. (Die Künstlerin Wendy Andrew hat ihr sogar ein Buch gewidmet: „Luna Moon Hare“.)
Auch die Verbindung zum Mond fehlt bei uns. Wir haben zwar den „Mann im Mond“, aber im asiatischen Raum sind es das „Kaninchen im Mond“ und der „Hase im Mond“. Im chinesischen Zodiac gibt es sogar das Sternzeichen „Hase“. Auch in der keltischen Tradition kennt man ihn gut, den „lunar hare“, den Mondhasen, und den „celestial hare“, den Himmelshasen. Hasen galten früher sogar als Zauberwesen, als magische Tiere, und genau wie Katzen als Hexenbegleiter, als Freund weiser, zauberkundiger Frauen. Man glaubte sogar, sie könnten ihre Gestalt wechseln. Auch Hexen konnten sich angeblich in Hasen verwandeln und wurden mancherorts daher als Hasenfrauen bezeichnet. Auch hier wurden die Hasen eher mit dem weiblichen Prinzip verbunden. Tief berührt haben mich die Bilder von der träumenden Göttin mit ihrem Hasen. Ja, so sehe ich die beiden auch.
„Hare Huggle“ (Wendy Andrew)
Wie konnte aus der bewunderten magischen Gestaltenwandlerin ein Wesen werden, das man als feige und ängstlich verachtet? Vielleicht liegt es nur an einem Missverständnis? An einer Beobachtung in der Natur, aus der man die falschen Schlüsse zog? Hasen stellen sich bei Gefahr scheinbar tot und drücken sich mit weit geöffneten Augen eng an den Boden. Weit aufgerissene Augen sind auch ein Symptom von Angst. Verharren und Erstarren ebenso. Man kann vor Angst tatsächlich wie gelähmt sein, unfähig sich zu regen. Allerdings trifft dies auf den Hasen nicht zu. Er ist vielmehr aufs Äußerste gespannt, bereit, jeden Moment zu flüchten und „todesmutig“ um sein Leben zu rennen. Wenn das Totstellen und Verstecken nicht mehr funktioniert, gibt er „Fersengeld“, so schnell er nur kann. Dann sieht man irgendwann nur noch seine langen kräftigen Hinterläufe, die „Hasenfüße“. Still am Boden zu verharren, wenn einem Jagdhunde und Jäger an den Pelz wollen, hat sicher schon viele Hasenleben gerettet. (In manchen übermächtigen Angstsituationen habe ich das auch schon gemacht.) Die Tiere sind dabei hellwach, mit allen Sinnen. Sicher haben sie dabei Angst und ein heftig klopfendes Hasenherz, aber das ist in dieser Situation der höchsten Bedrohung ja wohl verständlich. Durch ihre Tarnfarbe scheinen sie beim „Stillhalten“ mit ihrer Umgebung zu verschmelzen, und oft genug gelingt es ihnen auch, unentdeckt zu bleiben. Was soll daran verwerflich sein?
Hasen sind keine aggressiven Angreifer. Sie sind Fluchttiere. Sie haben keine Waffen. Sie können sich nicht verteidigen, genauso wenig wie viele ängstliche Hochsensible. Hasen können nur versuchen, sich zu verbergen, oder hakenschlagend flüchten. Beides tun sie mit großem Geschick. Wir können nur von ihnen lernen. Ein rennender Hase kann einen tierischen Verfolger beneidenswert gut abschütteln und verdutzt ins Leere rennen lassen, aber gegen eine Truppe Jäger, die ihn mit geladenen Gewehren einkreisen, ist er natürlich machtlos. Ich weiß, wovon ich spreche. Ich komme aus einer Familie von Jägern und habe die Hasenhatz und die Jagd insgesamt immer gehaßt. Nie würde ich einen Hasen oder ein Kaninchen essen, und oft genug habe ich den „Balg“ eines totgeschossenen Hasen oder Kaninchens mitleidig gestreichelt, leise nach innen geweint und dem toten Tier in Gedanken Abbitte geleistet. „Es tut mir so leid! So unendlich leid!“
Es ist mir eine Ehre, mit Hasen in Verbindung gebracht zu werden, egal ob in Angst-, Fuß oder Herzform. Sie sind schon seit langem meine Seelentiere. Vielleicht schon seit meiner Geburt. Mein Lieblingsspielzeug war ein ziemlich hässlicher großer Stoffhase namens Hupp. Ohne Hupp ging gar nichts. Als Kind hatte ich immer Kaninchen. Stundenlang saß oder lag ich bei ihnen. Sie schliefen auf meinem Schoß oder neben mir im Stroh, sie bekamen ihre Babys in meine Hände. Ich habe auf den Feldern Klee und Löwenzahn für sie gesammelt und habe sie versorgt, wenn sie krank waren. Ich brauche mich heute nur vor einen Kaninchenstall zu stellen, und schon kommen mir bei dem vertrauten Heuduft und dem Anblick der kleinen Wackelnasen die Tränen.
„Hare Vase and Cowslips“ (Kay Leverton)
Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase! Angeblich ist es nur die erste Zeile eines „lustigen“ Abzählreims (Lustig? So steht es jedenfalls überall im Netz), aber soweit ich mich erinnern kann, wurde er nie zum Abzählen benutzt, sondern ausschließlich als Beleidigung. Meist begleitet von lautem, spöttischen Lachen oder verächtlichen Grinsen. Verletzt hat mich nur der Spott, nie der Vergleich, denn ich habe Hasen und Kaninchen schließlich aus ganzem Kinderherzen geliebt. Auch die Pfeffernase war mit egal, schließlich wußte sowieso keiner, was damit gemeint war. Daran hat sich bis heute wenig geändert. Ich habe lange vergeblich nach dem Ausdruck gesucht, in unseren vielen Regalen und in den Tiefen des Internets, nicht mal Google und die Brüder Grimm kannten ihn.
Aber dann entdeckte mein Mann ihn doch. In dem alten Buch „Wörterschatz der deutschen Sprache Livlands“, herausgegeben von Woldemar von Gutzeit im Jahre 1887. Dort steht es: „PFEFFERNASE, DIE, wer sich über Kleinigkeiten ärgert oder erzürnt“. Livland gibt es längst nicht mehr, früher bezeichnete man damit eine Region im Baltikum, ungefähr dort, wo sich heute Estland und Lettland befinden. Als „Pfeffernasen“ wurden dort früher offenbar Personen bezeichnet, die besonders „empfindlich“ reagierten. Könnte es sich dabei vielleicht um eine alte herabsetzende Bezeichnung für hochsensible Menschen handeln? Bedeutet „sich ärgern“ vielleicht einfach nur „sich verletzt fühlen“? Und „erzürnt“ wäre dann „sich aufregen“? Ja, eine Pfeffernase war ich dann wohl wirklich. Und bin es auch noch, denn ich liebe Pfeffer (mal abgesehen von Szechuanpfeffer, aber das ist ja auch kein richtiger Pfeffer) und ich rege mich leicht auf (allerdings meist nur ganz im Stillen) und bin schnell verletzt. Oft sogar tief, auch wenn ich es nicht zeige.
„The blessing Hare“ (Detail, Kay Leverton)
Und was hat der Osterhase in dem Reim zu suchen? Vielleicht bedeutet er so etwas wie: „Der kann man aber auch alles weis machen! Die glaubt wohl noch an den Osterhasen!“ Oder ans Christkind. Oder an Feen und Elfen. Oder an Kobolde. Oder an Träume. Oder an die Liebe. Oder an Wunder. Stimmt, das tut sie, und es macht ihr immer noch einen Heidenspaß. Anfang März stelle ich mir lauter Hasen auf die Fensterbänke.
„Morgen kommt der Osterhase!“ Morgen noch nicht, aber bald! Er bringt neues Leben, er bringt den Frühling, sprudelnde Lebenslust, frischen Wind, einen neuen Anfang. Zum Glück ist sie immer noch da, meine überschäumende Fantasie, die überall in der Natur und im täglichen Leben kleine Kostbarkeiten entdeckt, bunte Steinchen, winzige Blüten, Gesichter in Baumstämmen, Bilder auf Tapeten, Schattengestalten an den Wänden, aber natürlich auch bedrohliche Monster unter dem Bett. Ach ja, ich habe einen großen (Klappmaul)Hasen, der sprechen kann, äußerst keck und frech ist und Cäsar heißt. Er wird von meinen Enkeln sehr geliebt. Sie haben gerade angefangen, ein Buch über ihn zu schreiben. Mit Illustrationen. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
„Angsthase, Pfeffernase, morgen kommt der Osterhase!“ Drei Beleidigungen in nur einem Satz. Zwei Hasen und eine Mimose in nur einem Satz. Drei Riesenkomplimente in nur einem Satz. Ja, so war ich und so bin ich. Ängstlich, verletzlich, fantasievoll. Wenn ich meine Angst personifiziere, ist sie ein kleines Mädchen, das ein Kaninchen auf dem Arm hält. Die beiden gehören zusammen. Das Mädchen und das Kaninchen. Die Frau und die Häsin. Hasen sind Seelentiere, Krafttiere, Begleiter der Großen Göttin und der Mondin. Voller Übermut und Lebenskraft. Sie bedeuten Wiedergeburt, Lebensfreude und Glück. Jedenfalls für mich.
Die beiden britischen Künstlerinnen Wendy Andrew und Kay Leverton werde ich hier in Kürze noch genauer vorstellen. Heute möchte ich ihnen einfach nur danken für Ihre Bilder, die so perfekt ausdrücken, was ich für Hasen empfinde.
„Dreaming of Spring“ (Wendy Andrew)