„Das Kind braucht Luftveränderung“ (2) – Briefe aus der Kur

Spuren (Pexels/pixabay)

Gestern habe ich den Karton nach langer Zeit wieder geöffnet. Darin liegen Kinderbriefe und Postkarten, Federn, Blätter, gemalte und ausgeschnittene Bilder und die Briefe meiner Eltern. Ich fand den Karton nach dem Tod meiner Mutter im Keller. Mich rührt, dass sie alles aufbewahrt hat. Die wenigen Fotos und zwei oder drei Briefe hatte ich schon vorher, weil ich sie für meinen Roman brauchte. Dass es noch mehr gab, wusste ich nicht. Ohne diese Briefe könnte ich mich jetzt an vieles nicht mehr erinnern. Dass die kleine Verfasserin eines Tages Übersetzerin und Schriftstellerin werden würde, hätte damals bei der Orthografie sicher keiner für möglich gehalten. Aber wir hatten ja das Pech, Schreiben mit der „Ganzheitsmethode“ zu lernen.

„Die Kinder in meinem Saal sind 12. Ich schlafe mit den Freundinnen zusammen. Wir haben im Speisesaal 4 Tische. (….)  Heute ist es sehr windig und gleich muß ich turnen. Denn daß ist so: Jede Woche werden wir von einem blöden Doktor untersucht und die Kinder die einen krummen Rücken haben schwach sind und krumme Beine haben müssen Turnen. Der Doktor sagt immer zu mir: „Gut aussehendes Kind.“ Denke mal, wie ich mich darüber freuhe.“ 

Hilfeschrei und Restesuppe

Meinen ersten und einzigen Hilfeschrei konnte ich aus dem Heim schmuggeln, weil ihn ein Mädchen aus der anderen Gruppe für mich einwarf, nachdem ich ihn den halben Tag in meiner Unterhose versteckt herumgetragen hatte. Ich hatte ihn nachts im Bett geschrieben, und so sieht er auch aus.

„Ich hab furchtbar Heimweh. Nachts wenn alle schlafen muss ich immer Weinen. Tagsüber müssen wir dauernd eine Stunde still sitzen. Wir bekommen furchtbares Essen. Faule Sachen und vieses Eis.“

Die letzte Formulierung wurde später in der Familie ein geflügeltes Wort, und es wurde immer ausgiebig darüber gelacht. Faule Sachen und vieses Eis! Sie hätten es merken müssen, denn ich liebe Eis. Aber das Heim-Eis war mit gelber Büchsenmilch zubereitet, die an den Seiten zäh herunterfloss, und roch und schmeckte scheußlich. Ich wagte den Hilfeschrei, nachdem wir zum Mittagessen das erste Mal „Restesuppe“ bekommen hatten. In der gräulich braunen, wässrigen Brühe schwammen zwischen Fleischbällchen und Undefinierbarem zu meinem Entsetzen die Reste der Nussecken, die wir am Vortag hatten. Mir wurde schon beim Anblick übel. Aber ich würgte nur ein bisschen und aß tapfer alles auf. Ich wollte kein Suppenkasper sein! Ich war ein braves Kind! Ich aß meine Teller im Heim immer leer und musste nie sitzen bleiben. Meine Mutter konnte stolz auf mich sein.

Dass ich mich so viele Jahre lang mit einer massiven Essstörung herumschlug (und bis heute weder Nussecken noch Sülze anrühre), hat sicher mit dem Heim zu tun. Ich bekam auch als Erwachsene Panik, wenn vor mir ein voller Teller stand. Also in jedem Restaurant und bei jeder Einladung.

Sülze bekamen wir leider jeden Morgen zum Frühstück. Zwei Scheiben lagen immer schon auf dem Teller. Ich habe auf jede erdenkliche Weise versucht, sie loszuwerden. In der Unterhose aus dem Haus geschmuggelt und im Ostseesand vergraben, kleingefetzt ins Klo geworfen, von anderen Kindern essen lassen oder zur Not selbst runtergewürgt. Die Idee, sie in meinen leeren Koffer zu entsorgen, war eigentlich brillant, doch das Depot setzte Schimmel an und begann zu stinken,  und ich flog auf. Über die Szene danach legt sich der milde Schleier des Vergessens. Ich sehe nur noch eine Gestalt hinter einem Tisch, rechts und links von mir eine Frau, meine Hände nesteln, ich werde barsch zurechtgewiesen, und danach wird mein Sülzekonsum streng überwacht. Pech gehabt.

Meine Mutter rastete aus, als sie den Hilfeschrei las, wollte mich nach Hause holen und rief im Heim an. Sie wurde erfolgreich beruhigt, man holte mich ans Telefon, und ich versicherte ihr unter den wachsamen Augen und Ohren der Heimleute, dass alles in Ordnung sei. Aber jetzt waren alle alarmiert. Ich wurde nicht mal ausgeschimpft, weil ich „die Unwahrheit“ geschrieben hatte, wohl aber dafür getadelt, dass ich meiner Mutter Kummer bereitet hatte! Das war sehr undankbar meiner Mutter gegenüber! Sie hatte mich doch so lieb und durfte sich keine Sorgen machen. Ich fühlte mich unendlich hilflos und hatte ein rabenschwarzes Gewissen. Es gab nichts, was ich tun konnte. Gar nichts. Also keine weiteren Hilfeschreie. Meine Mutter war beruhigt und versuchte, mir gut zuzuschreiben:

„Ich nehme an, dass das Essen bei euch anders ist als hier, aber du mußt tüchtig essen, denn das gehört alles zur Kur. In Norddeutschland wird anders gekocht als im Rheinland und in Bayern wird wieder anders gekocht. Du bist ein großes Mädchen und weißt das doch. (…) Nicht alle Kinder haben das Glück, 6 Wochen an der Ostsee zu sein.“

Letters home (BFL)

Lügenbriefe

Meine Briefe klingen danach auch gleich viel positiver. „Die Ostsee sieht forne grün und hinten blau aus. Wir sind schon 2 x mit dem Segelschiff gefahren (…….) Mir gefällt es immer besser. Ich habe zwei Freundinnen. Eine heißt Veronika, die andere Helma. Schreiben darf ich wann ich will.“

„Ich habe schon 3 Pfund zugenommen. Ich habe kein Heimweh mehr und schlafe immer sofort ein. Mir gefällt es immer besser.“

Der letzte Satz gefiel den Zensoren sehr, und meiner Mutter auch. Als ich gestern ihre Antwort las, fuhr mir wieder genau derselbe Schreck in die Glieder wie damals dem kleinen Mädchen. NEIN! Ich konnte den Schrei nicht unterdrücken. Ich saß in der Bahn, als ich den Brief las, und alle starrten. Wie schrecklich! Nicht das Starren, der Brief! DAS hatte ich nicht gewollt. Und bis gestern total vergessen!

„Wie froh bin ich, dass du zwei Freundinnen hast, dir das Essen schmeckt und es dir immer besser geht. Du kommst noch dick und fett zurück. Vielleicht darfst du im nächsten Jahr wiederkommen. Frage nur die Schwestern mal.“

Spuren (Olichel/pixabay)

 

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4 Antworten zu „Das Kind braucht Luftveränderung“ (2) – Briefe aus der Kur

  1. Karin Haberland sagt:

    Schön, dass ich gestern gedanklich bei dir war, als du den Karton hervorgeholt hast und angefangen hast, die Briefe zu lesen. Schön, dass du sie alle noch hast und deine Mutter sie aufgehoben hat.

    • Bee sagt:

      Liebe Karin,

      ja, das ist tatsächlich ein kleines Geschenk, denn es ermöglicht mir (und vielleicht auch vielen anderen) noch einmal einen direkten Zugang zu mir als Kind, zu uns als Kindern. Zu diesem dunklen Kapitel der Nachkriegszeit. Liebe Grüße!

  2. Gabi G sagt:

    Hier meine Geschichte

    Ich war 5 Jahre alt, ziemlich dünn und wurde zum Aufpäppeln von Hannover in die Lüneburger Heide, nach Hützel, geschickt. Es war das Jahr 1965 oder 1966, und ich war dort 6 Wochen lang. Ein Zeitraum, der mir unfassbar lang erschien. Ich war vorher ein unbeschwertes Kind, eher antiautoritär und frei erzogen, doch was ich in Hützel erlebte, habe ich nicht in Worte fassen können, denn ich war zu klein.

    Gelobt und beworben wurde das separate Spielhaus der Einrichtung, ein kleines Hexenhäuschen neben dem alten Bau mitten im Wald. Idyllisch gelegen und ohne direkte Nachbarschaft.

    Die Unterbringung erfolgte in einem Schlafsaal mit vielleicht 25-30 Kindern in Stockbetten. Die Kinder waren bunt gemischt, Stadt- und Landkinder, Heimkinder, Fürsorgekinder, die einschüchternde Geschichten erzählten, Worte benutzten, die ich nicht kannte und sofort eine Rangordnung herstellten, die sich ohne erzieherische Einwirkung der „Tanten“ frei entwickeln konnte. Es kam zu Einschüchterungen, Bedrohungen und Drangsalierungen. Schnell merkte ich, dass ich mich möglichst unsichtbar machen musste, um weder von den anderen Kindern, noch von den Tanten schikaniert zu werden.

    Das Essen war ziemlich ekelig, viele Kinder konnten es trotz Einschüchterung und mangelnden Alternativen nicht herunter bekommen – ich auch oft nicht. Die Strafe: man musste auf der Toilette essen. Wenn man es ausbrach, musste man das Erbrochene ebenfalls essen. Das werde ich nie vergessen.

    Nach dem Mittagessen war Mittagsschlaf angeordnet. Alle mussten in ihre Betten und durften keinen Mucks machen, sich nicht mehr bewegen. Abwechselnd hatten die Tanten Dienst und hielten Wache. Wer sich bewegte und sich nicht schlafend stellte, wurde bestraft. Das Herz klopfte mir bis zum Hals vor lauter Stress, herausgefischt und sanktioniert zu werden.

    Gestraft wurde viel: mit Nachtisch- oder Essensentzug, nicht ins Spielhaus dürfen, auch von Schlägen habe ich mitbekommen.

    Die regelmäßig wöchentlich von meiner Familie abgeschickten Elternpäckchen habe ich nie erhalten, meine Postkarten wurden von den „Tanten“ geschrieben, natürlich ein Standardtext, der alles in den höchsten Tönen lobte. Telefonanrufe wurden nicht erlaubt.

    Ich habe viel vergessen, was dort passiert ist, meine Überlebensstrategie war, das Äußere zu verdrängen und mich in mich selbst zurück zu ziehen. Ich kapselte mich ein, weinte (wie auch die anderen) nachts viel, weil es tagsüber immense Kraft kostete, sich unsichtbar zu machen, sich möglichst anzupassen, damit man keine Schikanen erleiden musste. Schlimm war, dass ich nicht wusste, wie lange ich dort bleiben sollte, ob ich jemals wieder meine Familie wiedersehen durfte? Das verstand ich noch nicht und begann, mich selbst zu zerkratzen im Gesicht. Ich war von Schorf übersät, als ich endlich wieder im Bus saß und zurück fuhr.

    An die Abholung vom Bus in Hannover kann ich mich noch gut erinnern. Meine Eltern waren entsetzt, als sie mich sahen. Ich konnte nur hemmungslos weinen und war voller Vorwürfe, warum sie mich so lange allein gelassen hatten. Ich weigerte mich, mit nach hause zu fahren vor Wut. Über die Schorfe in meinem zerkratzten Gesicht konnte ich nur sagen, dass ich mir die selber zugefügt hatte. Es gab niemanden zu beschuldigen, wenn man seine Rechte nicht kennt, nicht weiß, was richtig und erlaubt ist und was nicht. Die ganze Sache war beispiellos, ich kannte sonst keinen, der verschickt worden war und ähnliches erlebt hatte. Und als meine Eltern fragten, ob ich mich denn über die Süßigkeiten in den Paketen gefreut hätte, konnte ich nur den Kopf schütteln, weil ich nicht wusste, wovon sie reden. Meine Eltern haben dann nachgefragt, wo die Pakete gelandet sind, und die Antwort war: nicht alle Kinder haben Pakete bekommen, es wäre ungerecht, und deshalb sei der Inhalt immer auf alle Kinder verteilt worden. Das stimmte aber nicht, niemals gab es Süßigkeiten außer dem üblichen billigen Wackelpudding. Die Tanten selber haben es sich wohl schmecken lassen.

    An die „Tanten“ habe ich keine präzise Erinnerung mehr, weder Namen noch Bilder. Der Ton, der herrschte, war so anders als zu Hause. Wenig liebevoll, ohne Verständnis für Heimweh, Sorgen und Nöte von Kindern. Es herrschte noch der alte Kommandoton aus der NS-Zeit. Erzogen wurde mit Strafe und Einschüchterung, Liebe und Verständnis für die ja noch sehr jungen Kinder gab es nicht.

    Jetzt nach dem Lesen des Artikels, kommen weitere, lange verdrängte Bilder hoch. Ich kann mir vorstellen, dass einige der psychischen Probleme, die später bei mir auftraten, in dieser Zeit ihren Ursprung hatten.

    Ich danke Ihnen für die Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels und werde mit großem Interesse den weiteren Verlauf verfolgen. Sollten noch Plätze in Sylt frei sein, hätte ich an dem Kongress (auch in meiner Eigenschaft als Historikerin, Journalistin und Coach) großes Interesse.

    Gabi G

    • Bee sagt:

      Liebe Gabi G,

      danke für den ausführlichen Bericht über die schlimme Erfahrung in Hützel. Ich bin immer noch fassungslos, wie viele von uns es damals „erwischtT hat. Es wird höchste Zeit, dieses dunkle Kapitel aus unserer Kindheit aufzudecken, anzusehen und aufzuarbeiten. Danke für den Mut, hier so offen darüber zu schreiben. Für den Kongress in Sylt, der sicher sehr interessant wird, bitte an Anja Röhl wenden.

      Herzliche Grüße
      Beate

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