Zu Winnies Geburtstag

Glasherz (BFL)

Der heutige Eintrag ist für meine Kinderfreundin Kornelia Blum, die Wölfe und Adler über alles liebte und fest davon überzeugt war, in Wirklichkeit eine Lakota zu sein. Er ist für das abenteuerlustige, eigenwillige kleine Mädchen, das unbedingt Schamanin werden und mit mir zusammen in Nordamerika bei den Indianern leben wollte, und für die tapfere, stoische Frau mit den vielen Hoffnungen und Träumen, die alle unerfüllt blieben. Er ist für Conny, die nach langer Krankheit am 21. September 2015 diese Welt verließ. Und für meine Winnie, die genau ein Jahr und zwei Tage jünger war als ich und heute, am 21. April, Geburtstag hätte. Die beiden Tage, an denen ich „so viel älter“ war und die beinahe verhindert hätten, dass wir gemeinsam eingeschult wurden, haben wir als Kinder stets fröhlich gefeiert. Mit Keksen, Sprite, Kakao und Schokolade. Zwischen unseren Geburtstagspartys, versteht sich.

Es waren nur zwei Tage, und doch führten sie dazu, dass wir unterschiedliche Sternzeichen und gänzlich andere indianische Totemtiere hatten. Winnie war im Mond der wiederkehrenden Frösche geboren, ihr Tier war der Biber, meins war der Rote Habicht, denn ich war im Mond der knospenden Bäume geboren. Doch unser beider Hüter war Wabun, der in Sun Bears Medizinrad für den Osten, die Zeit des Erwachens, der Wiedergeburt und vor allem der Kindheit steht und Neugier und Kreativität symbolisiert. Dass sich unsere Wege jemals trennen würden, hätten wir damals nicht für möglich gehalten. Wir machten uns schon früh Gedanken über die Anderswelt, denn vor dem Tod hatte ich immer schreckliche Angst. Winnie hatte wie üblich ihre ganz eigenen Vorstellungen. Ich war mir da nicht so sicher.

„Ob lebende Menschen einen noch spüren können, wenn man tot is’?“ fragte ich. 

„Nich’ alle“, meinte Winnie. „Nur die wichtijen. Un’ auch nur, wenn dat beide wollen. Dann kann man denen einfach im Traum erscheinen. Oder se können einen rufen, wenn se in Not sind, un’ dann kümmert man sich drum.“ 

„Un’ wie is’ dat bei uns? Wenn von uns einer tot is’, un’ der andere lebt noch?“ Ein schrecklicher Gedanke. „Ob wir uns dann auch noch spüren?“

„Wir janz bestimmt! Wir sind doch Blutsschwestern!“   (aus: Mit Winnie in Niersbeck)

Wie jedes Jahr denke ich heute ganz besonders an dich, liebe Winnie-Kornelia, wo immer du auch sein magst, und danke dir für die vielen Einfälle und Sätze, die du mir beim Schreiben unserer beiden Bücher geschenkt hast. Du hattest Recht. Ich habe dich beim Erfinden und Erinnern neben mir gespürt und konnte dich oft leise kichern und ab und zu sogar laut lachen hören. Wie schade, dass es kein einziges Foto gibt, auf dem wir zusammen zu sehen sind. Das hat nur meine Illustratorin auf den Bildern in unseren Büchern geschafft. Dein Traumfänger hängt bis heute über meinem Bett, dein Sun Bear steht immer noch hier im Regal, und viele unserer Steine und auch die „heilige“ Adlerfeder habe ich natürlich auch noch. Sogar einen ledernen Medizinbeutel, der sehr ähnlich aussieht wie deiner früher. Gefüllt mit unseren Lieblingskräutern.

Als Kinder haben wir uns oft Gedanken darüber gemacht, wie das Leben nach dem Tod wohl aussehen könnte. Winnie glaubte fest daran, dass man verschmelzen würde mit der Natur, der Erde, den Bäumen, dem Wasser und der Luft, und dass man sich verwandeln könne in andere Lebewesen. Sollte es Winnies Paradies wirklich geben, dann ist sie nun frei und kann endlich all das tun, wovon sie immer geträumt hat. Sie kann ihre Flügel ausbreiten und mit den Adlern über die Canyons gleiten, sich emporschwingen bis hoch über die Wolken. Sie kann mit den Walen hinab auf den Meeresgrund tauchen, mit den Wölfen durch die Wälder streifen, dem Mond am Fluss Nachtlieder singen, durch Raum und Zeit reisen, bei den Ahnen wohnen und mit den Schamanen um flackernde Feuer tanzen. Freundinnen kann man nicht trennen. Wer vorangeht, wartet auf die andere. So haben wir es auch als Kinder immer gemacht. Wir sehen uns wieder.  Auf der anderen Seite. Irgendwann. Tókša akhé, Winnie!                                                                          (Widmung aus: Mit Winnie in Niersbeck)

 

 

 

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Ostern in Kattendonk

Ostereier (BFL)

Die Tage unmittelbar vor Ostern waren fast noch schöner als das Fest selbst. Wir kochten Eier in einem riesigen Blechtopf hart, meine Mutter färbte sie mit Heitmann-Farbtabletten in großen Tassen bunt und gab mir eine ganze Schüssel mit weißen Eiern zum Bemalen. Leider waren die wabbeligen Glibberstäbchen dazu wenig geeignet, denn sie schmolzen sofort auf dem heißen Ei und verschmierten meine schönen Muster. Sie rochen unangenehm, glitschten weg und verfärbten vor allem meine Finger. Die Ostereier, die wir an die blühenden Zweige hängten, gefielen mir weit besser. Auch dazu gab es ein Ritual: Mein Vater setzte sich mit mir in die Küche und blies einige rohe Eier aus, die ich mit Deckfarben vorsichtig genau so verzieren konnte, wie es mir gefiel. Bei den ersten TRANK er den Glibber sogar, was ich überhaupt nicht verstehen konnte. Das schmeckte doch ekelhaft! Ich schüttelte mich, und er lachte. Auch das gehörte zum Ritual. Durch die fertig bemalten Eier zog meine Mutter mit einer langen Stopfnadel einen Faden oder ein Bändchen, das unten mit einer Perle oder einem Knopf gesichert war.

Am Ostersonntag war das Wohnzimmer liebevoll geschmückt, wir standen früh auf und frühstückten ausgiebig, obwohl man eigentlich „vor der Kirche“ nüchtern bleiben musste. Doch meine Mutter wußte genau, dass sowohl mein Vater als auch ich äußerst unleidlich wurden, wenn wir Hunger bekamen, und außerdem war ich noch so klein, dass ich ohnehin nicht an der Kommunion teilnehmen durfte. Sie hat auch später dafür gesorgt, dass ich nie nüchtern zur Kirche ging. Wahrscheinlich wäre mir das auch gar nicht gut bekommen. „Das ist bei dir keine Sünde“, beruhigte mich meine Mutter. „So dünne Kinder wie du MÜSSEN unbedingt morgens was im Magen haben. Und so hungrige Väter auch, sonst knurrt der Magen nachher ganz laut, und alle in der Kirche können es hören!“ Ich habe meinen überaus angenehmen Sättigungsgrad nie jemandem verraten. Nicht mal meiner besten Freundin, deren armer Magen in der Messe regelmäßig laute Unmutsbekundungen von sich gab.

Ostertisch in „Kattendonk“ (BFL)

Nach dem Frühstück gingen mein Vater und ich allein zur Kirche, meist ins Hochamt, weil das besonders feierlich und noch dazu lateinisch war, und fuhren danach zu seiner Schwester nach Lobberich, während meine Mutter das aufwändige Festessen vorbereitete. Auf dem Esszimmertisch meiner Tante stand während der gesamten Osterzeit ein kleiner brauner Holzkarren, der bis obenhin mit Zuckereiern gefüllt war und von einem Hasen gezogen wurde. Wie gerne hätte ich genau so einen Osterkarren gehabt! Jedes Jahr stellte ich mich mit klopfendem Herzen vor den Tisch und streichelte den schönen Hasen vorsichtig mit dem Zeigefinger, in der Hoffnung, die Erwachsenen würden irgendwann merken, wie wunderschön ich ihn fand. Leider merkten sie es nie, weil sie weit weg in ihren großen Sesseln saßen und viel zu sehr mit ihrer Unterhaltung beschäftigt waren. Außerdem sagte ich ja nichts. Sprechen hätte sicher geholfen, doch ich konnte als Kind meine Wünsche nur indirekt äußern. Für mich waren meine Signale zwar überdeutlich, für die Erwachsenen jedoch viel zu subtil. Meine Hoffnung, man könnte mir meine sehnlichsten Wünsche ansehen oder sie gar spüren, hat sich leider nie erfüllt. Direkt um etwas zu bitten, war mir unglaublich peinlich. Ich hatte auch als Erwachsene lange noch eine regelrechte Wunschhemmung.

Kinderkaffee (BFL)

Wenn das Wetter es zuließ, suchte ich in unserem Garten nach den versteckten Körbchen und Nestern mit Süßigkeiten. Das war nie sehr schwer, denn mein Vater liebte bekanntlich seine Pflanzen, so dass man nie ins Beet zu steigen brauchte und die bunten Farben schon von weitem leuchten sah. Mit von der Partie war immer mein großer Hase Hupp mit den langen weichen  Schlappohren, den meine Mutter für mich genäht hatte. Er war eindeutig das schönste Ostergeschenk, das ich je in meinem Leben bekommen habe, und anfangs fast genauso groß wie ich. Ohne meinen geliebten Hupp ging ich als kleines Kind weder aus dem Haus noch zu Bett. Im Laufe der Jahre ist er tragischerweise verloren gegangen, nur seine blaue Bluse habe ich noch, aber eine Freundin hat ihn mir nach meinen Erinnerungszeichnungen in klein (und sogar noch viel schöner, denn jetzt sind seine Augen echte Glasaugen und keine umhäkelten Knöpfe!) „nachgebaut“.

Mit Mohrle (BFL)

Kaninchen und Hasen waren schon früh meine Seelentiere, schließlich hatten wir selbst echte Kaninchen, die bei schönem Wetter oft nach draußen in den Garten geholt wurden und so zahm waren, dass sie bei mir auf dem Schoß schliefen. Wenn es irgendwo Kaninchenbraten gab, war ich krank. Glücklicherweise hatte sogar meine Mutter dafür Verständnis. Meine kleine Sammlung von Steiffhasen habe ich natürlich bis heute noch und halte sie weiterhin in Ehren. Und mein Angstbuch heißt auch nicht von ungefähr „HASENHERZ und Sorgenketten“.

Ostermontag besuchten wir nachmittags alle zusammen meine Großmutter in Herongen.  Oma hatte einen riesigen Garten und viele Tiere, unter anderem den gutmütigen uralten Dackelmix Bobby, die Schäferhündin Leda, etliche Goldfische, die einträchtig in einem gemauerten Becken umher schwammen, und ein Dutzend Hühner, die ich gemeinsam mit ihr füttern durfte. Wenn ich bei ihr „in Ferien“ war, durfte ich sogar morgens früh die frischen Eier im Hühnerhaus einsammeln. Zu Ostern bekam ich von Oma jedes Jahr eine Ansichtskarte,  „richtig mit der Post“. Schade, dass ich ihre zierliche Sütterlinschrift nicht lesen konnte. Oma Amalies Haus lag unmittelbar neben einer Schule, so dass man die Kinder auf dem Schulhof aus sicherer Entfernung beobachten konnte. Doch an Ostern waren sie natürlich nirgendwo zu sehen. An Sonn- und Feiertagen saßen wir auch in ihrem geräumigen Wohnzimmer und nicht in der Küche.

Osterhase (BFL)

„Oma Amalies Küche führte auf eine schmale Terrasse, von der eine Treppe hinunter in den Garten ging. Ich saß morgens gern bei meiner Oma am Küchentisch und aß mit einem langen silbernen Löffel gezuckerten weißen Joghurt aus einem Glasfläschchen. Morgens zum Frühstück bekam ich eine Scheibe selbstgebackenes Kastenweißbrot mit Knusperkruste und ein braunes Ei, das ich aus einem ganz bestimmten Eierbecher aß, der nur mir gehörte und von dem heute leider nur noch die vordere Hälfte übrig ist. Es ist ein schielender gelber Hase, der eine rote Blüte zwischen den Vorderläufen hält. Das orangefarbene Körbchen auf seinem Rücken, in dem damals mein Ei steckte, ist irgendwann zerbrochen. Zu Ostern stand auf Omas Tisch ein handbemalter Teller mit eiförmigen Mulden für die bunten Ostereier. Oma war sogar stolze Besitzerin eines Keramikhuhns, in dessen Bauch man die gefärbten Eier legen konnte. Als Kind war ich fest davon überzeugt, dass alle braunen Eier von den Hühnern meiner Oma stammten, und weigerte mich hartnäckig, weiße Eier auch nur anzurühren. Die Vorliebe für braune Eier und Naturjoghurt habe ich bis heute.“   (aus: „Oma Amalie neben der Schule“)

Easter Eggs (BFL)

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Ohnmächtig

Karfreitag – mit den Augen eines hochsensiblen Kindes

„Oma und ich waren unzertrennlich, vor allem in religiösen Dingen. Zusammen gingen wir auf den Friedhof und brachten den Verstorbenen frische Blumen, machten in der Kapelle Kerzen an und bestaunten in der Weihnachtszeit die Krippe. Im Frühling besuchten wir die Maiandachten. Ich mochte die schönen Lieder und den Duft der Lilien und Maiglöckchen, zu Hause hatte ich einen kleinen Marienaltar mit Gartenblumen. Doch es gibt auch düstere Erinnerungen. Eine ist besonders unangenehm.

Als ich fünf war, besuchte ich zum ersten Mal mit Oma die Karfreitagsandacht, nachdem sie mich zur Vorbereitung mehrfach zur Kreuzwegandacht mitgenommen hatte. Ich hatte brav in der Bank gesessen und Heiligenbildchen angeschaut. »Heute ist Karfreitag, der Sterbetag des Herrn«, teilte sie mir mit. Sterbetag? Das klang bedrohlich. Es wurde in der Tat ein einschneidendes Erlebnis, denn an diesem Nachmittag verspürte ich zum ersten Mal das Gefühl grenzenloser Schwäche und Hilflosigkeit. Schon beim Betreten der Kirche fing das Elend an. Traurig, düster und schwer wirkte alles. Ich bekam kaum Luft, obwohl es so kühl war. Tabernakel, Statuen und Kreuz waren mit dunkelvioletten Stoffen verhangen. Es herrschte gespenstische Stille, die Menschen waren angezogen wie bei einer Beerdigung und sahen verschlossen und fremd aus. Ich hörte gedämpftes Husten, Räuspern, Flüstern und leises Fußscharren. Die Atmosphäre war bedrückend. Ich fühlte mich noch kleiner als sonst und griff Hilfe suchend nach Omas Hand. Oma lächelte mir kurz zu, dann wurde ihr Gesicht sofort wieder ernst.

Das Unfassbare passierte, als Finsternis im ganzen Land herrschte und Jesus am Kreuz starb. Mir war gar nicht gut. In der Kirche war es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Nur in meinen Ohren dröhnte es. Ich sackte zusammen und musste von Oma und einer fremden Frau aus der Kirche gebracht werden. Folter und Kreuzestod waren zu viel für mich. Schon beim Kreuztragen und Geißeln hatte mein Unbehagen angefangen, und als Jesus seinen Geist aushauchte, brach mir der Schweiß aus, schwarze Punkte tanzten vor meinen Augen, mir wurde eiskalt und das Blut strömte aus meinem Kopf. Draußen vor der Kirche kam ich wieder zu mir. Oma war schrecklich aufgeregt, ich hätte am liebsten geweint. Die Geschichte meines Zusammenbruchs machte im Dorf die Runde, die Erwachsenen hielten mich für überdreht, schüttelten verständnislos die Köpfe, und ich schämte mich in Grund und Boden. Wir waren eine große Gemeinde, und ich war die Einzige, die umfiel. Wie ertrugen die anderen Gläubigen die Kreuzigungsgeschichte bloß?

Im folgenden Jahr wagte Oma einen weiteren Karfreitagsversuch. Diesmal kam erschwerend hinzu, dass ich mich an mein letztes »Missgeschick« peinlich gut erinnerte und Oma schon im Vorfeld nervös war. Vorsichtshalber setzten wir uns in die Nähe des Ausgangs. Ansonsten war alles wie beim ersten Mal. Wieder war es düster und erstickend. Wieder ertönte die tiefe Stimme des Pastors im dramatischen Wechsel mit den Stimmen der Gläubigen. Wieder sah ich die dunklen Menschen, folgte Jesus zur Schädelstätte, fühlte mit ihm die Dornen, die sich in seinen Kopf bohrten, den grausamen Lanzenstich, den quälenden Durst, den beißenden Essigschwamm und die langen Nägel in Händen und Füßen. Als er starb, wurde die Welt um mich herum schwarz. »Das Kind steigert sich in alles hinein«, jammerte meine Mutter. »Das ist doch nicht normal! Was ist bloß los mit dem Mädchen?« Ich konnte nichts daran ändern. Mein Körper führte ein Eigenleben, und genau das machte mir schreckliche Angst. Ich erlebte die Kreuzigungsszene hautnah mit. Ich ertrug es nicht, dass Jesus gequält und umgebracht wurde. Auch wenn es so in der Bibel stand. Grausamkeit fand ich zutiefst abstoßend.

Als Schulkind wurde ich in der Kirche glücklicherweise nicht mehr ohnmächtig. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich zwischen den anderen Kindern saß und mich dadurch nicht ganz so klein und eingeschüchtert fühlte. Die Kinder waren weniger trübsinnig als die schwarz gewandeten Erwachsenen. Außerdem hampelte meine Freundin Winnie ständig herum, was meine Andacht angenehm störte, auch wenn wir damit mehrfach gegen das erste und zweite Gebot gleichzeitig verstießen.“

(aus: „Von wegen Mimose“)

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Klosterschule Niersbeck (2)

 Schwester Josephas Kräutergarten

Lungenkraut

Löwenzahn

„Hinter dem Küchentrakt lag der von Mauern umschlossene kleine Klostergarten mit den Heil- und Gewürzkräutern, in dem wir in der Sexta und Quinta in jeder Pause Dauergast waren. Hier war das Reich von Schwester Josepha, einer alterslos wirkenden Ordensschwester mit freundlichen braunen Augen und geschickten Händen. Sie wusste alles über Pflanzen und trug beim Arbeiten eine grüne Schürze. Wenn wir sie besuchten, durften wir manchmal ein paar kleine Blätter abzupfen und daran schnuppern. Rieb man die Blätter vorsichtig zwischen den Fingern, dufteten sie noch intensiver. Schwester Josepha hätte in Hogwarts problemlos eine Stelle als Fachkraft für hochpotente Zaubertränke bekommen. Wahrscheinlich züchtete sie in ihrem Gewächshaus sogar Alraunen, Fliegenpilze und gefleckten Schierling. Sie summte leise bei der Arbeit und hatte immer Zeit für uns. Bei ihr lernten wir, dass Koriander nach Mottenpulver riecht, dass Lorbeerkränze in der Antike die Häupter gefeierter Dichter und siegreicher Sportler zierten, dass Liebstöckel einst als Mittel gegen böse Geister eingesetzt wurde und dass Lungenkraut ein wunderbares Heilmittel gegen Husten ist. Wir rochen an Minze, Zitronenmelisse, Engelwurz und Kapuzinerkresse. Selbst Efeu duftet aromatisch, auch wenn er bei empfindlicher Haut Allergien auslöst und giftig ist, und sogar Giersch riecht nicht übel, auch wenn er rücksichtslos mitten in die Wurzeln anderer Pflanzen hineinwuchert und als das übelste Unkraut aller Zeiten angesehen wird. „Man kann daraus aber sehr gut Salat machen!“, meinte Schwester Josepha.

Rosmarin

Zitronenmelisse

Sie zeigte uns stinkenden Storchschnabel, auch Ruprechtskraut genannt, der mit seinen kleinen rosa Blüten zwar hübsch aussah, aber unangenehm roch, und gab mir Katzenminze für meine Katze mit, die völlig verrückt danach war und sich so lange auf den Blättern herumwälzte, bis sie platt waren. Topsi war danach ebenfalls platt, zugedröhnt wie ein Junkie! Nur gut, dass Schwester Josepha mich vorgewarnt hatte. „Baldrian wirkt bei Katzen sogar noch intensiver“, erklärte sie. „Probier es mal aus!“ Doch Schwester Josephas Baldrianwurzeln stanken so heftig, dass meine Mutter sie partout nicht im Haus haben wollte. Dabei rochen die Diacardtropfen, die sie genau wie Oma und meine Großtanten tonnenweise in Wasser träufelte, wenn sie Herzklabastern bekam, eindeutig auch übel nach Baldrian.

Löwenzahn

In Schwester Josephas Welt gab es kein Unkraut, selbst aus Brennnesseln kochte sie noch Tee oder Suppe. Sie fand rasch heraus, dass mein Lieblingskraut Rosmarin war. Vater hatte es nicht in seinem Garten, weil es keine heimische Pflanze war, und Mutter brauchte es leider nie in der Küche. Schon der Name war wunderschön: ros marinus, Tau des Meeres. In der Antike war die Pflanze der Göttin Aphrodite geweiht, im Christentum der Muttergottes. Ursprünglich sollen die Blüten weiß gewesen sein, doch als Maria ihr Gewand zum Trocknen über die Pflanze legte, wurden sie blau. Ich fand den aromatischen Duft so wunderbar, dass ich mich am liebsten in den Rosmarinbüschen gewälzt hätte wie Topsi in der Katzenminze. Nachdem wir herausgefunden hatten, dass Räuchern ein alter Indianerbrauch war, benutzten Winnie und ich die getrockneten Nadeln zusammen mit Salbeiblättern zum Räuchern.

Bienen umsummten den schwefelgelb blühenden Frauenmantel, auf dessen hübschen Blättern die Tautropfen morgens wie Edelsteine glitzerten, Schmetterlinge sonnten sich auf den Lavendelstängeln, die meine Großtanten sich zu Sträußchen gebunden zur Mottenabwehr in den Schrank hängten oder in Form von Uralt Lavendel hinter die Ohren tupften. Nur Oma Südstraße duftete nach Maiglöckchen. Und manchmal auch nach Vanille.“

(aus: Mit Winnie in Niersbeck)

Im Klostergarten

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Die Rosen meines Vaters

 

Heute vor vier Jahren war Ostersonntag, doch der Frühling war noch weit. Es war kühl und unwirtlich, und ich erinnere mich nur allzu gut an die jähe Nachtfahrt zum Krankenhaus. Heute vor vier Jahren starb mein Vater. Das starke Band zwischen uns zerriss. Er wolle mir eine Botschaft schicken von der anderen Seite, hatte er mir versprochen. „Wenn ich irgendwie kann.“ War es vielleicht das Tagpfauenauge, das am Morgen nach seinem Tod in der Garage unerwartet auf meine Hand flog und dort eine gefühlte Ewigkeit unbeweglich sitzen blieb? Wo mochte mein Vater jetzt sein? Hat der Mensch wirklich eine unsterbliche Seele? Was passiert mit uns, wenn wir gehen müssen? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Ein helles, freundliches, glückliches, wie es sich so viele wünschen? Oder ein bedrohliches Zwischenreich voller Dämonen, in dem man orientierungslos, verwirrt und ängstlich umherirrt und seinen Weg nicht findet? Wartet auf uns eine kurze oder lange Phase der Ruhe und des tröstlichen Vergessens bis zur nächsten Wiedergeburt? Oder doch nur das schwarze oder weiße Nichts, das uns für immer verschluckt und auslöscht? Mein Vater hat mir keine Botschaft geschickt. Nur diesen einen Schmetterling an jenem Wintermorgen. Vielleicht.

In Gedanken ist er mir oft noch nah, besonders in meinem Garten. Manchmal rede ich mit ihm, frage ihn um Rat. Meinst du, die Kletterhortensie ist krank? Wo soll ich die neue Taglilie hinpflanzen? Findest du, die blaue Clematis passt gut zu dieser gelben Rose? In der Natur fand mein Vater den ersehnten Frieden, hier war er glücklich, umgeben von stillen grünen und bunten Freunden. Er  liebte die Bäume, die Sträucher und Blumen, und sie liebten ihn. Oft saß er auf seiner Bank und beobachtete geduldig die vielen zahmen Vögel, die er auch mit fast neunzig Jahren noch jeden Tag fütterte. Nach jedem Sturm ging er hinaus und schaute nach, ob nicht etwa ein Nest aus den Bäumen geweht worden war und die Nestlinge Hilfe brauchten. Mein Vater verstand die Sprache der Tiere und der Pflanzen. In seinem Garten gab es eine Intensivstation für gerettete Blumen, die andere achtlos fortgeworfen, vorzeitig aufgegeben oder als unpassend ausgemustert hatten. Sie blühten immer besonders schön, als wollten sie ihm ihre Dankbarkeit unbedingt zeigen. Es gab sogar ein kleines Schattenlazarett für besondere Härtefälle, die noch kein Licht vertrugen und absolute Fingerspitzenbehandlung benötigten. Von meinem Vater lernte ich schon früh, wie wichtig Standort und Bodenbeschaffenheit für jede Pflanze ist. Er hatte einen Naturgarten im besten Sinne, und er freute sich, wenn ihm sein Garten unerwartet kleine Geschenke machte. Hier eine ungewöhnliche Glockenblume, dort ein gelber Fingerhut, eine gefüllte Akelei, ein neuer Farn oder ein winziges Veilchen. Gänseblümchen und Ehrenpreis durften unbehelligt in seinem Rasen wohnen. Im Schatten wuchsen Farne und Funkien, auf den Steinen blühte das Moos. Der Rasen meines Vaters war weich wie ein Teppich, wenn man mit bloßen Füßen darüber lief. Spaziergänger, die an unserem Garten vorbeigingen, blieben oft stehen und fragten, ob sie einen Blick in das kleine Paradies werfen durften. Mein Vater war so stolz auf seinen Garten.

In meinem eigenen Garten stehen viele „seiner“ Pflanzen. Einige stammen tatsächlich noch aus seinem verlorenen Garten. Wie so oft war der Tod des Gärtners unweigerlich auch der Tod des Gartens. Die malerische Wildnis gibt es nicht mehr, sie hat einem pflegeleichten gesichtslosen Hausgarten Platz gemacht. Ich ertrage den Anblick nicht. Ich kannte jedes Pflanzenwesen im Garten meines Vaters. Die weiße Hortensie, die noch von meiner Erstkommunion stammte, den Heidegarten hinter dem Haus, die uralten Rhododendronbüsche am Giebel, die noch aus dem Garten meiner Großmutter waren, die gelben, rosafarbenen und weißen Azaleen. Den kleinen Teich mit der seltenen blauen Iris aus Japan, die saftigen Sumpfdotterblumen und die weiße Seerose. Am Garteneingang begrüßte mich im Frühling die Magnolie mit den riesigen Tulpenblüten, daneben wuchs die zierliche Sternmagnolie. Wenn es ihn noch gäbe, würden sich jetzt im Garten meines Vaters die Buschwindröschen, Schachbrettblumen und Märzenbecher wiegen, neben gestreiften Krokussen, langstieligen Primeln und altmodischen Aurikel. So wie hier, in meinem Garten. Auch hier leuchten gerade die Forsythien und der Ranunkelstrauch, entwickelt die robuste Clematis montana unermüdlich neue Knospen und hangelt sich an kleinen Armen hoch in die Bäume. Der gelbe Ginster, dessen herber Duft mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt, öffnet gerade die ersten Schmetterlingsblüten und macht mir Heimweh. Hornveilchen, Tulpen und Narzissen sind fröhliche Farbtupfer im Grün. Sogar die Maiglöckchen sind schon zu sehen. Bei meinem Vater wuchsen sie hinter den Rhododendronbüschen, bei mir unter dem Perückenstrauch.

Anders als ich war mein Vater ein begnadeter Rosenspezialist. Ich erinnere mich noch gut an seine besonderen Lieblinge, an Bourbon-, Portland- und Damaszenerrosen, an Teehybriden, Moschusrosen,  an hübsche Namen wie Alba, Christine Hélène, Schneewittchen, Albertine und Maria Lisa.“Rosen muss man schneiden, wenn die Forsythien blühen“, sagt die Stimme meines Vaters. Ich versuche es. Jedes Jahr. Gestern habe ich meine hohen Rosentöpfe an die ihnen zugedachten Stellen im Garten gebracht. Leider habe ich mit Rosen wenig Glück, was vor allem daran liegt, dass ich mich nie traue, sie „richtig“ zurückzuschneiden. Ich schneide äußerst ungern, denn ich habe immer Angst, meinen Pflanzen weh zu tun. Ich habe auch keine großen Rosenbeete wie mein Vater, nur ein paar Ecken mit rosa blühenden Fairies, die ich genau wie er nicht als Bodendecker nutze, sondern zu einem riesigen Busch wachsen lasse, drei alte Duftrosen und viele Töpfe. Seinen Rosen hat mein Vater einen großen Teil des Gartens geschenkt, genau wie den üppigen Pfingstrosenbüschen. Auch mit Päonien habe ich leider kein Glück. Vielleicht liegt es am Lehmboden oder an den Wühlmäusen? Ich pflanze sie zwar, doch nach kurzer Zeit verschwinden sie einfach wieder. Die Pfingstrosensträuße vom Markt duften selten und niemals so intensiv wie die meines Vaters. Bei meinem letzten Besuch im alten Garten habe ich so viele mitgenommen, wie nur ins Auto passten. Der Rücksitz war ein duftendes Blütenmeer. Vorher habe ich sie alle fotografiert, um sie mir für immer zu bewahren. An der Garage meines Vaters stand früher ein wilder Rosenbusch, dessen weiche Ranken bis oben aufs Garagendach reichten und dessen rosa Blüten so stark dufteten, dass mein Zimmer zum Rosengarten wurde. Ich höre die Stimme meines Vaters am Telefon: „Stell dir vor, deine Rose hat heute angefangen zu blühen, Kind!“ Ich war ich süchtig nach seinen Rosen, nach seinen Blumen. Wenn ich während des Studiums zurück nach Köln fuhr, überreichte er mir am Bahnhof jedes Mal einen riesigen Blumenstrauß, über den sich anschließend das ganze Zugabteil freute. Im Spätsommer waren es nicht nur Rosen, sondern manchmal auch knallbunte Dahlien und Löwenmäulchen oder zerbrechliche Wicken, und im Herbst lilafarbene kleinblütige Astern oder kräftige Chrysanthemen, die bei mir Wurzeln schlugen und wieder zurück an den Niederrhein gebracht wurden, wo mein Vater sie einpflanzte. Die stammten aus seinem zweiten Garten, denn mein Vater hatte viele Jahre lang auch noch einen Nutzgarten, in dem er Gemüse und Obst anpflanzte und Schnittblumen zog.

In diesem Frühjahr habe ich mir endlich eine kleine Sternmagnolie gekauft. Drei fragile Blüten hat sie noch. Heute, an diesem besonderen Tag, stelle ich mir vor, wie mein Vater auf seiner geliebten weißen Bank in seinem neuen großen Garten sitzt, die zahmen Vögel beobachtet und sich an den Frühlingsblumen freut. Genau so hätte er sich sein persönliches Paradies gewünscht. Ein Garten voller Blumen. Vor allem voller Rosen.

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