„Das Kind braucht Luftveränderung“ (1) – über das Elend in deutschen Kinderkurheimen

Einsame Muschel (Skitterphoto/pixabay)

Der Fernsehbeitrag

Ich habe ein gutes Gedächtnis für alles, was sich in meiner Kindheit ereignet hat, und kann auch problemlos über meine Erlebnisse sprechen und schreiben. Trotzdem hat mich der Bericht in „Report Mainz“, den ich am 10. September zufällig sah, arg mitgenommen. Seitdem überflutet es mich, läßt mir keine Ruhe. Ja, es war furchtbar damals im Kindererholungsheim an der Ostsee. Aber offenbar längst nicht so furchtbar wie bei vielen anderen Betroffenen, wie ich inzwischen weiß. Bis zu dem Fernsehbeitrag habe ich mich tatsächlich für einen Einzelfall gehalten. Dieses Einzelschicksal war Teil meiner persönlichen Biografie. Nur ich musste in Kur, weil ich so kränklich und untergewichtig war und mir der Arzt frische Seeluft verordnet hatte. Dabei ging es damals tausenden anderen Kindern genauso! Ich war nur eine von vielen! Ich bin nicht allein mit diesen Erinnerungen!

Der Titel des Filmbeitrags faßt es gut zusammen: „Erniedrigung statt Erholung. Wie Kinder in Kurheimen gequält und traumatisiert wurden.“ Auf meinen fb Post melden sich spontan mehrere Freundinnen, die ganz ähnliche, größtenteils noch viel verstörendere Erfahrungen gemacht haben. Zumindest wurden wir in meiner Gruppe nicht geschlagen, uns wurde nicht der Mund zugeklebt, wir wurden nicht allein in dunkle Räume gesperrt, und ich habe während meines Aufenthalts auch nicht erlebt, dass jemand zwangsgefüttert wurde oder seine eigene Kotze essen musste (nachdem er oder sie sich aus mir sehr verständlichem Ekel vor dem Essen übergeben hatte). Auch andere Betroffene werden, sofern sie dies möchten, hier auf meiner Seite zu Wort kommen.

Spätsommer 1965 – meine „Kur“ an der Ostsee

Bei den Steinen am Strand (privat)

In meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“ (über (m)eine Kindheit in den 1960er Jahren) gibt es ein langes Kapitel über die endlosen sechs Wochen in der Lübecker Bucht. Seedorf heißt der Ort hier, und das Haus „Franziskushaus“, und ich habe der kleinen Marlies im Buch auch nicht all die Drangsalierungen zugemutet, die wir erdulden mussten. Zwei Leserinnen haben den wahren Schauplatz jedoch zu meiner Verwunderung schon vor Jahren korrekt identifiziert. „Das war das Antoniushaus in Niendorf, oder?“ Stimmt.

Ich hatte bei meinem Aufenthalt großes Glück, denn wir wurden nicht wie viele andere Kinder von den berüchtigten „Tanten“ betreut, sondern zumindest tagsüber von zwei jungen „Fräuleins“. An beide habe ich gute Erinnerungen. Sie waren freundlich und zugewandt. Es war Spätsommer, wir konnten viel draußen sein, auch wenn das Wasser zum Baden zu kalt war, wir fuhren mit dem Kutter aufs Meer und mit dem Bus nach Lübeck, machten Strandwanderungen, sammelten Muscheln und Schneckenhäuser, sangen Lieder aus der Mundorgel (die stressigen Kniebeugen bis zum Umfallen zu „Laurentia, liebe Laurentia mein“ gab es bei uns auch), saßen am letzten Abend am Lagerfeuer, sangen die deutsche Version von „Auld Langsyne“ (Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr….) und hielten uns an den Händen. Draußen war es schön. Die Ostsee und Lübeck liebe ich bis heute. Ich war vor einigen Jahren wieder in Niendorf und suchte das Heim. Ich war sehr aufgeregt, und beim Anblick des Gebäudes war mir äußerst mulmig. Es sieht heute so anders aus, dass ich es fast nicht erkannt hätte.

Die große Angst

Seesternerinnerungen (BFL)

Am Meer war ich gern, aber wir waren ja nicht die ganze Zeit draußen. Der Horror begann, sobald wir im Heim waren. Schon beim Betreten des Gebäudes packte mich die Angst. Riesenangst vor den Mahlzeiten (sogar vor den Tellern und den Blechkannen), schiere Panik vor den Nächten. Angst auch vor den Erwachsenen, vor allem vor den Nachtwachen. Angst zu sterben, meine Eltern nie wiederzusehen, schwer krank zu werden. Angst vor dem Aufenthaltsraum, in dem wir täglich eine Stunde schweigend still sitzen mussten, „Silentium“ nannte man das, Angst vor dem kalten Waschraum mit den vielen Becken, vor dem Ausziehen und Nacktsein vor anderen, besonders vor den gefühlt täglichen langen vor Scham frierenden Reihen im Flur (alle Mädchen mussten sich bis auf den Schlüpfer ausziehen, um dann fast nackt einem Arzt vorgeführt zu werden, der einem sogar gelegentlich in die Unterhose schaute, ob man vielleicht Blinddarmnarben hätte….), vor dem dauernden Wiegen (es wurde immer genau notiert, ob und wie viel wir zu- oder abgenommen hatten), Angst vor dem großen kahlen Schlafsaal mit den ungemütlichen Betten. Wir wurden früh ins Bett geschickt und durften kein Wort mehr sprechen, nachdem das Licht gelöscht war. Auch nicht flüstern. Erst recht nicht weinen. Das kam gar nicht gut. Durch die Reihen schritten nämlich strenge Frauen, die genau hinhörten. Die auch genau kontrollierten, ob man Daumen lutschte oder Nägel knabberte. Wieder hatten wir Glück: Die Hände haben sie uns nicht festgebunden, und geschlagen haben sie uns auch nicht.

Gefangen im Schlafsaal

Nach dem Zubettgehen durften wir nicht mehr auf Toilette, was keine von uns begreifen konnte. Das war das Schlimmste. Jeden Abend. Jede Nacht. Sechs endlose Wochen lang. Schon nach einer halben Stunde mussten die ersten von uns dringend aufs Klo, was nicht zuletzt an den vielen schauderhaften Getränken lag, die wir dauernd trinken mussten. Was auf dem Tisch stand, musste getrunken werden. Für meine Nase unangenehm riechender Kinderkaffee, Hagebuttentee, Wasserkakao. Doch der Toilettengang war verboten. Wir waren wehrlos, hatten keine Chance. Beim Schreiben meines Romans habe ich diesen Kinderkaffee als Erinnerungstrigger genutzt. Schon der Geruch beamt mich sofort zurück ins  „Kindererholungsheim“.

Ich lag hinten rechts, am letzten hohen Bogenfenster und hatte dort wenigstens das Gefühl, etwas mehr Raum und Luft zu haben. Der dünne Vorhang war manchmal  nicht ganz zugezogen, so dass eine schmale Schlange aus Mondlicht über den Boden kroch. So erinnere ich es jedenfalls. Indianer und große Mädchen weinen nicht. Auch nicht, wenn sie versuchen, ein Gebet nachzusprechen, bei dem ihnen nur so die Tränen in die Augen schießen. Wenigstens war es so dämmrig, dass mich keiner sah. Weinen durfte man ja nicht, das hatte die Frau vorn verboten.

Lautlos weinen

Ich weiß nicht, wie viele Nachtstunden ich in den endlosen Wochen schlaflos und lautlos weinend zugebracht habe. Es war ein hervorragendes Training fürs Leben. Ich kann bis heute lautlos weinen. Wenigstens hatte ich meinen gelben Steiff-Fisch Flossie in der einen und meinen geliebten kleinen Hund Stroppi in der anderen Hand. Beide Stofftiere habe ich immer noch. Nur gut, dass man sie mir damals nicht abgenommen hat. Sie waren der einzige Trost in meiner nächtlichen Kindereinsamkeit, denn ich kam fast um vor Heimweh. Meine Eltern hätten mich sicher gerettet, aber wie konnte ich sie wissen lassen, was hier passierte? Unsere Briefe wurden kontrolliert. Als ich den Reportbericht im Fernsehen sah, dachte ich als erstes: „Nur gut, dass meine Mutter das jetzt nicht sieht.“ Sie wäre entsetzt gewesen.

Meertagesreste (BFL)

Indianer und große Mädchen haben kein Heimweh. Ich war doch schon zehn! Wir beteten abends Es glänzt der goldne Abendstern, gut Nacht, ihr Lieben nah und fern. Ich kann es bis heute auswendig. Die Mädchenstimmen zitterten. Manchmal schrie draußen ein Vogel. Vielleicht eine Amsel. Oder eine Möwe? Dann war es draußen wieder still. Die Angst mündete in Panik, sobald das Gebet sich dem Ende näherte. O gib auf mich, dein Kind, gut acht. Lass mich nach einer langen Nacht die Sonne fröhlich schauen. Hoffentlich muss ich in der langen Nacht nicht aufs Klo! Bitte nicht, lieber Gott! Bitte hilf mir, lieber Gott! Amen. Tränen runterschlucken. Kreuzzeichen. Gleich fängt der Horror an! Gleich geht das Licht aus!

Erholungsbedürftig

Im Bett neben mir schlief Veronika. Tagsüber hatte sie blonde Zöpfe, nachts floß ihr Haar über das Kopfkissen. Veronika hatte Sommersprossen und später, als wir beste Freundinnen waren, hielten wir uns nachts manchmal an den Händen. Die Kinder in meinem Schlafsaal waren alle so dünn wie ich. Wir waren ja alle hier, weil wir zu mager waren, „aufgepäppelt“ werden sollten und uns dringend „erholen“ mussten. Wir waren also in der „Mastgruppe“. Die größeren Mädchen im anderen Schlafsaal waren hier, weil sie zu dick waren, abnehmen sollten und sich dringend erholen mussten. Sie waren in der „Abspeckgruppe“.

Offenbar waren damals alle Kinder erholungsbedürftig. Wohl um die vielen „Ferienheime“ das ganze Jahr über lukrativ zu füllen und irgendwelchen Erwachsenen die Arbeitsstellen zu garantieren. Wir waren ja sogar während der Schulzeit in Kur, und die Bahn setzte für die vielen Kurkinder massenweise Sonderzüge ein. Aber WER waren diese Personen, denen man uns damals so ahnungslos auslieferte? WAS mögen sie vorher gemacht haben? Bis vor kurzem habe ich darüber nie nachgedacht. Und WER war vorher in all diesen großen, oft isoliert liegenden Gebäuden untergebracht? Ich ahne Schlimmes. Ob man das durch Recherchen heute noch herausfinden kann? Die Aufarbeitung steht erst am Anfang. Wir sind im Moment noch in der „Sammelphase“. Was für ein Glück, dass Anja Röhl, die selbst eine Betroffene ist, sich dieses Themas angenommen hat! Dass sich die weitgehend sprachlose Generation mit dem harmlosen Namen „Nachkriegskinder“ endlich zusammenfindet und auch zu reden beginnt.

Drachenwache und Bauchkrämpfe

Im Flur saß jeden Abend eine Nachtwärterin. Direkt neben der Tür. An ihr kam niemand vorbei. Tagsüber war sie unsichtbar, wir sahen sie nur nach dem Zubettgehen. Schon am ersten Abend lernten wir die unerbittliche Frau Johansen mit den eckigen Schultern kennen. Keine Ahnung, wie sie wirklich hieß, ich gab ihr einfach im Buch diesen Namen, weil er zu ihr passte. Sie war einschüchternd, hatte eine laute Stimme und ließ nicht zu, dass eine von uns den Schlafsaal verließ. Auch nicht, um aufs Klo zu gehen. Auch nicht, wenn man Bauchkrämpfe und Durchfall hatte und vor Verzweiflung weinte. „Dann musst du dir deine Zeit beim nächsten Mal eben besser einteilen!“ Sie verschwand erst um zwölf, wenn meine Erinnerung stimmt, und dann war der lange Flur endlich leer, und wir konnten uns eine nach der anderen hinaus wagen. Doch das fanden wir erst nach ein paar Nächten heraus. Die Zeit bis Mitternacht kann sehr lang sein, wenn man dringend muss.  Jeden Abend hatten wir Angst vor Frau Johansen. Wir nannten sie heimlich Frau Mahlzahn, wie den Drachen aus Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.

Einmal wagte Helma sich bis auf den Flur. „Warum dürfen wir nicht auf Toilette?“ fragte sie mutig. „Wenn wir doch müssen!“ Die Drachenfrau baute sich drohend vor ihr auf. „Kinder gehören um diese Zeit ins Bett, daran gibt es nichts zu rütteln!“ Ihre Stimme war kalt und hart. „Das sag ich meinen Eltern“, drohte Helma. „Von mir aus“, sagte Frau Mahlzahn. „Und jetzt ab ins Bett!“ Helma gab sich geschlagen, kniff die Beine zusammen und legte sich wieder hin. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich fühlte, ich musste nämlich auch. Unfassbar, dass man uns das verbot! Leises Weinen auch von schräg gegenüber, Husten, ersticktes Schluchzen von ganz vorn. Veronika machte Handzeichen. Sie musste auch. Wie kamen wir hier bloß raus? Wenn die Nachtwächterin aufstand und an der Türe lauerte, sah sie riesengroß aus, ein Scherenschnittmonster, wie ein Vampir, wie ein Ungeheuer, das bis zur Decke wuchs. Niemand konnte sich an ihr vorbeimogeln, auch nicht auf dem Bauch robbend, in der Hoffnung, sie würde uns bei ihrer Lektüre nicht bemerken. Wir haben es versucht, auch ich, und  wurden sofort am Schlafittchen gepackt und zurück in den Schlafsaal geschleift. „Das hast du dir wohl so gedacht, Fräuleinchen! Ach, sieh mal einer an, du schon wieder?“ schimpfte die kalte harte Stimme. Die Drachenwache musste doch wissen, dass wir nicht ewig einhalten konnten!

Frau Mahlzahn – Illustration von Caroline Riedel für meinem Roman „Mit Winnie in Kattendonk“

Bettnässer

In den ersten Nächten waren wir so verunsichert und aufgeregt, dass wir fast alle ins Bett machten. Zuerst war es nur angenehm warm und die Erleichterung grenzenlos, aber schon bald wurde das Laken kalt und klamm, der Schlafanzug war versaut, man fühlte sich scheußlich und konnte nicht einschlafen. Auch die anderen Nachtwachen befolgten ihre Instruktionen genau, nicht nur Frau Mahlzahn zwang uns einzuhalten, bis wir Blasenkrämpfe bekamen und einnäßten.  Jeden Morgen wurde sorgfältig kontrolliert, ob jemand ins Bett gemacht hatte, und die Sünderin wurde als Bettnässer oder Hosenscheißer ausgeschimpft und vor allen bloß gestellt. Irgendwann fand ich einen Ausweg: Ich schmuggelte Plastikbecher und andere kleine Behälter in den Schlafsaal. Es ging ganz einfach, man musste nur vorsichtig sein, sie mit ruhiger Hand halten und sehr langsam und nur in kleinen Schüben pinkeln, sonst lief alles über. Als wir erst herausgefunden hatten, dass die Wache um Mitternacht endete, warteten wir jede Nacht, bis sie endlich fort war, und rannten schnell auf nackten Füßen über den kalten Boden zu den dunklen Klos. Die Nachtwache musste ja irgendwann selbst schlafen, und zwar im Zimmer neben unserem Schlafsaal. Daher mussten wir extrem leise sein und durften auf keinen Fall die Klospülung betätigen. Bei der Gelegenheit konnte man auch gleich die vollen Plastikbecher leeren.

Immer mehr Erinnerungen steigen in mir auf, aber für heute belasse ich es bei diesen einleitenden Gedanken. Ich frage mich, ob von den „Mädchen“ aus meiner Gruppe wohl irgendjemand diesen Eintrag lesen wird. Veronika, Anita, Helma. Es wäre schön, nach all den Jahren wieder miteinander Kontakt zu haben.

Weiterführende Links zur Reportsendung, zur Seite von Anja Röhl und zum Blogbeitrag einer weiteren Betroffenen.

 

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39 Antworten zu „Das Kind braucht Luftveränderung“ (1) – über das Elend in deutschen Kinderkurheimen

  1. Karin Haberland sagt:

    Es sind die schlimmsten Erinnerung meines Lebens. Es ist alles genau so, wie du es schreibst und vieles noch viel schlimmer. Und auch ich habe bis vor einer Stunde, bevor ich angefangen habe, alle Beiträge deines Facebook Posts und dieses hier zu lesen, geglaubt, ich sei ein Einzelfall gewesen, dem es so grausam und schlecht ergangen ist.

    • Bee sagt:

      Liebe Karin,

      es tut mir sehr leid, dass du diese schlimmen Erfahrungen auch machen musstest. Aber vielleicht können die vielen Betroffenen gemeinsam auch heute noch etwas ausrichten. Und so schmerzhaft es ist, damit nach all der Zeit wieder konfrontiert zu werden, ist es doch tröstlich, dass wir nicht allein waren und sind. Ganz liebe Grüße!

    • Rita Murschetz sagt:

      Hallo Bee, ich kann leider nicht herausfinden, welches Kinderheim es war an der Ostsee, wo meine Brüder und ich 1957 im Sommer waren. Mein älterer Bruder weiß leider auch nicht mehr Näheres und Unterlagen darüber gibt es anscheinend nicht. Es könnte möglicherweise Niendorf oder Timmendorfer Strand gewesen sein. Meine Kinder sagen, wenn ich den Namen des Kinderheimes nicht weiß, kann ich auch keinen Suchauftrag starten. Stimmt das? Bei Facebook bin ich jetzt, da hat meine Schwiegertochter mir dabei geholfen, weil ich mich damit nicht auskenne. Aber wie kann man damit einen Suchauftrag starten? Keine Ahnung. Hast du eine Idee, wie man da weiterkommen könnte? Liebe Grüße Rita

      • Bee sagt:

        Hallo Rita,

        es gab in Timmendorfer Strand und Niendorf folgende Heime: Antoniushaus, St. Johann, Deutsches Kindererholungsheim, Erholungsheim Bethanien, Hamburger Kinderheim, Kindererholungsheim Nazareth, Kinderheim Haus Seewache.
        Du findest sie mit Bild und näheren Erklärungen auch alle auf der Seite von verschickungskind.de
        Vielleicht kommt ja die Erinnerung zurück, wenn du den Namen hörst oder das Bild siehst?

        Liebe Grüße
        Bee

  2. Liebe Bee,

    dein Artikel hat mich sehr angerührt, mir ist eingefallen, dass ich in der Kur im Schloss Ratzenried 1970 meine erste Panikattacke mit Todesangst gehabt habe.

    Ich schlief zuerst im Erdgeschoss und habe dann ein Zimmer im Turm bekommen, da wollte ich natürlich mein Handtuch mit nach oben nehmen. Dafür habe ich eine Ohrfeige bekommen und das Handtuch blieb unten. (Und die ganze Dauer der Kur durfte ich meine Sachen nicht zu mir nehmen.) Das hat mich total verstört.

    Ich denke heute, dass beides in direktem Zusammenhang für mich stand, weil ich diesen Gewaltakt überhaupt nicht verstanden habe und auch den Sinn nicht. Vielleicht habe ich mich auch bedroht gefühlt, ich weiß es heute nicht mehr. Ich habe nur noch wenig Erinnerungen an diese Zeit, aber über allem liegt eine Art schwarzer Nebel, ein unsägliches Unglück und eine riesengroße Einsamkeit.

    • Bee sagt:

      Liebe Monika,

      diese Grausamkeiten uns Kindern gegenüber machen mich fassungslos und traurig. Wie viel ist da noch vergraben und verschüttet. Ich merke sogar bei mir, dass ich vieles nur durch dunklen Nebel sehe. Dort im „Erholungsheim“ auch noch die erste Panikattacke erleiden zu müssen ist ganz, ganz schrecklich. Ich mag es mir gar nicht vorstellen. Panikattacken sind die schlimmste Form von Angst, fast unvorstellbar, wenn man sie nicht selbst schon einmal durchlebt hat. Ich hoffe sehr, dass wir alle zusammen dieses kollektive Kindertrauma von damals irgendwie bewältigen können. Aber es hilft vielleicht schon zu erkennen, dass wir ganz, ganz viele waren. Das hätte ich nie gedacht. Und dass wir endlich eine Stimme haben und auch gehört werden. Danke für deine Erinnerungen. Alles Liebe – und ich freue mich schon auf unseren gemeinsamen Blog.

  3. Folco Müller sagt:

    Ich war 1974 in Niendorf, ich bin jetzt 52 Jahre alt und habe jetzt angefangen zu recherchieren. Ich dachte immer, dass es alles nur ein Traum wäre und ich hätte mir alles eingebildet. Als ich den Beitrag gelesen habe, lief es mir kalt den Rücken herunter, denn alles was du beschrieben hast, kann ich nur bestätigen.Ich suche aus diesem Grund nach ehemaligen Kindern die 1974 auch in Niendorf waren.

    • Bee sagt:

      Danke für deine Nachricht. Vielleicht findest du ja bald andere „Kurkinder“ aus deiner Zeit. Es hat sich ja inzwischen einiges getan. Liebe Grüße!

    • CORNELIA sagt:

      Hallo, ich war im Jahr 1974 ebenso in Niendorf..
      St. Johann, dieselben Erinnerungen habe ich
      an die Nächte… Wir wurden vorm Einschlafen noch im Bett gemästet mit Schmalzbroten oder Marmeladenbroten. Bettnässer Betten wurden mit roten Schals markiert, jeden Morgen wurden die neuen Bettnässerinnen vor allen genannt..
      Ohrfeigen waren an der Tagesordnung, in die Ecke stellen, Briefe kontrolliert…
      Erinnern kann ich mich an stundenlanges Sitzen vorm Essen. Trotz aller Mästversuche nahm ich nicht zu und mir wurde gedroht, dass ich dann noch nicht zum vereinbarten Zeitpunkt nach Hause fahren könne.
      Auch kann ich mich an eine Haarschneideaktion bei allen langhaarigen Mädchen erinnern.
      Nachdem Läuse sich ausbreiteten wurden unsere Haare auf vlcht 2 mm rasiert.
      Dies sind nur einige von vielen Erinnerungen..

      • Bee sagt:

        Liebe Cornelia, danke für deine Erinnerungen an Niendorf. Dass euch die Haare geschoren wurden, finde ich schrecklich. Was für eine schlimme „Kur“. Wie schade, dass wir damals so respektlos behandelt wurden. Viele Grüße, Bee

    • Jörg Weisel sagt:

      Hallo Falco, ich habe noch Postkarten an meine Mutter aus denen hervorgeht, das ich im April 1974 im Hamburger Kinderheim Niendorf/ Ostsee war. Ich habe aber kaum Erinnerungen an die Zeit dort! Auf den Karten steht auch der Name einer Erzieherin! Grüße Jörg

  4. Kröger,Doris sagt:

    Hallo ich müsste in Niendorf so 73\74 gewesen sein, auch ich kann diese Gräueltaten bestätigen, ich habe fast jede Nacht mich eingenässt, schon allein weil ich genau wusste, was am anderen Morgen mit mir geschehen wird, ich habe Ohrfeigen bekommen und wurde von den Nonnen erniedrigt, einmal hab ich eine Nonne am Strand mit einer Qualle beworfen und durfte anschliessend ins Bett und durfte bis zum anderen Morgen nicht wieder aufstehen, ich fand, es war ein Alptraum.

  5. Detlef Schauer sagt:

    Hallo Folco Müller,
    ich müsste auch um 1974 (ich war damals 8) in Niendorf gewesen sein. Am meisten erinnere ich mich an die vielen Ohrfeigen die wir bekamen. Betreut wurden wir überwiegend von jungen Damen – seltener von den Nonnen. Essenszwang, Postkontrolle, täglicher Drill – alles bleibt mir in Erinnerung. Das hat mein Leben geprägt.

  6. Christine sagt:

    Hallo an alle Betroffenen,

    diese vielen Beiträge zu lesen bestürzend mich zu tiefst. Auch ich musste viele dieser schlimmen Erniedrigungen erleben. Mit 3 1/2 u. ca. 6 Jahren wurde ich jeweils 6 Wochen an die Ostsee geschickt. (NIENDORF) Ich hätte Probleme mit den Bronchien, kein Wunder, mein Vater war ein starker Raucher. Ich weiß nicht mehr genau wann ich dort war, ich bin 1966 geboren. Laut Erzählungen meiner Mutter war ich nach der ersten Kur verstört u. sehr still. Ich kann mich an den riesigen Schlafsaal erinnern u. auch daran das man nicht mehr aufstehen durfte. Was ich bis heute nicht verstehe, warum mich meine Eltern nochmals geschickt haben, wenn ich doch so verstört zurück kam. Als ich mit 6 Jahren dann nochmals fuhr, durfte ein Nachbarskind mit (Martina), sie aß so schlecht. An diesen Aufenthalt habe ich sehr viele Erinnerungen. Ich bin mir sicher, dass viele dieser schrecklichen Erfahrungen mein Leben geprägt haben. Uns wurden die Fingernägel so kurz geschnitten, bis Blut kam. Martina musste den Teller leer essen und hat dann alles wieder in den Teller erbrochen. Weil ich angeblich im Schlafsaal laut war, musste ich für eine Nacht in einer Badewanne schlafen. Aber das Schlimmste war, das ich auf die Krankenstation musste. Ich hatte Masern o. Röteln, ich musste alleine in einem Kindergitterbett liegen, konnte u. durfte nicht aufstehen. Ich kann nicht sagen, wie lange ich da war. Gesagt wurde mir, wenn ich nicht liegen bleibe, „dann kommst du nicht mehr nach hause“. Ich leide unter einer Angststörung u. Panikattacken, ich bin mir sicher, das viele dieser Erfahrungen aus der Zeit bis heute nachwirken.

    • Bee sagt:

      Danke für deinen Kommentar. Ich kann das alles sehr gut nachempfinden und glaube auch, dass wir aus diesen „Kuren“ viel Angst und Panik mitgenommen haben. Für mich war das nächtliche Toilettenverbot das Schlimmste, aber auch der Eßzwang. Es gibt einige Gerichte, die ich deshalb bis heute nicht anrühre. Schon wenn ich daran denke, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Die meisten „Speisen“ bekommt man ja sonst zum Glück nirgendwo, zum Beispiel die eklige „Schokoladensuppe“. Oder die dicke Scheibe Sülze, die man unbedingt essen musste (wurde ja leider auch kontrolliert). Liebe Grüße, Bee

  7. Margret Deckers sagt:

    Auch ich bin eine der Betroffenen, ich bin 1957 geboren und war gerade zur Kommunion gegangen also 1965/66 9 Jahre alt. Zufällig habe ich vor einigen Jahren nach Niendorf Ostsee Erholungsheim gegoogelt und bin bei dem Beitrag von Daniel B ausgekommen. Ich habe von dieser Zeit noch ein Bild mit meinem Kommunionkleid und Zwillingspärchen das genau wie ich in einem Meer von Tränen versunken war. Dieses Heimweh war unerträglich,auch ich bin wegen Untergewicht dorthin gekommen und als ich nach Hause kam, hat meine Mutter geweint und alles der Fürsorge gemeldet. Von dieser Zeit gibt es fast nur schlechte Erinnerungen, Strafen, wenn man gesungen hat, wie z.b. das Lied „Schornsteinfeger ging spazieren“. Ein fürchterliches widerliches Essen, Nonnen, die gar kein Verständnis für Kinder hatten, und ich kann mich auch an dieser furchtbare Frau erinnern, die jeden Abend im Flur saß und wir durften keinen Mucks mehr machen und nicht zur Toilette gehen. Falls es doch passierte, gab es Strafen, die Mädchen wurden rausgeholt, und bis heute weiß ich nicht, wo die hingebracht worden sind. Das ist mir Gott sei Dank nicht passiert, ich war sowieso ein sehr angepasstes Kind, vielleicht war das mein Glück. Bis heute mit 64 Jahren hat mich diese Zeit verfolgt, aber als ich vor einigen Jahren die ganzen Beiträge gelesen habe, wurde es besonders schlimm und ich frage mich, warum ich von dieser Zeit mit neun Jahren so wenig weiß. Vielleicht habe ich viele Sachen verdrängt, die weitaus schlimmer waren als das was ich jetzt beschrieben habe. Was schön war, waren die Strandspaziergänge, da durften wir Donnerkeile sammeln, versteinerte Tintenfischarme, die uns zum großen Teil wieder weggenommen wurden. Schön war auch die Prozession, wie bei uns am Niederrhein üblich, wurden zu der Zeit Heiligenbilder aus Blumen gemacht und dort waren es eingefärbte Muscheln, das sah wunderschön aus. Ansonsten erinnere ich mich nur an Angst, Briefe, die wir unseren Eltern schreiben mussten, dass es uns gut geht, und widerlich stinkendes Essen. Ich kann mich erinnern, dass dieses Heim ganz nah am Meer lag und ich immer weinend am Zaun stand, ich fühlte mich so unendlich einsam und dachte, ich würde meine Eltern und meine kleine Schwester nie wieder sehen. Ganz besonders schlimm war es, wenn ein Brief von zu Hause kam, ich durfte ja nie sagen, dass es mir so schlecht geht.
    Ich glaube, diese Zeit hat mir ganzes Leben geprägt, irgendwo ist da immer eine Traurigkeit, und ich weiß nicht ob das damit zu tun hat. Leider kann ich mich an keine Namen der Kinder erinnern. Lange Zeit habe ich meinen Eltern nicht verzeihen können, was damals passiert ist, obwohl sie mich besten Gewissens weggeschickt haben. Heute weiß ich, dass es in der Zeit so üblich war und noch lange Jahre danach.

    • Bee sagt:

      Danke für den sehr persönlichen Beitrag. Ich glaube, wir haben alle seelischen Schaden davongetragen durch diese „Kuren“ und auch durch die schlimmen Erziehungsmethoden in unserer Kindheit. Ich kann mich trotz meines guten Gedächtnisses übrigens auch nicht an irgendwelche Namen mehr erinnern. Nur an einen, und diese besondere Person suche ich bis heute. Einige konnte ich auch anhand meiner Kinderbriefe rekonstruieren. Als ich vor einigen Jahren in Niendorf war, war mir sehr mulmig zumute, als würden dort immer noch Erwachsene mit vollen Tellern und ekligen Suppen und Toilettenverbot lauern….. Schon merkwürdig, wie lange solche Gefühle im Inneren „konserviert“ werden…
      Herzliche Grüße und ein schönes Weihnachtsfest,
      Bee

      • Elvira Gessner Pauls sagt:

        Ich war 13 Jahre, vielmehr hatte da Geburtstag wurde dreizehn……das war dann 1969 war ich dort …die Nonnen dort waren richtig gruselig… liefen nachts mit ihren schwarzen Gewändern durchs Zimmer… waren mit 5 Kindern in einem Zimmer und hatten alle Angst … aber an Eva kann ich mich noch erinnern.

  8. Elvira Gessner Pauls sagt:

    Hallo 🙋‍♀️ ich war 1967 dort, ich war 12 Jahre und das Heimweh war groß … die Nonnen schlichen Abends durch unsere Zimmer und hielten sich die ganze Nacht im Flur auf, aber sie machten mir große Angst …Gottseidank habe ich 2 nette Mädchen kennengelernt, das hob die Stimmung. An eine Erzieherin kann ich mich noch erinnern, sie war nett zu uns. Sie hieß Eva

  9. Anna Greener sagt:

    Hallo…ich war auch 6 Wochen, vor der Einschulung, so um 1970 in Niendorf an der Ostsee. Der Schulamtsarzt meinte beim Einschulungstest, dass ich zu schmächtig sei, und ordnete die Kur an. Auch ich bin froh, dass meine Mutter da jetzt nichts mehr von erfährt. Auch ich dachte immer, dass ich die Einzigste war, und kannte keine, die auch zur Kur waren. Viele Grüße

    • Bee sagt:

      Danke für den Kommentar. Mich wundert bis heute, wie die Ärzte es damals geschafft haben, für jedes Kind irgendeine Phantasiediagnose zu stellen, nur um diese schrecklichen Heime auszulasten. Wenn es keine Krankheit war, dann war das Kind eben zu schmächtig, zu dünn, zu blass, zu dick, zu kräftig… Echt gruselig.

    • Birgit sagt:

      Hallo Anna Greener,

      auch ich war vor der Einschulung im Kinderheim in Niendorf an der Ostsee!
      Ich war 5 Jahre alt und sollte im Sommer 1970 eingeschult werden. Wir waren dann zur gleichen Zeit dort – im Sommer 1970!

      Gruß
      Birgit aus Osnabrück

  10. Murschetz Rita geb. Fähr sagt:

    Hallo, ich war 3 Jahre alt und war mit meinen beiden Brüdern , die waren 8 und 7 Jahre alt wahrscheinlich in den Sommerferien 1957 für ein paar Wochen, vielleicht 4 Wochen, an der Ostsee in einem Kinderheim. Unsere Eltern fuhren dann nach Dänemark. Mein älterer Bruder weiß leider auch nicht mehr, wo das war, und der andere lebt leider nicht mehr , unsere Eltern auch nicht, sodass ich niemanden mehr fragen kann. Da ich erst 3 Jahre war, ist meine einzige Erinnerung ein riesengroßer Schlafsaal mit weißen Kindergitterbetten. Und dass ich alleine in dem Schlafsaal bleiben musste, wenn die Windel oder die Hose nass war. Also insgesamt beängstigende Erinnerungen, die jetzt erst wieder hochkommen. Meine Frage: weiß jemand, welche Kinderheime es dort 1957 gegeben hat? Mein älterer Bruder kann sich noch an die Marmeladenbrote erinnern. Wahrscheinlich ist es schwer,etwas herauszufinden, da ich leider nicht mehr weiß, ich war ja erst drei Jahre. Heute bin ich 68 Jahre und auf der Suche nach der Lücke in meiner Vergangenheit.

    • Bee sagt:

      Hallo Rita,
      danke für Ihren Kommentar. Es gibt im Internet einiges an Informationen zu den Kinderkurheimen, außerdem auch eine Facebook Gruppe, in der man recherchieren könnte, ob noch jemand in der fraglichen Zeit in Niendorf war. Inzwischen gibt es auch Literatur zu dem Thema mit vielen Details, etwa „Die Akte Verschickungskinder“ von Hilke Lorenz und „Das Elend der Verschickungskinder“ von Anja Röhl. Viele Grüße und viel Erfolg bei der Suche.

      • Rita sagt:

        Hallo, ja danke für die Antwort. Ich habe im Beitrag, ich glaube von Anja Röhl, ein Bild von einem Schlafsaal entdeckt mit solchen Gitterbetten entdeckt, was Erinnerungen hochgeholt hat. In so einem Gitterbett sehe ich mich noch dreijähriges Kind stehen und darauf warten, dass jemand kommt. Nur kann ich damit wohl keinen Rückschluss auf den genauen Ort des Heimes ziehen, weil es ja sicher solche Schlafsäle in vielen Heimen gab. Vielleicht war es ja Niendorf. Es könnte in der Nähe der Lübecker Bucht gewesen sein. Den Begriff Niendorfer Strand kenne ich aus meiner Kindheit. Ich bin echt gespannt, was ich noch erfahren kann. Bisher kamen mir diese Bilder als eher unwirklich vor oder Hirngespinste von mir. Aber jetzt höre ich, dass es vielen Kindern damals so ergangen ist. Gut zu wissen, dass es nicht nur Phantasie von mir ist, sondern da langsam Licht reinkommt.

        • Bee sagt:

          Ich sehe „meinen“ Schlafsaal noch genau vor mir. Auch die Stelle, an der „mein“ Bett stand. Vielleicht kommen ja noch mehr Erinnerungen zurück? Es ist auf jeden Fall eine spannende Suche.

          • Rita sagt:

            Hallo Bee, danke für die Antwort. Ich habe einige Kommentare von anderen Verschickungskindern gelesen und merke jetzt, wie sich dieses Erlebnis des Aufenfhaltes in dem Kinderheim an der Ostsee mit drei Jahren auf mein ganzes Leben ausgewirkt hat. Ich bin mittlerweile 68 Jahre alt und hatte seit meiner Jugend unerklärliche Depressionen und teilweise auch Angstzustände, dass ich hatte Angst unter Menschen zu gehen. Mein Vater war selber Neurologe und Psychiater konnte oder wollte diese Zusammenhänge aber auch nicht erkennen. Ausgelöst wurden diese Erinnerungen durch die einfache Frage einer Bekannten: Rita, warst du schon mal an der Ostsee? Und immer wieder mein Gebet an Gott um Heilung meiner Seele. Jetzt kann ich da Zusammenhänge erkennen. Vielleicht ist es ja garnicht so wichtig, zu wissen, wo das Heim war, sondern wichtig ist, dass diese so weit zurückliegenden Erinnerungen an die Oberfläche gekommen sind. Dann kann Heilung geschehen. Jetzt kann ich auch besser verstehen, woher diese Verlassenheitsängste herrühren. Danke fürs Zuhören und viele liebe Grüße Rita

          • Bee sagt:

            Liebe Rita, ich glaube, das ist eine sehr heilende Sichtweise. Und es ist auch sicher gut, wenn diese verschütteten Erinnerungen endlich ans Licht gelangt sind und angeschaut werden können. Dann kann man sie auch wieder ablegen und vieles an sich selbst verstehen und liebevoll annehmen.Das Gefühl von Hilflosigkeit und Wehrlosigkeit, das mich selbst lange geplagt hat, stammt sicher auch aus dieser Zeit. Wir hatten einfach keine Chance bei diesen kalten Erwachsenen. Herzliche Grüße und danke für die einfühlsamen Rückmeldungen!

    • Dagmar Greener sagt:

      Hallo,ich war 1970 in Niendorf,im Antoniushaus,an der Ostsee. Mit der Google Bildersuche findest Du noch Fotos vom Heim und auch im Heim und Ansichtskarten.Die Leiterin war eine strenge Nonne. Ich meine sie hieß Schwester Burgharda. LG .Anna

  11. Stefanie Wöhler sagt:

    Hallo.
    Ich war insgesamt dreimal à 6 Wochen jeweils um die Osterzeit herum in Niendorf bei den Nonnen zur Kur, weil ich „zu schmächtig“ war. Beim ersten Mal muss ich unter 6 Jahre gewesen sein, das zweite Mal war ich genau während des Brandes 1971 dort zur Kur und das letzte Mal 1978 als 13-jährige (steht auf der Rückseite eines Strandfotos). Bei der ersten und letzten Kur war ich jeweils in der Mädchengruppe, die von einer Schwester Gottfriede geleitet wurde. Sie war eine sehr strenge, absolut humorlose und unfreundliche Person, unter der alle ziemlich gelitten haben.
    Rausgehende Briefe an unsere Eltern wurden zensiert, eingehende Briefe wurden auch gelesen und manche kamen nie bei mir an. Wenn meine Eltern ein „Care“-Paket mit ein paar Süßigkeiten schickten, bekam ich sie entweder gar nicht oder musste sie zwangsweise mit allen teilen.
    Vor und nach jedem Essen musste gebetet werden. Man musste alles aufessen, was serviert wurde, sonst gab es mächtig Ärger. Egal wie satt ich war, ich musste aufessen.
    Mindestens einmal am Tag mussten endlos lange irgendwelche Volkslieder von uns gesungen werden.
    Schlafen durften wir nur in einer bestimmten Position und wehe, wenn einen die Nachtschwester erwischte, dass man anders lag oder gar weinte.
    Mein jüngerer Bruder war einmal zur gleichen Zeit in Kur dort; wir durften während der Kur keinen Kontakt zueinander haben. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich mich inmitten dieser vielen anderen Kinder und den Nonnen furchtbar einsam und unglücklich gefühlt und viel geweint habe, aber das durfte ich meinen Eltern nicht schreiben.
    Während der zweiten Kur dort war ich in der Gruppe einer relativ netten Nonne. Trotzdem war ich trotz der Angst, die der Brand des Kurheims ausgelöst hat, froh, dass unsere Eltern kamen, um mich abzuholen und die Kur so frühzeitig beendet war. Ich habe bis heute starke Angst vor Feuer und kann Brandgeruch jeglicher Intensität nicht haben.
    Mehrmals pro Kur mussten wir in einem kleineren Schwimmbecken mit eiskaltem Wasser schwimmen gehen; zum Schluss war ich total blau vor lauter Kälte.
    Obwohl man mich immer zum Essen gezwungen hat, war ich bei der Gewichtskontrolle am Ende der Kur immer leichter als vorher; ich denke, ich hatte einfach so viel Stress dort, dass ich gar nicht zunehmen konnte.
    Die einzig positiven Dinge, die ich mit diesen Kuren in Verbindung bringe, sind Bastelarbeiten wie Makramee-Eule, Fadenbilder und das Erstellen von Briefbeschwerern mit Muscheln usw., die in Harz gegossen wurden. Außerdem fuhren wir während einer der Kuren einmal mit einer Betreuerin zu 10 Kindern in ihrem VW-Käfer zum Wellenbad. Außerdem wurde dort in einem Dachraum, der sehr sehr kalt war, etwas mit uns gemacht, was sich viele Jahre später als Autogenes Training herausstellte. Diese „geistigen Reisen“ fand ich eigentlich immer schön.
    Meine Erlebnisse dort waren -verglichen mit dem, was manch Anderer dort durchgemacht hat- noch relativ harmlos. Trotzdem haben sie ihre Spuren hinterlassen, weil einfach so viel Zwang herrschte und man besonders vor Schwester Gottfriede und ihren Launen immer Angst haben musste. Nicht zu unterschätzen ist auch der Faktor, dass man als so junges Kind einfach in einen Zug gesetzt und sehr weit weg von Zuhause sechs endlos lange Wochen (eine Ewigkeit in dem Alter) mit fremden Kindern und Erwachsenen zubringen muss und man ein wahnsinniges Heimweh hat und gar nicht versteht, warum man dort sein muss.
    Ich wünsche allen, die noch heute unter den Geschehnissen während der Kinderverschickung leiden, dass ihre Seele geheilt wird und die Erinnerungen keine Macht mehr über sie haben.

    • Bee sagt:

      Danke für deinen langen Beitrag.
      Ja, diese Spuren tragen wir wohl alle in uns. Ich bin nur froh, dass es endlich ans Tageslicht gekommen ist, bis vor einigen Jahren habe ich immer geglaubt, ich wäre die einzige gewesen, der diese „Kur“ so zugesetzt hat….
      Ganz liebe Grüße
      Bee

  12. Birgit Klaus sagt:

    Hallo. Ich war 1970 in Niendorf. Habe meinen 6. Geburtstag dort gefeiert (schrecklich). Vor Heimweh bin ich fast gestorben. Nach 6 Tagen habe ich meinen Rucksack gepackt und wollte heim, weil ich dachte, die 6 Wochen sind um.Einmal gab es Leber zu essen, die ich nicht mochte. Als die Nonne weg sah, ließ ich sie in der Schublade vor mir verschwinden (dachte ich bin schlau). Nach drei Tagen kam die Nonne und erniedrigte mich vor allen Kindern im Saal. Ich musste die Leber aus der Schublade essen. Habe sie erbrochen und musste dann das Erbrochene essen. Ich esse bis heute keine Leber. Auch an Schläge, wenn man weinte oder nicht schlafen konnte, kann ich mich gut erinnern.

  13. Andrea Simon sagt:

    Ich war 1976 für 6 Wochen in Niendorf an der Ostsee.
    Ich war 7 Jahre alt.
    Ich habe diese Zeit als eine schlimme Zeit im Inneren abgespeichert, erinnere mich an einige wenige Gegebenheiten, vieles ist aber wie „weggewischt“ , ich frage mich warum bzw. was da sonst noch so war.
    Ich musste damals mit meiner Schwester Susanne (1 Jahr älter) zur Kur, erinnere mich, dass mir schon im Vorfeld unwohl war, ich traurig war und nicht wollte, geweint habe.
    Meine Eltern versuchten mich mit der Aussage zu trösten, ich sei ja nicht allein, meine Schwester sei ja auch dabei, es würde schon schön werden und wir hätten uns ja gegenseitig. (Susanne und ich hatten eine sehr enge, zwillings-ähnliche Bindung). Ich klammerte mich an diese Aussage.
    Als wir im Heim ankamen, teilte man uns Kinder unterschiedlichen Gruppen zu ( ich meine sie hießen M1 und M2 oder M1 ubd K1?) Meine Schwester und ich wurden getrennt. Unter mir tat sich gefühlt der Erdboden auf.
    Alles Flehen und Betteln half nichts, vielmehr wurde ich gerügt, ich solle aufhören zu heulen.
    Während der 6 Wochen hatte ich keinen näheren Kontakt zu meiner Schwester, zumindest erinnere ich mich nicht daran.
    Das Gefühl der Einsamkeit, Hilflosigkeit, des Verlorenseins, prägte sich tief ein
    Ich erinnere mich nicht an viele Details,aber das Zensieren der Briefe ist auch mir noch bewusst.
    Ich durfte nicht von meinem Heimweh schreiben, auch dass man mich von meiner Schwester getrennt hatte ich entgegen dem Versprechen meiner Eltern nicht mit ihr zusammen sein konnte, durfte ich nicht schreiben.
    Zum Teil wurden mir Briefpassagen diktiert.
    Briefe von zuhause wurden zum Teil vor allen im Gemeinschaftsraum (Essensraum?) vorgelesen. Päckchen von zuhause zum Teil konfisziert, Süßigkeiten aufgeteilt (?), zumindest wurde kommuniziert, dass dir Päckcheninhalte verteilt werden würden.
    An die Schlafsituation erinnere ich mich noch in Fragmenten; es war ein großer Schlafsaal mit vielen Betten.
    Vor dem Zubettgehen wurde kontrolliert, ob ich einen Schlüpfer unter dem Schlafanzug trug.
    Im Bett liegend mussten die Hände über der Bettdecke bleiben. Man musste mucksmäuschenstill liegen.
    Auf einem Stuhl an der Stirnseite des Raumes saß eine Nonne, die mit großer Strenge Aufsicht führte.
    Regte sich irgendwo etwas, erschien alsbald der Lichtkegel ihrer Taschenlampe und ersuchte den Verursacher, der dann gemaßregelt wurde.
    Wenn wir zum Strand gingen, mussten wir uns hintereinander in einer langen Reihe aufstellen
    Gelegenlich sah ich bei diesen Aufstellungen meine Schwester, deren Gruppe sich auch sammelte.
    Ich winkte ihr zu, wollte zu ihr, das alles wurde jäh unterbunden.
    Es brach mir jedesmal das Herz.
    Viele Erinnerungen habe ich, wie schon erwähnt, nicht mehr.
    Vieles scheint tief vergraben zu sein.
    Es ist furchtbar und kaum auszuhalten, was andere ehemalige Kurkinder hier schreiben.
    Was für schlimme Erlebnisse und Zeiten.. 😞

    Vielleicht liest ja jemand hier die Beiträge, der auch 1976 in Niendorf war.
    Es muss irgendwann in den Sommermonaten gewesen sein und ich glaube (bin mir nicht ganz sicher), es war im St.Johann.

  14. Regina Ruth Blum sagt:

    Ich bin 1959 geboren in Kassel, gelebt habe ich aber in Besse, 20 km von der Stadt entfernt. Ich war sehr dünn und der Hausarzt hat empfohlen, das Kind muss an die See für 6 Wochen in ein Kinderheim und so kam ich an den Timmendorfer Strand, Scharbeutz mit 6 Jahren.
    Meine Eltern brachten mich mit dem Auto hin und wir haben vorher sogar ein paar Tage zusammen verbracht. Mein Vater erzählte, sie hatten am anderen Tag über den Zaun geschaut und ich hätte nur immer geweint. Sie haben mich nicht mit nach Hause genommen, man musste da durch .

    Den Geruch des Speiseraumes hab ich heut noch in der Nase. Ich saß oft lange allein dort, der Teller musste leer werden. Das einzige, was ich mochte, war Vanille Pudding Suppe, da war ich froh, das konnte ich schaffen.

    Ich hab mich auf den Boden geworfen und geweint, dann war meine Mutter am Telefon, ich sollte mich zusammenreißen, was sollen die Nachbarn denken und ich hätte Glück, so einen Urlaub zu haben. Ich war 6 Jahre!

    Dann kam ich mit 9 Jahren nach Berchtesgaden in ein Schullandheim vom Kreis. Briefe wurden zensiert und ich hatte meinen Bruder geschrieben, dass meine Briefmarken weg sind. Der Brief ging nie raus, ich musste zur Chef .. in diesem Heim … wird nicht gestohlen, ich hätte es verschlampt.

    Päckchen von der Familie wurden ausgehändigt und man durfte sich 2 Sachen davon nehmen, der Rest verschwand. Die Erfrischungsstäbchen lagen im Mülleimer bei der Aufseherin, aufgegessen.

    Ich habe mein Leben lang darunter gelitten und wollte auch mit der Schule mit 14 Jahren nie verreisen , ich habe immer heimlich geweint. In Dahme das Zeltlager vom Kreis, war ich froh alles vorbei war.

    Durch die Berichte anderer verstehe ich jetzt, warum ich so bin.

    Auch die Scham, ich wollte mich nie ausziehen vor anderen, da muss auch was geschehen sein. Aber mit 6 Jahren, ich weiß auch nicht mehr, wie das Heim heißt, leider.

    Dass es so lange dauert, bis man es endlich aufarbeitet .
    Heute kann man sich das kaum noch vorstellen und das ist gut so.

    Beste Grüße , Regina Blum

    • Bee sagt:

      Liebe Regina,

      wahrscheinlich kann man das nur nachempfinden, wenn man so einen „Kurlaub“ selbst durchgemacht hat. Oder besser durchlitten. Puddingsuppe fand ich immer abscheulich. Vor allem in der Riesenmenge. Ein kleines Schälchen wäre noch gegangen, aber ein ganzer Suppenteller voll mit warmem Pudding? Ich kann mich nur schütteln bei der Erinnerung. Ich hatte auch zeitlebens Riesenprobleme mit Verreisen….
      Wie schlimm, dass deine Eltern dich damals nicht gleich wieder mitgenommen haben.

      Herzliche Grüße
      Bee

  15. Roswitha Keller sagt:

    Hallo, ich war im April 1961 im Kinderheim St. Johann in Niendorf. Eine Erinnerung begleitet mich bis heute: warmer Pudding zum Abendessen. Besonders warmer Karamellpudding – ich hasse ihn heute noch. Er musste aufgegessen werden. Wir waren ja zum Zunehmen hingeschickt worden. Auch sonstiges Essen musste gegessen werden, bis der Teller leer war. An die kalten Waschraum und die großen Schlafsäle und den erzwungenen Mittagsschlaf erinnere ich mich, außerdem an die vielen Gebete zu jeder Gelegenheit. An mehr habe ich keine Erinnerung. Ich besitze noch zwei Fotos, eine Postkarte und ein Leporello vom Kinderheim.

    • Bee sagt:

      Liebe Roswitha,
      ja diese Erinnerungen teilen wir wohl alle. Ich erinnere mich auch noch an den scheußlichen Pudding. Kinder zum Essen zu zwingen ist wirklich schrecklich. Ich bekam lange Zeit Panik in Restaurants, sobald ich die vollen Teller sah. Das Gefühl ist mir bis heute geblieben, zumindest ansatzweise. Bei mir kann sich immer jeder selbst bedienen….
      Viele Grüße
      Bee

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