Felix Pestemers Graphic Novel „Der Staub der Ahnen“ erzählt eine eindrucksvolle, komplexe, zum Teil surrealistische Familiengeschichte, die gleich auf mehreren Ebenen verschachtelt ist. Auf der erzählten Ebene beginnt sie mit dem Museumswärter Eusebio Ramirez, der einen sehr persönlichen Brief an die befreundete Familie Rojas schreibt, mit der er früher einmal eng verbunden war. Eigentlich wollte er die Familie und seine alte Heimatstadt besuchen, doch die traurige Nachricht vom Tod des kleinen Benito setzte ihm derart zu, dass er den Ort fluchtartig verließ. Jetzt versucht er, Consuelo, der Mutter des Jungen, seine Reaktion zu erklären, und erinnert in seinem Brief auch an die verstorbenen Familienmitglieder, die er gut kannte. Besonders zugetan war er ihrem Bruder Victor. Auch diese Geschichte findet sich später im Buch.
Die gezeichnete Geschichte, mit der das Buch beginnt und die ganz ohne Worte auskommt, setzt noch etwas früher ein und erzählt von Benitos Unfalltod. Diese Episode ist genau wie die anderen Familienerinnerungen monochrom gestaltet, während die Szenen mit Eusebio, die Bilder vom Tag der Toten, der gerade festlich begangen wird, und die Darstellungen der Welt der Toten farbig sind.
Ungewöhnliche Erzählhaltung
Ich musste diese Graphic Novel mehrfach und mit immer genauerem Blick lesen und betrachten, um die kunstvoll und opulent ins Bild gesetzten Familiengeschichten richtig zu verstehen, denn der Künstler macht es dem Leser und Betrachter wirklich nicht leicht. Aus der Literatur kenne ich die Erzählperspektive des unzuverlässigen Erzählers („unreliable narrator), dem man als Leser nie vertrauen darf, aber in einer Graphic Novel war ich ihr bis dahin noch nie begegnet. Erst recht nicht in Kombination mit einem allwissenden Zeichner, dem in der Literatur der allwissende Erzähler („omniscient author“) entsprechen würde. Beim ersten Lesen und Schauen fielen mir die zahlreichen Widersprüche zwischen Text und Bild zunächst gar nicht auf. Ich übersah die vielen Brüche, weil ich darauf nicht vorbereitet war.
Spurlos verschwunden
Erst bei der (für mich) besonders bewegenden Geschichte von Angeles wurde ich misstrauisch. Plötzlich wurde mir klar, dass Text und Bilder sich deutlich widersprachen. Das Mädchen Angeles gehört neben dem kleinen Benito, dessen Großeltern Dolores und Candelario, deren gemeinsamem Sohn Victor und seiner Frau Esperanza sowie dem Urahn El Negro zu den Verstorbenen der Familie Rojas. Angeles war eines Tages spurlos verschwunden. Wie so oft sollte sie auf ihre kleine Schwester aufpassen, doch dazu verspürte der Wildfang wenig Lust. Viel lieber wollte sie mit den Straßenjungen Verstecken spielen. Dazu musste sie allerdings vorher ihr Schwesterchen Dolores los werden. Sie hatte auch schon bald eine Idee. Dolores wurde kurzerhand zur Babysitterin ihrer Puppe gemacht, und Angeles schärfte ihr ein, sich ja nicht von der Stelle zu rühren, bis Angeles wieder zurück war. Doch Dolores hatte das Warten schon bald satt und begann, nach der großen Schwester zu suchen. Sie fand sie sogar – oder vielleicht doch nicht? Kann ein kleines Mädchen so grausam sein? Hat Dolores Angeles absichtlich in ihrem Versteck eingeschlossen und dadurch ihren qualvollen Tod verschuldet? Oder hat sie die Safetür nur „zufällig“ verschlossen, weil sie offen stand, und ihre Schwester darin nicht bemerkt? Ich selbst habe Angeles zuerst tatsächlich übersehen, denn auf den beiden Bildern ist im dunklen Inneren des Safes nur ein Auge des Mädchens und ein kleiner Teil ihres Gesichts zu sehen. Der selbstzufriedene Gesichtsausdruck der kleinen Dolores spricht leider Bände. Sie begegnet uns übrigens später noch in zwei weiteren Familiengeschichten (als erwachsene Frau und als Greisin) und verursacht auch dort durch ihre Unerbittlichkeit und kalte Dominanz den Tod anderer Menschen.
Doch wie kommt es, dass Angeles und auch Dolores vor der umwucherten Ruine, in welcher sich der Safe befindet, Frida Kahlo und Leo Trotzki begegnen? Frida Kahlo habe ich auf Anhieb erkannt, Leo Trotzki erst auf den zweiten Blick. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von der Liebesaffäre der beiden bis dahin keine Ahnung hatte. Meine Entdeckung ließ mich nochmals zu den vorherigen Bildern zurückkehren, und tatsächlich erkannte ich nun auch Friedas Mann, Diego Rivera. Doch wer mochte die Frau sein, mit der er hier offenbar gerade ein Rendezvous hatte? Die schöne Unbekannte konnte ich mit Hilfe des (sehr erhellenden!) Glossars am Ende des Buches schnell identifizieren. Dass die temperamentvolle Angeles mitten in den Blumenstrauß springt,
den Diego seiner Angebeteten gerade überreichen will, ist nur eine der vielen amüsanten Spielerein des Zeichners, eine Szene in einer Szene. Davon steht im Text kein Wort, der Leser muss die zahlreichen Nebenhandlungen, die in den Bildern versteckt sind, selbst entdecken. Am Ende der Angeles-Geschichte sieht man Dolores jedenfalls wieder „harmlos“ mit ihrer Puppe am Brunnen stehen, als hätte es die Szene mit dem tödlichen Safe im Inneren der Ruine nie gegeben.
Weiß der Briefschreiber und Erzähler, wie es sich wirklich zugetragen hat? Wahrscheinlich nicht. Führt er uns absichtlich in die Irre? Ich glaube nicht. Handelt es sich bei dem Ereignis eher um ein dunkles Familiengeheimnis? Ich denke, ja. Hat Dolores je darüber gesprochen? Wir erfahren es nicht. Ihren grausamen Zug hat sie jedenfalls behalten. In Eusebios Brief steht zum Ende der dramatischen Geschichte lediglich der Satz „Deine Mutter tat, was ihr ihre Schwester aufgetragen hatte: Bis zuletzt hat sie auf ihre Puppe aufgepasst.“ Kein Wort zu Frida Kahlo und dem Safe.
Im Maskenmuseum
Die Familiengeschichten bilden nur eine Handlungsebene. Die Geschichte des Museumswächters ist eine weitere. Er schreibt im Laufe des Buchs seinen Brief zu Ende, immer wieder unterbrochen von den Familiengeschichten und den Einblicken ins „Jenseits“. Den Brief wirft er schließlich in den Briefkasten und verursacht dann an seinem Arbeitsplatz durch eine brennende Zigarette einen Brand, bei dem das Museum mit sämtlichen Kunstwerken zerstört wird und er selbst ums Leben kommt. Es ist ein ungewöhnliches Museum, nämlich ein Maskenmuseum, in dem die Werke des (fiktiven) Künstlers José Guadalupe Reyes ausgestellt sind. Die Figur hat allerdings ein reales Vorbild, nämlich den mexikanischen Künstler José Guadalupe Posada. Diesmal war ich aufmerksamer und schaute erst in Felix Pestemers Glossar und dann bei Google nach. Posada war ein mexikanischer Kupferstecher und Karikaturist, der vor allem durch die Darstellung der vornehmen Knochendame „La Catrina“ Berühmtheit erlangte. Er starb in Armut und wurde in einem Gemeinschaftsgrab bestattet – anders als Pestemers Maskenschnitzer, dessen dramatisches Lebensende in der letzten Geschichte des Buchs beschrieben wird. Zu dieser Episode hat Pestemer einen kleinen Film gestaltet, den ich mir dann gleich im Anschluss im Internet angeschaut habe. Er heißt „Peyotl“ und erweitert die Geschichte um noch eine weitere Ebene, die akustische. Felix Pestemer selbst erzählt, und das Ganze ist untermalt mit Geräuschen und Musik. Doch sogar nach dem Film bleiben (bei mir) noch Fragen offen: Was erlebt Reyes wirklich? Gerät er durch die Droge auf den verstörenden Horrortrip? Oder ist das etwa der furchterregende Übergang von unsere Welt in die Welt der Toten? Wird er von seinem Begleiter ermordet? Bringt er sich in seiner Raserei selbst um? Stirbt er an einer Überdosis? Ich glaube, es war sein Begleiter. Der reitet am Ende so auffallend seelenruhig aus dem Bild und läßt die Leiche zwischen den Kakteen zurück. Aber ist der Tote tatsächlich kopflos? Man sieht es nicht richtig. Für die Wertsachen des Künstlers hat sich der Reiter jedenfalls nicht interessiert, denn die liegen unangetastet neben dem Toten.
Die Welt der Toten
Eine weitere Dimension im Buch bildet das Reich der Toten, die als „lebendige“ Skelette in einer Art Parallelwelt existieren und genau wie die Lebenden feiern, tanzen und lieben. In einer Zeit, in der Sterben und Tod erfolgreich aus unserem Leben ausgeblendet werden, sind diese ungewohnten Szenen, die sich konsequent farbig vor einem dunklen Hintergrund abspielen, für viele Betrachter sicher auf den ersten Blick gruselig bis verstörend. Einige der Skelette sind in der Tat kein angenehmer Anblick (besonders das des Maskenschnitzers), und dass man sie am Ende des Buches alle „persönlich lebendig“ kennengelernt hat und nun im Jenseits mühelos erkennt, macht ihren Anblick nicht leichter. Die Darstellung des kleinen Benito, der in der Totenwelt aufwacht und sich einem gruseligen Empfangskomitee aus toten Verwandten gegenüber sieht, hat mich sehr berührt. Das kleine Skelett hat nämlich große Angst und weiß nicht, was ihm geschieht. Als Angeles sich dem Kleinen vorstellt, ruft er erschrocken: „Du bist tot!“ Woraufhin sie neckend antwortet „Selber tot!“ und ihm mit einem ihrer Knochenfinger eindrucksvoll zeigt, was man mit seinem hohlen Schädel alles anstellen kann. Danach machen ihm die übrigen Ahnenskelette unmissverständlich klar, wo er sich jetzt befindet. „Wir sind ALLE tot. Willkommen!“ Auf Seite 38 sieht man in einer Art Traumvision des Museumswärters (oder ist es vielleicht doch keine Vision?), wie sich das hübsche Gesicht des Jungen vor den im Hintergrund stehenden Ahnen immer weiter verändert, bis es schließlich zum kleinen Totenschädel wird. Die verstorbenen Ahnen kann man hier alle leicht identifizieren, denn sie halten ihr „Lebend-Gesicht“ als Masken vor ihre Totenschädel. Der kleine Benito ist verständlicherweise wenig glücklich, sich plötzlich als klapperndes Skelett im Jenseits wiederzufinden, doch irgendwann gefallen ihm offenbar die bizarren Masken und vielleicht auch der makabere Tanz mit den anderen Knochenwesen, der an die vertrauten Darstellungen vom „Totentanz“ erinnert. Es ist eben alles eine Frage der Gewöhnung.
Übrigens wird die Totenwelt bei Felix Pestemer auch von den Skeletten der längst verstorbenen Haustiere bevölkert, denen man in den Familiengeschichten bereits begegnet ist oder im Laufe der Lektüre noch begegnen wird. Es gibt daher auch einen treuen Skeletthund und sogar einen Skelettpapagei.
Selbst für Mexikaner exotisch
Felix Pestemer hat mir erzählt, dass seine eigenwillige Darstellung der Gegenwelt mit den Skeletten der Toten selbst für Mexikaner reichlich exotisch ist. Sie stellen sich ihre Toten so nämlich gar nicht bildlich vor, auch wenn sie am „Tag der Toten“ ihre Altäre und Verkaufsstände mit noch so vielen Zuckerschädeln und Skeletten schmücken. In ihrer Tradition kommen lediglich die Seelen der Toten am „Tag der Toten“ zu Besuch aus dem Jenseits, feiern mit den Lebenden ihr Fest bzw. lassen sich ausgiebig feiern, und dann verschwinden sie wieder bis zum nächsten Jahr. Richtig sehen tut man sie nicht. Dass sie tatsächlich als wandelnde, sprechende Skelette in einer Parallelwelt weiterleben könnten, ist auch in Mexiko eine eher fremd anmutende Vorstellung. Die Toten leben so lange, wie man sich an sie erinnert, jedenfalls in diesem Buch. Als das Museum abgebrannt ist und mit ihm auch die Werke des Maskenschnitzers, zerfällt sein Gerippe gleich zu Staub. Aber er lächelt dabei, wie Felix Pestemer hintergründig anmerkt. Stimmt, jetzt sehe ich es auch. Aber man muss genau hinschauen.
Man lernt viel aus diesem Buch, nicht nur über den „Tag der Toten“ und die zu diesem Fest gehörigen mexikanischen Sitten und Gebräuche, etwa den komplexen Aufbau der Toten- und Heimaltäre und die Nachtwache auf dem Friedhof (auf einem Bild hat ein Mann sogar so viel gezecht, dass er wie leblos auf einem Grab liegt). Man erfährt auch einiges über das Leben des Museumswärters Eusebio, der den jungen Victor Rojas liebte und verzweifelt mitansehen musste, wie dieser gegen seinen Willen von seiner übermächtigen Mutter (jener ehemals kleinen Dolores, die ihre Schwester im Safe einschloss) mit der schönen Esperanza zwangsverheiratet wurde, obwohl er doch eigentlich unseren „unzuverlässigen Erzähler“ liebte. Der Unfalltod von Victor und Esperanza noch am Tag der Hochzeit bildet das tragische Ende der Liebesgeschichte und erklärt wohl auch, warum Eusebio seine alte Heimat so lange nicht mehr besucht hat.
„Leichen im Keller“
Die Konfrontation mit den Familiengeheimnissen der Rojas, den sprichwörtlichen „Leichen im Keller“, macht mich nachdenklich. Auf Englisch nennt man solche Geheimnisse „skelettons in the cupboard“, was man in diesem Buch ziemlich wörtlich nehmen kann. Solch merkwürdige Familienmythen von Heldentum eines Verwandten (bei den Rojas ist es der Urahn El Negro) oder vom mysteriösem Verschwinden eines Familienmitglieds (Angeles), allerlei Lebenslügen, die mit dem Totschweigen von Homosexualität (hier Victor) oder der vermeintlich glücklichen Ehe der Eltern (hier Dolores und Candelario) zu tun haben, gibt es sicher in vielen Familien. Aber so konsequent und umfassend werden sie selten aufgedeckt. Schon gar nicht mit solch hintergründigem schwarzem Humor. Der Nachhall der einzelnen Episoden war bei mir übrigens so stark, dass mir einige Bilder bis in meine Träume gefolgt sind.
Aufbau und Ausstattung dieser Graphic Novel sind kunstvoll und anspruchsvoll. Felix Pestemer schöpft alle Möglichkeiten des Comics aus, von kleinen bunten und monochromen Panelen bis hin zu üppigen doppelseitigen Bildern. Die Farben sind ruhig bis düster-dunkel, die Darstellungen feine und zum Teil wunderbar detaillierte Bleistift-, Buntstift- und Kreidezeichnungen. Die dargestellten Orte, Masken und Festlichkeiten sind häufig inspiriert von realen Vorbildern, die Felix Pestemer bei seinen Aufenthalten in Mexiko gesehen und skizziert hat. Mich hat der „Dia de los Muertos“ schon seit vielen Jahren interessiert und fasziniert. Hier in diesem Buch bin ich endlich voll auf meine Kosten gekommen. Sehr angenehm fand ich auch meine kurze spontane Unterhaltung mit dem Künstler anlässlich der Ausstellung zum „Tag der Toten“ im Kölner Rautenstrauch-Joest-Museum. Die vielen Fragen, mit denen ich ihn später per Mail „gelöchert“ habe, hat er jedes Mal erfreulich schnell und überaus geduldig und freundlich beantwortet.
Fazit: ein wunderbares Buch für alle, die keine Angst vor Skeletten haben und aufwändig gestaltete opulente Graphic Novels oder ungewöhnliche Bücher mögen, und natürlich auch für alle, die sich für den „Dia de los Muertos“ in Mexiko interessieren. Die Farben der Bilder konnte ich hier leider nur ungenügend wiedergeben, denn das Buch ist zu groß für meinen Scanner. In Wirklichkeit sind die Farben viel schöner.
Das großformatige Buch ist erschienen beim avant-Verlag und kostet 24,95 Euro
Felix Pestemer hat eine eigene Homepage mit vielen Bildern und Informationen
Den Animationskurzfilm „Peyotl“ kann man im Internet ansehen.