Herbstkreis

(windy247/pixabay)

November

Ich fühle, wie der Kreis versucht, sich zu schließen.

Unsere Geschichte endet, wie sie begann. Mit schmerzender Sehnsucht. Mit quälender Abwesenheit. Mit dem wunden Gefühl, zerschnitten worden zu sein und die zweite Hälfte verloren zu haben. Zuerst nur bis zu nächsten Umarmung. Jetzt, nach dem letzten Abschied, für immer.

Da sprach Lenchen „Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht. Da sprach der Fundevogel „nun und nimmermehr.“

Schon am Anfang konnten wir ohne einander kaum sein. Die Zeit stand still oder überschlug sich vor Freude, wenn wir uns wiedersahen. Meistens auf dem Platz vor der Kirche, du hattest die Arme schon weit ausgebreitet für mich. Erst als wir Tage und Nächte teilen konnten, wurden wir ruhig und lernten gemeinsam zu fliegen, wohin auch immer es uns zog.

Da sprach Lenchen „Fundevogel, verläßt du mich nicht, so verlaß ich dich auch nicht. Da sprach der Fundevogel „nun und nimmermehr.“

Ich weiß, dass du nicht gehen wolltest. Mit aller Macht hast du dich gewehrt.

Unsere Geschichte endet, wie sie begann. Mit wirren Träumen, einsamem Aufschrecken im Dunkeln, tastenden Händen, die ins Leere greifen. Mit später Musik am Abend. Mit frühen Gedichten am Morgen, gleich nach dem Schlaf, halb noch im Traum. Lange vor Sonnenaufgang.

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Weißdorn

(Lucian/unsplash)

 

Hagazussa

Wenn ich hinausgehe in den bunten Garten, ins wirbelnde Laub, zum winterlich verhangenen Teich,

wo der Weißdorn wächst, der meine Wünsche so gut kennt wie seine flatternden Bänder,

dreimal tief kalte Luft atme,

dreimal leise deinen Namen rufe,

mich dreimal im Kreis drehe,

könnte es dann sein, dass du zurückkommst?

 

Nur ganz kurz, nur für mich.

Nur einen Augenblick,

nur einen Falterflügel,

nur einen Wimpernschlag,

nur einen Lufthauch,

nur ein Lächeln lang?

 

Mehr wünsche ich mir heute nicht.

 

(16. November 2024)

 

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Rooms and Stories – Die beiden Schwestern

Der folgende Text handelt vom Umgang mit Angst und Panik und dem Themenkreis Sterben und Tod und könnte bei LeserInnen, die selbst unter Angst leiden oder besonders einfühlsam sind, unangenehme Empfindungen auslösen.

Vor kurzem hatte ich nach langer Zeit wieder zwei Panikanfälle, der erste hat mich überwältigt, den zweiten konnte ich rechtzeitig beruhigen. Panik kommt (zumindest bei mir) so gut wie nie völlig aus heiterem Himmel, auch wenn es sich jedes Mal so anfühlt. Im Nachhinein finde ich immer die Auslöser, oft hat sich einfach nur sehr viel angesammelt oder es waren zu viele Trigger auf einmal.

Im Februar, als mein Mann im Sterben lag, hatte ich nach Jahrzehnten wieder einen schlimmen Panikanfall. Ich verlor vorübergehend die Kontrolle über mich, begann von Kopf bis Fuß zu zittern, Hals und Schultern verkrampften sich, mir war übel und meine Zähne klapperten, bis schließlich mein ganzer Körper in Aufruhr geriet und ich das Gefühl hatte, verrückt zu werden oder in lauter Einzelteile zu zerbrechen. Ich lebte schon seit Tagen in einer kaum zu ertragenden Ausnahmesituation voller Stress und Angst, hatte mich die ganze Zeit kontrollieren müssen und so gar nicht um mich selbst gekümmert. Die Panik erwischte mich an diesem Morgen plötzlich und völlig unerwartet unten im Flur. Die Palliativärztin war gerade gegangen, hatte mich an der Tür kurz in den Arm genommen und irgendetwas Nettes gesagt, was mir offenbar den Rest gab, weil es so mitfühlend war und damit meinen emotionalen Schutzpanzer durchbrach. Jetzt ging gar nichts mehr, und ich hatte Angst zusammenzubrechen. Mein Mann war zum Glück nicht allein, ich brauchte also nicht sofort nach oben zu gehen. Ich schleppte mich zum Küchentisch, hätte am liebsten geheult wie ein Wolf, doch ich wollte auf keinen Fall, dass Jan meine Verzweiflung mitbekam. Wahrscheinlich konnte er das in seinem Zustand gar nicht mehr, aber was, wenn doch? Sterbende können offenbar bis zum Schluss gut hören, und das menschliche Gehirn ist selbst Minuten nach dem Tod noch hochaktiv, wie man vor kurzem herausgefunden hat. Das unkontrollierbare Zittern erschreckte mich, aber ich erkannte es wieder, das letzte Mal hatte es mich als junge Studentin erwischt, nicht ganz so dramatisch, aber damals war ich auch nicht so verzweifelt und einsam gewesen wie jetzt. Auch damals befand ich mich allerdings in einer Ausnahmesituation, mein erster Freund hatte sich vor kurzem auf sehr unsensible Weise von mir getrennt, und ich fürchtete, die Trennung nicht zu überleben, was natürlich Unsinn war. Das fürchtete ich offenbar gerade wieder. Wenn Jan stirbt, sterbe ich auch! Der Gedanke war mir oft durch den Kopf geschossen in den letzten Tagen.

In meinem Buch „Hasenherz und Sorgenketten“ habe ich jenen ersten Zitteranfall in dem Kapitel „Espenlaub“ beschrieben. Doch das fiel mir erst wieder ein, als ich mich beruhigt hatte. Damals hatte mich das große Beben in der Uni erwischt, ich war wie vom Blitz getroffen und zu Tode erschrocken. Ich sehe mich noch genau: Ich stand am Getränkeautomaten, meine Hände gehorchten mir nicht mehr und der Becher fiel mir sofort aus der Hand. Die Umherstehenden starrten mich an, äußerst unangenehm, denn ich hatte damals noch viele unbewältigte soziale Ängste. Ich konnte mir nicht erklären, was da Schlimmes mit mir passierte. Vor allem war es ein extrem unangenehmes Köpergefühl und die schier unerträgliche Furcht zu sterben. Jetzt, auf der Stelle. Ich brauchte Hilfe. Wahrscheinlich war ich sehr krank! Unser Hausarzt wusste nicht weiter, ließ meine Schilddrüse checken, und als die in Ordnung war, bekam ich Tabletten, insgesamt vier am Tag. Heute weiß ich, dass die Dosierung für mich viel zu hoch war, eine hätte dicke gereicht. Eine Zeitlang lief ich fremd und abwesend wie in Watte gepackt mit trockenem Mund durch die Welt, hätte dringend eine Therapie gebraucht, doch es sollte lange dauern, bis ich endlich die richtige Hilfe bekam. Der Tag an der Uni ist lange her, inzwischen bin ich eine erfahrene Angstspezialistin und weiß genau, was in mir passiert, wenn Angst und Panik kommen. An diesem Februarmorgen war es ein Kraftakt, mit Zitterhänden den Kühlschrank zu öffnen und mir ein Glas Wasser einzugießen. Langsam ließ ich die kühle Flüssigkeit durch Mund und Rachen fließen, es half ein bisschen, wie ich gehofft hatte, und schon fielen meinem nun etwas klareren Kopf die Tabletten ein, die mein Mann für den Notfall „gegen Panik“ bekommen hatte. Sie waren in seinem Tablettendöschen, ich brauchte nur die Hand auszustrecken und es zu öffnen. Ich kannte das Mittel nicht, aber die Ärztin hatte uns versichert, dass es schnell helfen würde. Auf der Zunge erinnerte mich die dünne Tablette an Esspapier, sie löste sich sofort auf und das Krampfen und Zittern ebbte bald ab. Nach zwei weiteren Wassergläsern war der Spuk vorbei. Ich fühlte mich leer und erschöpft, hatte aber zum Glück die Kontrolle über meinen Körper zurück. Die Katzen sprangen auf den Tisch und trösteten mich. Sie sind angstfrei und lassen sich nicht mal durch Schluchzen und Panikanfälle verstören.

Doch der Anfall nach so langer Zeit hatte mich alarmiert, und schon meldete sich wie erwartet die Angst vor der Angst. Hoffentlich passiert das nicht wieder! Etwa am Sterbebett oder beim Bestatter oder bei der Beerdigung! Das wäre schrecklich! Ich versuchte mich selbst zu beruhigen, und tatsächlich blieb ich in allen drei Situationen ruhig und funktionierte wie mit einem inneren Autopiloten. Etwas Schützendes schien mich zu tragen, vielleicht das irreale Gefühl, dass alles nur ein Film oder ein Traum war. Aber wahrscheinlich half mir vor allem das Gefühl, dass Jan auch nach seinem Tod noch an meiner Seite war, viel mehr als in seinen letzten schwerkranken Jahren. Er konnte gar nicht tot sein, denn ich spürte ihn ja neben mir. Wir waren immer noch zusammen! Er war bei mir, was für ein Trost, was für ein Glück! Ich spürte, wie er tröstend den Arm um meine Schulter legte und fürsorglich über mich wachte, wie in seinen gesunden Zeiten. Ich bekam auch die versprochenen Zeichen, die ich jetzt so dringend brauchte, zumindest fühlte es sich so an. Da war die merkwürdige Sache mit dem verschwundenen und wieder aufgetauchten Ehering, da war der schwarze Schmetterling, der sich an seinem Todestag auf meiner Hand niederließ und durch das ganze Haus tragen ließ, und vor allem das mit völlig unbekannte altgriechische Wort, das ich im Traum dreimal hörte. Das alles konnte doch nur von ihm kommen! Das konnten doch nur Zeichen sein! Das altgriechische Wort machte vollkommen Sinn, als ich im Internet die Bedeutung fand. Für eine Weile verspürte ich eine für mich ungewohnte tiefe Gelassenheit, als wäre mein Mann mit all seiner Ruhe vorübergehend in mein Innerstes geschlüpft. Eine so enge Verbundenheit kann doch nicht einfach aufhören! Ach, ich könnte alles ertragen, wenn er noch bei mir wäre! Am Anfang hat mich dieser Glaube getröstet. Inzwischen ist er der Verzweiflung gewichen, denn ich fürchte, unsere Nähe ist für immer dahin. Er ist fort, antwortet mir nicht mehr und kommt auch nicht in meine Träume. Die Seelen von Verstorbenen bleiben nur die ersten dreißig Tage in unserer Nähe, heißt es, und diese dreißig Tage sind lange vorbei. Die kleinen Zeichen sind wahrscheinlich auf mein Schriftstellerhirn zurückzuführen oder einfach nur Zufälle. Nach dem Tod ist das Band zu den Lebenden offenbar zerrissen. Eine Vorstellung, die für mich nahezu unerträglich ist.

Es geht mir nach seinem Verschwinden nicht gut in Gesellschaft, ich ertrage keine Nähe, bekomme Fluchttendenzen, wenn ich länger mit anderen zusammen sein muss, am liebsten bin ich allein mit meinen Katzen.

Vor wenigen Wochen kam ein weiterer Panikanfall. Es war ein sehr heißer Tag, mir ging es körperlich schlecht, ich merkte schon auf dem Weg zur Veranstaltung, dass etwas nicht stimmte. Mir war schwindelig, ich konnte mich nicht konzentrieren. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre zurück in mein stilles Haus gegangen, doch ich gab nicht nach und ging weiter. Bald saß ich mitten in der Pflichtveranstaltung, in der ich eigentlich gar nicht sein wollte, sogar das Thema war mir unangenehm. Meine Knie taten weh, mein Stuhl stand weit weg von der Tür, der Raum war zwar groß, fühlte sich aber trotzdem warm und stickig an. Ich saß zwischen lauter fremden Menschen, würde in Kürze sprechen und vielleicht sogar an den Diskussionen teilnehmen müssen. Alles schlimme Stressfaktoren. Als Kind mit ausgeprägter Sozialphobie und Redeangst hätte diese Kombination sofort zu extremer Aufregung und Panik geführt, doch als angsterfahrene Erwachsene kann ich solche Situationen normalerweise gut aushalten.

Ich kenne meine Angst und Panik genau, weiß, wie sie aussehen, dass sie keine riesigen Monster sind, sondern nur Teile meiner selbst. Sie sehen sogar aus wie ich, auch wenn die Panik mir unsympathisch ist, leider leicht durchdreht, überhaupt nicht zuhört und überhaupt extrem anstrengend ist, während die Angst lieb und schüchtern ist, eher Trost und Zuneigung braucht und am liebsten in den Arm oder an die Hand genommen wird. Sie ist fragil und leicht verletzt, braucht viel Zuspruch und sieht aus wie ich selbst als kleines Kind. Die Angst ist meine bleiche kleine Schwester, mit ihr kann ich gut umgehen. Die Panik ist meine nervige große Schwester, eine schreckliche aufbrausende Chaotin und Drama Queen. Sie hat ein feuerrotes Gesicht und reagiert total über, so ähnlich wie mein Vater bei seinen Wutanfällen. In Wirklichkeit war er in diesen Situationen immer völlig verzweifelt, aber das merkte man nur, wenn man ihn sehr gut kannte, und dann konnte man auch damit umgehen. Aber es war sehr anstrengend. Die Panik ist auch völlig verzweifelt, deshalb hilft es auch gar nicht, wenn man versucht, gegen sie anzugehen.

Ich war erschrocken über meine massiven körperlichen Reaktionen an diesem heißen Nachmittag. Panikanfälle spürt man ja vor allem physisch, rennt innerlich Amok und fürchtet, jeden Moment ohnmächtig zu werden oder gar an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben. Hitze ist bei diesen Symptomen natürlich genau das Falsche, sie steigert sämtliche Paniksymptome, kann durch den beschleunigten Herzschlag und das starke Schwitzen und den damit verbundenen Stress sogar selbst zu Panik führen! Ich weiß das alles sehr wohl und konnte doch an diesem Tag die Panik nicht aufhalten.

Schon ging das Innentheater los. Mein Herz raste, ich sah alles verschwommen, spürte meinen Schweiß rinnen und meine Hände zittern, schaffte kaum die Unterschrift auf der Teilnehmerliste. Wie schrecklich, und das ausgerechnet hier vor all den Leuten! Was, wenn ich jetzt tatsächlich ohnmächtig werde oder für alle sichtbar zitternd und zähneklappernd auf meinem Stuhl hänge? Was, wenn das jetzt gar kein Panikanfall ist, sondern ein Herzinfarkt? Es gibt bekanntlich das Broken Heart Sydrome, an dem überlebende Partner vor Kummer und Trauer sterben, weil sich ihr Herz vorübergehend krankhaft verändert. Kein hilfreicher Gedanke, die Panik riss ihn mir sofort weg, wiederholte ihn in einem fort und war echt auf dem besten Weg, völlig außer Kontrolle zu geraten. Jetzt war es wirklich zu spät. Keine Gelegenheit mehr, die anderen vorzuwarnen, Entschuldigung, aber ich kriege gleich einen Panikanfall, oder meiner Nachbarin zu sagen, hol mir bitte was Kaltes zu trinken, dann geht es mir gleich besser. Mit flackerndem Blick schaute ich zur Tür. Flight or Fight. Nichts wie weg hier, rief die Angst, lauf raus, ich halt es nicht mehr aus hier. Im Freien ebbt Panik normalerweise tatsächlich schnell ab. Tief durchatmen, beide Füße fest auf den Boden setzen, antwortete eine sehr ruhige Stimme in mir, wie eine Erzählerin in einer Geschichte. Und dann sagte sie: Rot ist die Panik, weiß ist die Angst.

Rot und Weiß? Mein Schriftstellerhirn wachte auf und warf gleich den Wortanker aus. Dazu fiel mir einiges ein! Schneewittchen! Weiß wie Schnee. Rot wie Blut. Schneeweißchen und Rosenrot. Weiß ist die Unschuld. Rot ist der Mohn. Tomatenrot. Paprikarot. Meißner Blumenrot. Telefonzellenrot. Und dann legte es richtig los. Rot-Weiß Essen. Köln Rotweiß! Wenn die ganze Kurve tobt, schlägt mein Herz in weiß und rot! Jetzt musste ich tatsächlich schwach grinsen. Mit Fußball habe ich einfach so gar nichts am Hut. Warum fiel mir ausgerechnet so was Blödes ein? Und dann kam die Krönung der Absurdität: Pommes rut-wiess!  Die kleine Angst grinste jetzt auch, nur die Drama Queen blieb unberührt, sie war zu sehr beschäftigt mit ihrem roten Ausrasten. Zeit zu handeln. Gibt es hier vielleicht was zu trinken? Oder zu essen? Etwas, das die Panik ablenkt, damit wir hier nicht filmreif durchknallen? Möglicherweise rufen die dann sofort den Notarzt und den Krankenwagen. Und dann? Notaufnahme! Krankenhaus! Die Hölle! Bloß nicht dran denken, sonst dreht die Panik noch mehr durch. Man kann immer was tun! Also komm jetzt endlich in die Pötte! Steh auf. Lauf rum. Raus auf den Flur. Oder vor die Tür. Zur Toilette, das Gesicht am Becken mit kaltem Wasser bewerfen. Wasser gegen die Augen schaufeln. Aus dem Hahn trinken. Schnurzegal, was die anderen denken. Wichtig ist jetzt nur, die Panik wieder runterzuholen. Ihr Mut zuzusprechen, auch wenn sie noch so nervt. Arme Panik, ich versteh dich ja, ist viel zu heiß und stressig hier, wir finden jetzt was, das dir hilft. Wir schaun uns einfach mal genau um. Das taten wir. Zumindest die kleine Angst und ich. Die große Panik war leider immer noch mit Schnappatmung und Ausrasten beschäftigt.

In einer Ecke des Raumes gab es tatsächlich einen Tisch mit Snacks und Getränken. Zu dem gingen wir jetzt. Alle drei. Die kleine Angst und ich zogen die Panik einfach mit. Dabei versuchte ich, jeden Schritt, jede Berührung der Füße mit dem Boden zu registrieren, alles wahrzunehmen, Farben, Gerüche, Vorhänge, Bodenbelag, Stimmen. Ich holte uns ein großes Glas Mineralwasser und ein Brötchen mit Käse und Tomate, in das ich gleich meine Zähne grub. Ich liebe Käse und Tomaten, für mich ist es Kindertrostessen wie Eis. Kauen und Trinken half. Die anderen guckten erstaunt bis entrüstet, was isst die denn jetzt schon, wir sind doch grade erst hier und es ist doch noch gar keine Pause! Egal. Kauen, Trinken, Atmen. Die Panik war abgelenkt, hörte auf zu toben und zog sich verwundert zurück. Die Angst blieb noch eine Weile, doch dann verschwand auch sie. Ich war wieder frei und allein, atmete tief durch, erklärte dem Mineralwasser, wie sehr ich es liebte, holte mir Nachschub, die ganze Flasche, und gleich auch noch ein Brötchen, freute mich, dass mein Kopf klar wurde, und beteiligte mich irgendwann sogar an der Diskussion. Meine Erleichterung war grenzenlos. Hier bin ich! Zurück unter den Lebenden! Anfall erfolgreich abgewehrt, auch wenn ihr davon nichts ahnt. Die restlichen dreieinhalb Stunden waren kein Problem.

Bei der nächsten größeren Veranstaltung nehme ich eine der beiden verbliebenen Tabletten mit. Es reicht, wenn ich sie in der Hosentasche weiß. Vielleicht nehme ich auch eine kleine Wasserflasche mit. Oder eins meiner blauen Cool Pads. Die gehören zu den zuverlässigen Nothelfern gegen Stress und Panik. Genau wie Eisklümpchen aus dem Tiefkühlfach. Doch die kann man nicht gut transportieren.

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Rooms and Stories – Tante Lotte (1)

Charlotte Block als Kind

Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Erinnerungen meines Mannes meine eigenen sind, so genau und oft hat er sie mir beschrieben. Um die starken Frauen in seiner Kindheit habe ich ihn immer beneidet, so eine charismatische Bezugsperson wie Tante Lotte, die einem bereits als Kind auf spielerische Weise die Welt der Literatur und Kunst erschließt, hätte ich auch gern gehabt. Hier im Haus gibt es vieles, das an sie erinnert, etwa der Tante Lotte-Schrank in meinem Arbeitszimmer und die von ihr gemalten Bilder im Wohnzimmer. Die habe ich aus dem Keller gerettet und wir haben sie dann rahmen lassen. Auf einem ist ihre Freundin Ida, Jans Großmutter, zu sehen.

rechts Lotte Block

Geboren wurde Charlotte Block am 30. Mai 1892 in Gießen, ihr Vater war der Staatsrat Rudolf Block, gestorben ist sie am 7. Juli 1973 in Darmstadt, wo sie sich nach dem Tod ihres Partners Heinrich Adolph erneut niederließ. Die Kinderbilder von Tante Lotte habe ich erst vor zwei Wochen gefunden. Merkwürdigerweise haben wir auch die Alben ihrer älteren Schwester Ilse. Ich glaube, sie war Fotografin. Beide Schwestern hatten keine Nachkommen. In Gießen besuchte Lotte die Höhere Mädchenschule, dort hat sie möglicherweise auch Jans Großmutter, Ida Strack, kennengelernt. Durch die Versetzung des Vaters siedelte die Familie im Herbst 1907 nach Darmstadt um.

Lotte lebte viele Jahre im Elternhaus meines Mannes im Haus am Nahrungsberg in der mittleren Etage, zusammen mit Jans Großvater Heinrich Adolph, in „wilder Ehe“, wie man diese Lebensform früher nannte. Vielleicht hätten die beiden geheiratet, wäre sie nicht Studienrätin gewesen, doch so hätte sie bei einer Eheschließung automatisch ihre Stelle und jeglichen Anspruch auf ihre Pension verloren. Das rechtlich festgelegte Lehrerinnenzölibat verbot damals Lehrerinnen zu heiraten, bei Missachtung folgte umgehend die Kündigung. Das war für die selbstständige, selbstbewusste Lotte, die ihren Beruf liebte, sicher unvorstellbar. In meiner Kindheit äußerten sich die Erwachsenen noch oft herablassend über Lehrerinnen. „Die hat keinen mitgekriegt“, „Die denkt, die ist was Besseres“ und „Alte Jungfer“ waren Bemerkungen, die ich oft gehört habe, vielleicht war die unfaire Behandlung dieser Berufsgruppe den meisten damals gar nicht bewußt. Frauen hatten in den Augen der Gesellschaft wohl nicht das Recht, einen Beruf auszuüben, und wenn sie trotzdem die Kraft und den Mut dazu aufbrachten und ihre Eltern ihnen gar die Möglichkeit gaben zu studieren, hatten sie oft einen schweren Stand. Die ersten Frauen wurden erst um 1900 an deutschen Universitäten zugelassen, Promotionen waren eine absolute Seltenheit. Wer sich als Frau für eine selbstständige Berufsausübung als Lehrerin entschied, verzichtete damit bewusst auf Familie und Kinder, was für einige sicher auch eine emanzipatorische Bedeutung hatte. Erst 1957 wurde die Zölibatsklausel für verfassungswidrig erklärt. In den Schulen, die ich besuchte, gab es nur zwei (!) verheiratete Lehrerinnen, alle anderen waren „Fräuleins“. Doch 1957 war Tante Lotte bereits 65 Jahre alt und Jans Großvater seit sechs Jahren tot. Eine Beziehung, wie Jans Großvater und Lotte sie führten, wäre  in unserem Dorf völlig unmöglich gewesen, aber in der ohnehin toleranteren Stadt Gießen gab es damit offenbar keine Probleme. Offiziell unterstützte sie den Witwer wohl bei der Haushaltsführung und bei der Betreuung der beiden ältesten Kinder. Zuerst arbeitete sie an ihrer ehemaligen Schule, ab 1936 hatte sie dann eine Stelle am Lyzeum inne.

Lotte Block vorn in der Mitte

Charlotte Block wollte ursprünglich Künstlerin werden, erhielt bei einem gewissen Professor Beyer Unterricht in Malerei, bildete sich an der Technischen Hochschule in Darmstadt künstlerisch weiter und unternahm in diesem Zusammenhang auch ausgiebige Reisen nach Paris und Rom. Es gibt ein Foto von ihr mit Malerkittel im Kreise anderer Künstler in einem Atelier. 1916 gab sie das Kunststudium auf und besuchte stattdessen die Viktoriaschule in Darmstadt. Im Mai 1917 erhielt sie das Zeugnis der Reife an der Großherzoglichen Studienanstalt zu Darmstadt. Als gewählter Beruf ist im Zeugnis Kunstgeschichte angegeben, doch bald beschloss sie, Studienrätin zu werden, weil ihr Talent ihrer Meinung nach nicht ausreichte für eine Laufbahn als freie Künstlerin. Zusätzlich erhielt sie 1918 als Ergänzung auch noch ein Reifezeugnis für Latein vom Realgymnasium zu Darmstadt. Lotte studierte in Tübingen, Heidelberg, München und zuletzt auch in Gießen Deutsch, Englisch und Kunstgeschichte, schloß das Studium 2021 mit hervorragenden Noten ab und promovierte kurz darauf, damals noch eine Rarität für Frauen, mit ihrer Arbeit „Das Verhältnis von Dichtung und Malerei in Dante Gabriel Rossettis Schaffen“ zum Doktor der Philosophie. Die Präraffaeliten lagen ihr zeitlebens am Herzen, wie ich von Jan weiß, denn sie hat ihm viel dazu erzählt. 1922 beendete sie ihr Seminarjahr  am Pädagogischen Seminar der Viktoriaschule in Darmstadt. Vor mit liegt eine große grüne Mappe mit all ihren Seminarscheinen und Zeugnissen. Irgendwie rührt es mich, dass wir beide Deutsch und Englisch studiert haben, sie hat sogar Seminare zu denselben Themen besucht wie ich, hat sich auch intensiv mit dem Nibelungenlied und Beowulf beschäftigt.

Lotte mit der kleinen Hilde (1915)

Tante Lotte war die beste Freundin von Jans Großmutter Ida, die 1918 kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes nach nur sechs Jahren Ehe mit 28 Jahren an der Grippe starb, möglicherweise waren es aber auch Komplikationen im Kindbett. Wann genau Lotte und Jans Großvater ihre Liebe entdeckten, habe ich noch nicht herausgefunden. Vielleicht hat die gemeinsame Trauer um Ida sie verbunden, vielleicht waren sie aber auch einfach voneinander fasziniert. Jedenfalls zogen sie wohl 1925 zusammen, nachdem Lotte sich hatte versetzten lassen. Danach war sie an zwei Schulen in Gießen tätig. Tante Lotte wurde neben der Großmutter Emilie Strack zur fürsorglichen Bezugsperson für die beiden älteren mutterlosen Adolph-Kinder. Hilde war damals 7, Heinz 5 Jahre alt. Marianne, die jüngste Tochter, wurde kurz nach der Geburt von  Verwandten aufgenommen und wuchs weit weg in Hamburg auf, wodurch ihr Verhältnis zu den beiden größeren Geschwistern, die zusammenhielten wie Pech und Schwefel, und wohl auch zu Tante Lotte, nie wirklich eng wurde, auch wenn es mindesten einmal im Jahr ein Treffen bei einem Gießener Fotografen gab, der die drei Kinder in trauter Harmonie mit und ohne Vater ablichtete. Später wurde Lotte auch Jans Bezugsperson und „zweite Oma“. In unserem Familienstammbaum habe ich sie bewußt als „Partnerin des Großvaters des Partners“ eingetragen, denn ich fände es jammerschade, wenn sie einfach vergessen würde.

Im Herbst und Winter durfte der kleine Jan nachmittags gegen fünf bei Tante Lotte auf dem Sofa die „heure bleu“ zelebrieren, eine kostbare Zeit, auf die er sich sehr freute. Wieder und wieder schaute er auf die Uhr und  konnte es gar nicht abwarten, endlich nach oben zu laufen. Großvater Heinrich hielt sich während der Blauen Stunde immer in der Nähe auf, hörte den Gesprächen interessiert zu und freute sich am liebevollen Zusammensein von Enkel und Partnerin. Tante Lotte und der kleiner Jan machten es sich unter der großen lilafarbenen Häkeldecke auf dem Sofa bequem und Lotte begann zu erzählen, von Odysseus, Athene und Artemis, den Haimonskindern, Griseldis, der schönen Melusine, König Artus und Genoveva. Sie las ihm Gedichte vor oder rezitierte sie frei aus dem Gedächtnis, sprach vom Knaben im Moor und vom Erlkönig, brachte ihm auch die witzige Version mit Rede und Gegenrede „uff Hessisch“ bei, die Jan auswendig hersagen konnte. Im Internet finde ich zwar eine Version, bin mir aber nicht sicher, ob es wirklich dieselbe ist.

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?                                                                                   (So lossen, so lossen doch rieden!)                                                                                                    Es ist der Vater mit seinem Kind.                                                                                                 (Der kunnde ’ne Droschke sich mieden!)                                                                                         Er hat den Knaben wohl in dem Arm,                                                                                            (Sall hä’n uffen Buckel sich hangen?)                                                                                               Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm.                                                                                             (Das kann me vun’n Vadder verlangen!)

Lotte im Weihnachtskostüm

Sie brachte ihm auch die Datierung der Goetheschen Dramen anhand eines kleinen Eselsbrücken-Gedichts bei, das ich leider vergessen habe. Die einzige Zeile, an die ich mich noch erinnere, ist „Maria, seine Jungfrau Braut, schrie hell und laut“ (gemeint sind hier eindeutig die Dramen Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, Braut von Messina und vielleicht auch Wilhelm Tell?). Ach, hätte ich es doch nur aufgeschrieben! Jetzt ist es zu spät! Jedenfalls hat der Knabe Jan seinerzeit mit der korrekten chronologischen Auflistung der Goetheschen Dramen das Aufnahmekomitee am Gießener Landgraf-Ludwigs-Gymnasium offenbar nachhaltig beeindruckt.

Pet

Auch mit der Malerei machte sie ihn vertraut, zeigte ihm Bilder von Rembrandt, Breughel und Feininger. Mein Mann erinnerte sich noch gut an das verblüffte Gesicht seiner Mutter, als der Kleine sie eines Tages still beobachtete, während sie in der Küche vor dem Fenster stehend prüfend ein Einmachglas gegen das Licht hielt, und dann urplötzlich verlauten ließ:  „Jetzt siehst du genauso aus wie Rembrandts Sakia!“ Tante Lotte war damals natürlich schon älter und hatte auch schon weißes Haar. Manchmal malte der Großvater sie als Eule vor dem Mond, wie sie Pet, ihren kleinen Foxterrier, in den Klauen hielt. Irgendwo muss das Kinderbuch sein, in dem eine dieser Darstellungen sich erhalten hat. Ich glaube, es ist eine Uraltausgabe von den Heinzelmännchen von Köln, die ursprünglich Ida gehörte. Doch darauf hält die Eule keinen kleinen Hund, sondern zwei Mäuse in den Klauen.

Hypnos

Über Tante Lottes Sofa hingen viele Bilder, die sich ihrem kleinen Bewunderer, der gar nicht genug bekommen konnte von all den spannenden Geschichten, tief einprägten. Besonders beeindruckt war er von einem Detail des Isenheimer Altars, ich weiß aber nicht mehr genau, welches. Im Musée Unterlinden in Colmar hat er mir das Original mehrfach voll Begeisterung gezeigt, aber leider hat es mich enttäuschend wenig beeindruckt. Altäre sind so gar nicht mein Geschmack. Ganz im Gegensatz zum dunkel verblichenen Foto der Büste von Hypnos, dem Gott des Schlafes, den ich zunächst wegen seines geflügelten Hauptes für Hermes hielt. Leider fehlt der zweite Flügel, so dass man denken könnte, der Gott habe nur den einen. Hypnos, der Vater von Morpheus, dem Gott der Träume, war eine Erfindung des Dichters Ovid und wachte sicher gern über die schlafende und Geschichten erzählende Tante Lotte und ihren gespannten kleinen Zuhörer. Von ihrem Partner Heinrich wurde sie übrigens liebevoll-spöttisch „Eulonia Kürbiskaja vom Nahrungsberg“ genannt, denn sie hatte nicht nur eine Schwäche für Eulen, sondern auch für süßsauer eingelegte Kürbisse. Auch ich liebe Eulen und Kürbisse, aber letztere vor allem ausgehöhlt an Halloween und in Form cremiger Kürbissuppen.

Lotte und ihre Rosen

Gelegentlich gab es in der Wohnung gar kleine Privatkonzerte für den staunenden Enkel. Jans Großvater war evangelischer Pfarrer, Studienrat und außerordentlicher Professor für Theologie (er hat über dreißig Bücher verfaßt, wie ich neulich gezählt habe) und war nicht nur ein Predigertalent, er hatte auch eine schöne Tenorstimme. Er sang gern zu Hause gemeinsam mit Tante Lotte Kirchenlieder, auch a capella, ohne Klavier- und Orgelbegleitung. Aus politischen und weltanschaulichen Gründen hatte er mit Jans Vater große Probleme, doch der kleine Jan bildete das versöhnliche Band zwischen den beiden Männern. Er liebte seinen hochgewachsenen Großvater, der ihn oben auf den Schultern durchs Haus trug und jedes Mal vor Angst schlotterte, wenn der Kleine übermütig an der Ofentür rüttelte. Heinrich Adolph starb plötzlich und unerwartet 1951 mit nur 66 Jahren während des Silvester Gottesdienstes, unbemerkt von der restlichen Gemeinde, aufrecht in seiner Bank sitzend, das aufgeschlagene Gebetbuch noch auf den Knien, den Gehstock ans Bein gelehnt. Dass er tot war, fiel den anderen erst auf, als er sich nach dem Gottesdienst nicht von der Stelle bewegte.

Hermes auf Melaten

Als ich ein Bild für die Danksagung nach Jans Beerdigung suchte, konnte ich zu meinem Bedauern Tante Lottes Hypnos nicht finden und wählte stattdessen Hermes, der ja nicht nur als Götterbote unterwegs war, sondern auch die Seelen der Verstorbenen zu den Pforten der Unterwelt geleitete. Auch er hat ein geflügeltes Haupt, selbst wenn ihm die Schwingen nur aus dem Helm und nicht aus den Schläfen wachsen. Hermes war einer unserer Lieblinge, genau wie Odysseus, Athene und die rosenfingrige Eos. Jan hat mir die Ilias und die Odyssee zweimal komplett vorgelesen. Seine Lieblingsszene war die, als der greise Priamos nachts zu Achill kommt und um den Leichnam seines Sohnes bittet. Auf dem Melatenfriedhof gibt es eine Statue von Hypnos, die wir aus unerklärlichen Gründen nie gefunden haben. Doch vielleicht hat alles seine Zeit, selbst Statuen, und ich finde ihn beim nächsten Besuch auf Anhieb. Hermes  hätte meinem Mann auch gefallen, ich weiß noch, wie wir ihn fotografiert haben. Es gibt mindestens sieben Versionen von ihm im Album. Tante Lottes Hypnos ist übrigens vor kurzem plötzlich wieder aufgetaucht wie ein echter deus ex machina. Ich suchte nach etwas völlig anderem, und da war er! Hatte sich an der Seite im Schrank versteckt und steht jetzt katzensicher in einem von Jans Regalen.

 

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Toys and Stories – Mausland

Lille und Bror aus der Ukraine

Da im September in der Zeitschrift „1001Miniatur“ ein langer Artikel über meine Mäuse erscheint, ist es wohl an der Zeit, dass ich auch auf meiner Homepage ein wenig mehr über meine große Liebe zur kleinen Welt schreibe.

Puppenstuben und Puppenhäuser haben mich schon als Kind fasziniert, auch wenn ich selbst nur eine einfache Roombox mit zwei Zimmern und ein paar einfachen Möbeln hatte, die meine Mutter zu meinem Kummer irgendwann verschenkte, weil ich angeblich „zu groß“ dafür war. Was für ein Irrtum! Eine meiner Cousinen hatte zum Glück ein antikes Puppenhaus, das mich natürlich wie ein Magnet anzog, wenn wir dort zu Besuch waren. Leider durfte ich es nur bewundernd ansehen und nichts darin anrühren, aber als Erwachsene war ich endlich frei und irgendwann nicht mehr zu halten. Ich habe mein Leben lang „Sächelchen“ gesammelt, wie mein Mann es liebevoll nannte. Ohne Grund, nur weil ich sie schön fand, gern ansah und das Sammeln so viel Spaß machte. Auch kleine Häuser gehörten dazu, aus Holz, Pappe oder Papier, sogar aus Plastik, solange sie schön bemalt oder beklebt waren. Dass ich eines Tages eine umfangreiche, raumgreifende Miniwelt für Mäuse, Hexen und andere Wesen erschaffen würde, habe ich allerdings lange nicht geahnt.

Mein Mann hat meine Neigung stets gefördert, denn er mochte Spielzeug. Wenn wir Weihnachtsbazare, Flohmärkte oder Spielzeugmuseen besuchten, kaufte er mir ausgefallene Miniaturen, am liebsten winzige Weihnachtsdekorationen. Einmal hat mir die nette Dame im Spielzeugmuseum in Rothenburg ob der Tauber sogar einen Minikuchen mit toller Obstgarnitur geschenkt, nachdem mein Mann mir mehrere kleine Kuchen und allerlei andere Schätze gekauft hatte. Bei den Kuchen war ich so entzückt gewesen, dass ich sie am liebsten alle ausgewählt hätte. Das war der Verkäuferin nicht entgangen, und an der Kasse sagte sie: „Und jetzt dürfen Sie sich noch einen Kuchen aussuchen! Weil Sie so viel Spaß an den Sachen haben!“ Dass man mir meine Begeisterung so deutlich anmerkte, hat mich sehr gefreut, denn als Kind konnte ich meine Gefühle leider schlecht bis überhaupt nicht zeigen, schon gar nicht Freude und Begeisterung. Ich stand einfach nur stocksteif da, hatte ein verlegenes kindliches Pokerface und stammelte leise: „Das ist aber schön, Mama!“ Das reichte leider nicht, um meiner extrovertierten, emotional überbordenden  Mutter klarzumachen, dass ich den Gegenstand, den ich gerade fixierte, extrem begehrenswert fand. Und so blieben meine Wünsche fast immer unerfüllt. Meine Schwester dagegen schrie vor Begeisterung laut los „Mama, Mama, das will ich haben! Kaufst du mir das? Bitte, bitte, Mama!“ und bekam prompt, was ihr Herz begehrte. Ich dagegen konnte nicht mal einen ordentlichen Wunschzettel schreiben, weil ich mir immer Sorgen machte, ob das, was ich mir wünschte, nicht vielleicht doch viel zu teuer oder zu schwer zu beschaffen war.

die schüchterne Mimolette aus den Niederlanden

Mein Mann merkte zum Glück immer, wenn ich etwas schön fand und mir wünschte. Er besaß zudem selbst einiges an Spielzeug, als wir uns kennenlernten, was in meinen Augen schon ziemlich ungewöhnlich war. Er hatte nicht nur zwei antike Porzellanpuppen, die einst seiner Großmutter und seiner Mutter gehört hatten, eine umfangreiche Blechspielzeugsammlung sowie eine riesige unvollendete Eisenbahnanlage im Keller, sondern auch einen gut mit winzigen Lebensmitteln bestückten hübschen kleinen Maggi-Laden aus Holz und verschiedene kleine Tiere und Möbel, die er mir alle sofort strahlend überließ. Irgendwann zu Weihnachten überraschte ich ihn mit einem selbstgebauten Marktstand voller Weihnachtsminiaturen, der monatelang  im Wohnzimmer auf einem Regal stand und von den antiken Biegepüppchen bewohnt wurde, die mir mein Mann geschenkt hatte. Jedes Jahr im Advent baute ich zudem unsere Santon-Krippe auf, mit wachsender Hingabe und immer mehr Häusern, Laternen, Bäumen und klitzekleinen Details. Die Mäuse kamen erst später.

Mausland (der Name klingt nicht von ungefähr wie Ausland) wurde 2015 ganz spontan geboren, nachdem ich im Internet die Mäuse der chilenischen Künstlerin Johana Molina entdeckt hatte, einer echten Pionierin der Filzkunst. Cheddar und Mozzarella waren mein Erstkauf in den von mir gerade entdeckten globalen Marktplatz Etsy und brauchten ziemlich lange, bis sie bei uns ankamen, aber Johana hatte ihnen Proviant und Lesestoff mitgegeben, so dass sie die lange Reise gut überstanden. Kurz danach schickte Johana mir meine erste Maushexe, die schwarz gekleidete Caerphilly, die sofort ein Halloweenzimmer in einem Schuhkarton bekam.

Cheddar und Mozzarella aus Chile

Da Mäuse sich bekanntlich rasend schnell vermehren, hatten Cheddar und Mozzarella schon bald etliche Kinder (die ersten waren Tina/Fontina, Parmi/Parmesan, Pecorino und Mimolette), die aus den Niederlanden stammen und von Mireille Booth (bearytalesbymireille), einer anderen Pionierin der Nadelfilzkunst, erschaffen wurden. Mireille ist genau wie ich Übersetzerin und im Laufe der Zeit sind wir gute Internetfreundinnen geworden und haben auch außerhalb der Miniwelt Kontakt. Manchmal überrascht sie mich sogar mit unerwarteten Mauspäckchen! Am Anfang waren  ihre Mäuse noch alle „ooak“ (one of a kind), also Unikate. Dass es sie nur einmal gab, machte sie für mich besonders kostbar. Ich versuche immer noch, ausgefallene Einzelmäuse zu finden, und freue mich, dass Mireille  inzwischen außer dem Etsy Shop auch eine eigene Seite mit ooak-Kreationen hat. Über Mireilles Mäuse könnte ich viele Geschichten erzählen!

Ziemlich schnell entstand eine kleine Welt, in der Mäuse (meist „hochsensibel“, mit individuellen Stärken und Schwächen, Macken, Ängsten und anderen Problemen)  aus aller Herren Länder friedlich zusammenleben und sich liebevoll und humorvoll umeinander kümmern, ganz so, wie man sich die „echte“ Welt wünschen würde. Welche Sprache der andere spricht, welche Farbe er hat und woher er oder sie kommt, ist völlig egal. In Mausland ist für alle Platz. Bis vor kurzem hatten alle meine Mäuse Käsenamen, was damit zusammenhängt, dass ich vor vielen Jahren mit großer Freude ein umfangreiches Käsebuch übersetzt habe. Ich liebe Käse und kenne mich daher ganz gut damit aus. In letzter Zeit habe ich aber auch ungewöhnliche Namen gewählt, die mir die internationalen Mausfans auf meiner Insta-Seite vorgeschlagen haben, einfach weil sie so gut zu der jeweiligen Maus passen. Ich liebe dieses gemeinsame Brainstorming!

Caerphilly aus Chile

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