Dieser Monat hat es in sich. Allerseelen, Allerheiligen, Volkstrauertag, Buß- und Bettag, Totensonntag. Am Volkstrauertag denke ich wie immer an den großen Soldatenfriedhof, den ich als Kind mit meinem Vater besuchte, und spüre die große Hand, die meine kleine warm umschließt. Schweigend steht er neben mir, die Gedanken weit weg. Der 17. November war in diesem Jahr auch der vorletzte Sonntag des Kirchenjahres, und die Sonntagslesung aus dem Buch Hiob hatte es ebenfalls in sich. „Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.“ Die Zeilen erinnern mich an einen Psalm, den wir in der Schule auswendig gelernt haben. „Die Tage des Menschen sind wie Gras, er blüht wie die Blume des Feldes. Geht der Wind darüber, so ist sie dahin, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.“ Traurig, aber auch überaus poetisch. Gone with the wind. Diesmal spüre ich ihn auch deutlich, den Novemberblues. Die Welt ist so voller Leid, Krieg, Unruhen und Katastrophen. Venedig versinkt gerade in den Fluten, in Kalifornien und Australien wüten riesige, alles vernichtende Feuer, Südtirol liegt begraben unter Schnee. Offenbar versucht die Natur gerade, ihren schlimmsten Parasiten abzuschütteln. Manchmal fürchte ich, es könnte ihr bald gelingen.
All die stillen Tage! Am Ewigkeitssonntag nächste Woche wird der Toten des Jahres gedacht. Weiße Kerzen werden nach vorn getragen und feierlich entzündet, die Verstorbenen aus der Gemeinde beim Namen genannt. Eine Freundin ist in diesem Jahr gestorben, so rasend schnell und unvorhergesehen, dass wir uns nicht mehr verabschieden konnten. Sie war einfach plötzlich weg. Seitdem fehlt sie mir. Totensonntag, Tag der Trauer, Trennung und Melancholie. Irgendwie wirkt das Kontrastprogramm dazu in diesem Jahr auf mich besonders heftig. Die Erinnerungen an die Novemberpogrome in der vorigen Woche fanden am selben Tag statt wie die Feiern zum Fall der Berliner Mauer.
Die ersten Weihnachtsmärkte werden grade aufgebaut, der riesige Baum steht schon vor dem Dom. Im Rautenstrauch-Joest Museum ist noch der große Altar vom Dia de los Muertos zu sehen, dem mexikanischen Tag der Toten. Und schon seit Wochen wird bei Einbruch der Dämmerung irgendwo in Köln St. Martin gefeiert, mit Liedern, Laternen und Umzügen. Schade, dass die Schulen und Kitas der Viertel sich nicht zusammentun und gemeinsam einen „richtigen“ Laternenzug mit „richtiger“ Musik und einem „richtigem“ Martin und Martinsfeuer organisieren. Allein in der Innenstadt gibt es 33 Martinszüge! Der eigentliche Martinstag ist der 11. November, doch da sieht man hier vor allem bunt kostümierte Jecke, die mit viel Getöse und reichlich Alkohol den 11.11. feiern. Just an diesem Tag ist in Großbritannien Remembrance oder Poppy Day, und es wird der Opfer des Ersten Weltkriegs gedacht.
Letzten Freitag feierte dann auch die Schule direkt neben uns ihr Martinsfest. Für mich ist dann Heimwehzeit. Meistens ziehe ich mit oder stelle mich zumindest anschließend zu den Kindern ans Feuer, auch wenn es mich schmerzhaft an meine Kindheit und meine verstorbenen Verwandten erinnert, und ich mich dann besonders einsam fühle. Denn die Kinder hier kennen meine Lieder nicht, ihre Laternen sind nur matte Funzeln in Kunststofftüten, und der Kölner St. Martin ist nur ein blasser Schatten, wenn man die farbenprächtigen Züge am Niederrhein mit den eindrucksvollen „Fackeln“, den alten Liedern und dem prächtigem Feuerwerk zum Schluß gewöhnt ist. Diesmal war ich schon vorher so traurig, dass ich zu Hause blieb. Eine weise Entscheidung, denn das Martinsfeuer stank diesmal gottserbärmlich zum Himmel, häßliche erstickende Rauchwolken zogen zu uns herüber, und die Gartenluft war plötzlich zum Schneiden dick. Irgendwann stand ein Feuerwehrmann vor der Tür. „Bitte halten Sie alle Fenster geschlossen, der Rauch zieht leider direkt auf ihr Haus zu. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir haben das im Griff.“ Was in aller Welt war schief gelaufen? Woher kam dieser bestialische Gestank? Der Feuerwehrmann erklärte es mir. „Wir waren das nicht!“ Der Hausmeister hatte offenbar die glorreiche Idee gehabt, feuchtes Heu mit auf den Scheiterhaufen zu packen. Ich hätte nie gedacht, dass feuchtes Heu so scheußlich stinkt!
Ein trauriger Monat fürwahr, und doch schafft es die Natur jedes Mal wieder, ein letztes Mal in ihren leuchtendsten Farben zu schwelgen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe zarte bis strahlende Gelbtöne, flammendes Orange, glühendes Rot, matt schimmerndes Messing und sattes Rostrot. Im Garten hängt noch erstaunlich viel Laub, der Hasel ist schon weitgehend ergilbt, doch der rote Perückenstrauch steckt noch in der Farbverwandlung. Er ist spät dran, aber es ist ja auch noch nicht wirklich kalt. Zwei Eichhörnchen kommen frühmorgens und verbuddeln Nüsse im Rasen. Ich biete den Vögeln jetzt wieder vermehrt Futter an, auch wenn sie mit jedem Jahr weniger werden. In den ersten Gartenjahren habe ich noch an die dreißig Vogelarten gezählt, inzwischen sind es vielleicht zehn. Heimchen gibt es auch keine mehr im Sommer, dafür hatten wir eine üble Rattenplage, an die ich lieber nicht zurückdenke. Die Biester saßen zeitweilig sogar auf den Fensterbänken und starrten neugierig ins Haus. Die Libellen werden von Jahr zu Jahr weniger, dafür nehmen die Zecken und Grasmilben rapide zu. In diesem Herbst haben wir keine Igel. Sonst waren es immer drei oder vier. Konrad, der große Igelmann, der wie gefroren mit eingezogenem Kopf stehen blieb, sobald er mich sah, ist im Sommer gestorben. Irgendetwas oder irgendjemand hatte ihn schwer verletzt, und mörderische Fliegenmaden gaben ihm den Rest. Die zutrauliche Igeline war nur im September ein paar Nächte hier und fraß gierig, dann blieb sie weg. Ob sie noch lebt? Ob sie ein anderes Igelhaus gefunden hat? Hier stehen vier, doch diesmal sind alle leer.
Ich mag meinen novembrigen Fensterblick. Der Holzapfelbaum hängst übervoll mit winzigen Früchten und leuchtet schon von weitem, der Wilde Wein klammert sich mit schwächer werdenden Fingern an Stein und Holz. Seine Tage sind gezählt, aber noch glüht er orange, feuerrot und rostbraun. Der Teich ruht seit einer Woche unter dem dünnen grünen Winternetz und ist jetzt hoffentlich gegen herabfallende Blätter und hungrige Reiherschnäbel gefeit, die Fische werden träge, und der Ahorn am Ufer trägt sein Zauberkleid. Die Erde riecht feuchter und modriger als im Oktober, und man muss aufpassen, dass man nicht ausrutscht. Blasse Pilze schießen aus dem Boden. Kiefernnadeln regnen herab. Und doch oder vielleicht gerade deshalb liebe ich meinen Garten in diesem Monat ganz besonders.