
Glasherz (BFL)
Der heutige Eintrag ist für meine Kinderfreundin Kornelia Blum, die Wölfe und Adler über alles liebte und fest davon überzeugt war, in Wirklichkeit eine Lakota zu sein. Er ist für das abenteuerlustige, eigenwillige kleine Mädchen, das unbedingt Schamanin werden und mit mir zusammen in Nordamerika bei den Indianern leben wollte, und für die tapfere, stoische Frau mit den vielen Hoffnungen und Träumen, die alle unerfüllt blieben. Er ist für Conny, die nach langer Krankheit am 21. September 2015 diese Welt verließ. Und für meine Winnie, die genau ein Jahr und zwei Tage jünger war als ich und heute, am 21. April, Geburtstag hätte. Die beiden Tage, an denen ich „so viel älter“ war und die beinahe verhindert hätten, dass wir gemeinsam eingeschult wurden, haben wir als Kinder stets fröhlich gefeiert. Mit Keksen, Sprite, Kakao und Schokolade. Zwischen unseren Geburtstagspartys, versteht sich.
Es waren nur zwei Tage, und doch führten sie dazu, dass wir unterschiedliche Sternzeichen und gänzlich andere indianische Totemtiere hatten. Winnie war im Mond der wiederkehrenden Frösche geboren, ihr Tier war der Biber, meins war der Rote Habicht, denn ich war im Mond der knospenden Bäume geboren. Doch unser beider Hüter war Wabun, der in Sun Bears Medizinrad für den Osten, die Zeit des Erwachens, der Wiedergeburt und vor allem der Kindheit steht und Neugier und Kreativität symbolisiert. Dass sich unsere Wege jemals trennen würden, hätten wir damals nicht für möglich gehalten. Wir machten uns schon früh Gedanken über die Anderswelt, denn vor dem Tod hatte ich immer schreckliche Angst. Winnie hatte wie üblich ihre ganz eigenen Vorstellungen. Ich war mir da nicht so sicher.

„Ob lebende Menschen einen noch spüren können, wenn man tot is’?“ fragte ich.
„Nich’ alle“, meinte Winnie. „Nur die wichtijen. Un’ auch nur, wenn dat beide wollen. Dann kann man denen einfach im Traum erscheinen. Oder se können einen rufen, wenn se in Not sind, un’ dann kümmert man sich drum.“
„Un’ wie is’ dat bei uns? Wenn von uns einer tot is’, un’ der andere lebt noch?“ Ein schrecklicher Gedanke. „Ob wir uns dann auch noch spüren?“
„Wir janz bestimmt! Wir sind doch Blutsschwestern!“ (aus: Mit Winnie in Niersbeck)
Wie jedes Jahr denke ich heute ganz besonders an dich, liebe Winnie-Kornelia, wo immer du auch sein magst, und danke dir für die vielen Einfälle und Sätze, die du mir beim Schreiben unserer beiden Bücher geschenkt hast. Du hattest Recht. Ich habe dich beim Erfinden und Erinnern neben mir gespürt und konnte dich oft leise kichern und ab und zu sogar laut lachen hören. Wie schade, dass es kein einziges Foto gibt, auf dem wir zusammen zu sehen sind. Das hat nur meine Illustratorin auf den Bildern in unseren Büchern geschafft. Dein Traumfänger hängt bis heute über meinem Bett, dein Sun Bear steht immer noch hier im Regal, und viele unserer Steine und auch die „heilige“ Adlerfeder habe ich natürlich auch noch. Sogar einen ledernen Medizinbeutel, der sehr ähnlich aussieht wie deiner früher. Gefüllt mit unseren Lieblingskräutern.
Als Kinder haben wir uns oft Gedanken darüber gemacht, wie das Leben nach dem Tod wohl aussehen könnte. Winnie glaubte fest daran, dass man verschmelzen würde mit der Natur, der Erde, den Bäumen, dem Wasser und der Luft, und dass man sich verwandeln könne in andere Lebewesen. Sollte es Winnies Paradies wirklich geben, dann ist sie nun frei und kann endlich all das tun, wovon sie immer geträumt hat. Sie kann ihre Flügel ausbreiten und mit den Adlern über die Canyons gleiten, sich emporschwingen bis hoch über die Wolken. Sie kann mit den Walen hinab auf den Meeresgrund tauchen, mit den Wölfen durch die Wälder streifen, dem Mond am Fluss Nachtlieder singen, durch Raum und Zeit reisen, bei den Ahnen wohnen und mit den Schamanen um flackernde Feuer tanzen. Freundinnen kann man nicht trennen. Wer vorangeht, wartet auf die andere. So haben wir es auch als Kinder immer gemacht. Wir sehen uns wieder. Auf der anderen Seite. Irgendwann. Tókša akhé, Winnie! (Widmung aus: Mit Winnie in Niersbeck)









Ostermontag besuchten wir nachmittags alle zusammen meine Großmutter in Herongen. Oma hatte einen riesigen Garten und viele Tiere, unter anderem den gutmütigen uralten Dackelmix Bobby, die Schäferhündin Leda, etliche Goldfische, die einträchtig in einem gemauerten Becken umher schwammen, und ein Dutzend Hühner, die ich gemeinsam mit ihr füttern durfte. Wenn ich bei ihr „in Ferien“ war, durfte ich sogar morgens früh die frischen Eier im Hühnerhaus einsammeln. Zu Ostern bekam ich von Oma jedes Jahr eine Ansichtskarte, „richtig mit der Post“. Schade, dass ich ihre zierliche Sütterlinschrift nicht lesen konnte. Oma Amalies Haus lag unmittelbar neben einer Schule, so dass man die Kinder auf dem Schulhof aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Doch an Ostern waren sie natürlich nirgendwo zu sehen. An Sonn- und Feiertagen saßen wir auch in ihrem geräumigen Wohnzimmer und nicht in der Küche.


Als ich fünf war, besuchte ich zum ersten Mal mit Oma die Karfreitagsandacht, nachdem sie mich zur Vorbereitung mehrfach zur Kreuzwegandacht mitgenommen hatte. Ich hatte brav in der Bank gesessen und Heiligenbildchen angeschaut. »Heute ist Karfreitag, der Sterbetag des Herrn«, teilte sie mir mit. Sterbetag? Das klang bedrohlich. Es wurde in der Tat ein einschneidendes Erlebnis, denn an diesem Nachmittag verspürte ich zum ersten Mal das Gefühl grenzenloser Schwäche und Hilflosigkeit. Schon beim Betreten der Kirche fing das Elend an. Traurig, düster und schwer wirkte alles. Ich bekam kaum Luft, obwohl es so kühl war. Tabernakel, Statuen und Kreuz waren mit dunkelvioletten Stoffen verhangen. Es herrschte gespenstische Stille, die Menschen waren angezogen wie bei einer Beerdigung und sahen verschlossen und fremd aus. Ich hörte gedämpftes Husten, Räuspern, Flüstern und leises Fußscharren. Die Atmosphäre war bedrückend. Ich fühlte mich noch kleiner als sonst und griff Hilfe suchend nach Omas Hand. Oma lächelte mir kurz zu, dann wurde ihr Gesicht sofort wieder ernst.
der Gläubigen. Wieder sah ich die dunklen Menschen, folgte Jesus zur Schädelstätte, fühlte mit ihm die Dornen, die sich in seinen Kopf bohrten, den grausamen Lanzenstich, den quälenden Durst, den beißenden Essigschwamm und die langen Nägel in Händen und Füßen. Als er starb, wurde die Welt um mich herum schwarz. »Das Kind steigert sich in alles hinein«, jammerte meine Mutter. »Das ist doch nicht normal! Was ist bloß los mit dem Mädchen?« Ich konnte nichts daran ändern. Mein Körper führte ein Eigenleben, und genau das machte mir schreckliche Angst. Ich erlebte die Kreuzigungsszene hautnah mit. Ich ertrug es nicht, dass Jesus gequält und umgebracht wurde. Auch wenn es so in der Bibel stand. Grausamkeit fand ich zutiefst abstoßend.





Heute vor vier Jahren war Ostersonntag, doch der Frühling war noch weit. Es war kühl und unwirtlich, und ich erinnere mich nur allzu gut an die jähe Nachtfahrt zum Krankenhaus. Heute vor vier Jahren starb mein Vater. Das starke Band zwischen uns zerriss. Er wolle mir eine Botschaft schicken von der anderen Seite, hatte er mir versprochen. „Wenn ich irgendwie kann.“ War es vielleicht das Tagpfauenauge, das am Morgen nach seinem Tod in der Garage unerwartet auf meine Hand flog und dort eine gefühlte Ewigkeit unbeweglich sitzen blieb? Wo mochte mein Vater jetzt sein? Hat der Mensch wirklich eine unsterbliche Seele? Was passiert mit uns, wenn wir gehen müssen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ein helles, freundliches, glückliches, wie es sich so viele wünschen? Oder ein bedrohliches Zwischenreich voller Dämonen, in dem man orientierungslos, verwirrt und ängstlich umherirrt und seinen Weg nicht findet? Wartet auf uns eine kurze oder lange Phase der Ruhe und des tröstlichen Vergessens bis zur nächsten Wiedergeburt? Oder doch nur das schwarze oder weiße Nichts, das uns für immer verschluckt und auslöscht? Mein Vater hat mir keine Botschaft geschickt. Nur diesen einen Schmetterling an jenem Wintermorgen. Vielleicht.
In Gedanken ist er mir oft noch nah, besonders in meinem Garten. Manchmal rede ich mit ihm, frage ihn um Rat. Meinst du, die Kletterhortensie ist krank? Wo soll ich die neue Taglilie hinpflanzen? Findest du, die blaue Clematis passt gut zu dieser gelben Rose? In der Natur fand mein Vater den ersehnten Frieden, hier war er glücklich, umgeben von stillen grünen und bunten Freunden. Er liebte die Bäume, die Sträucher und Blumen, und sie liebten ihn. Oft saß er auf seiner Bank und beobachtete geduldig die vielen zahmen Vögel, die er auch mit fast neunzig Jahren noch jeden Tag fütterte. Nach jedem Sturm ging er hinaus und schaute nach, ob nicht etwa ein Nest aus den Bäumen geweht worden war und die Nestlinge Hilfe brauchten. Mein Vater verstand die Sprache der Tiere und der Pflanzen. In seinem Garten gab es eine Intensivstation für gerettete Blumen, die andere achtlos fortgeworfen, vorzeitig aufgegeben oder als unpassend ausgemustert hatten. Sie blühten immer besonders schön, als wollten sie ihm ihre Dankbarkeit unbedingt zeigen. Es gab sogar ein kleines Schattenlazarett für besondere Härtefälle, die noch kein Licht vertrugen und absolute Fingerspitzenbehandlung
benötigten. Von meinem Vater lernte ich schon früh, wie wichtig Standort und Bodenbeschaffenheit für jede Pflanze ist. Er hatte einen Naturgarten im besten Sinne, und er freute sich, wenn ihm sein Garten unerwartet kleine Geschenke machte. Hier eine ungewöhnliche Glockenblume, dort ein gelber Fingerhut, eine gefüllte Akelei, ein neuer Farn oder ein winziges Veilchen. Gänseblümchen und Ehrenpreis durften unbehelligt in seinem Rasen wohnen. Im Schatten wuchsen Farne und Funkien, auf den Steinen blühte das Moos. Der Rasen meines Vaters war weich wie ein Teppich, wenn man mit bloßen Füßen darüber lief. Spaziergänger, die an unserem Garten vorbeigingen, blieben oft stehen und fragten, ob sie einen Blick in das kleine Paradies werfen durften. Mein Vater war so stolz auf seinen Garten.




großen Teil des Gartens geschenkt, genau wie den üppigen Pfingstrosenbüschen. Auch mit Päonien habe ich leider kein Glück. Vielleicht liegt es am Lehmboden oder an den Wühlmäusen? Ich pflanze sie zwar, doch nach kurzer Zeit verschwinden sie einfach wieder. Die Pfingstrosensträuße vom Markt duften selten und niemals so intensiv wie die meines Vaters. Bei meinem letzten Besuch im alten Garten habe ich so viele mitgenommen, wie nur ins Auto passten. Der Rücksitz war ein duftendes Blütenmeer. Vorher habe ich sie alle fotografiert, um sie mir für immer zu bewahren. An der Garage meines Vaters stand früher ein wilder Rosenbusch, dessen weiche Ranken bis oben aufs Garagendach reichten und dessen rosa Blüten so stark dufteten, dass mein Zimmer zum Rosengarten wurde. Ich höre die Stimme meines Vaters am Telefon: „Stell dir vor, deine Rose hat heute angefangen zu blühen, Kind!“ Ich war ich süchtig nach seinen Rosen, nach seinen Blumen. Wenn ich während des Studiums zurück nach Köln fuhr, überreichte er mir am Bahnhof jedes Mal einen riesigen Blumenstrauß, über den sich anschließend das ganze Zugabteil freute. Im Spätsommer waren es nicht nur Rosen, sondern manchmal auch knallbunte Dahlien und Löwenmäulchen oder zerbrechliche Wicken, und im Herbst lilafarbene kleinblütige Astern oder kräftige Chrysanthemen, die bei mir Wurzeln schlugen und wieder zurück an den Niederrhein gebracht wurden, wo mein Vater sie einpflanzte. Die stammten aus seinem zweiten Garten, denn mein Vater hatte viele Jahre lang auch noch einen Nutzgarten, in dem er Gemüse und Obst anpflanzte und Schnittblumen zog.