Letzte Nacht habe ich zum ersten Mal seit langem problemlos durchgeschlafen und hatte auch keine Alpträume. Ich war zwar im Traum wieder in London, aber das bin ich ohnehin oft und gern, und Corona spielte diesmal keine Rolle. Es war ein ganz normaler Traum, ein wenig verschroben wie immer und in keiner Weise bedrohlich. Mein Mann war auch da und blieb an meiner Seite. Vielleicht bin ich ja auf dem richtigen Weg? Ich habe den Traum auch gleich nach dem Aufwachen aufgeschrieben (ins Handy, weil es noch zu dunkel war für Stift und Papier), damit mein Unterbewusstsein keinen Grund mehr zur Klage hat.
Der Angst zuliebe praktiziere ich auch wieder jeden Tag „Guided Imagery“, tauche hinab in die Landschaften meines Unbewußten und versetze mich an einen meiner sicheren inneren Orte, die man zum Glück auch in Krisenmomenten noch aufsuchen kann. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass einem dort nichts, aber auch gar nichts Böses oder Schlimmes geschehen kann. Sie sind einfach nur heilende, stärkende innere Kraftquellen. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich erst jetzt wieder darauf besinne. Aber vielleicht wollten meine Alpträume mir genau das mitteilen?
Gestern Abend war ich wieder in der Hütte im Wald und bin dort auch eingeschlafen. Komischerweise sieht das Haus bei jedem Besuch etwas anders aus, was offenbar von der Tageszeit abhängt. Am liebsten besuche ich es nachts, wenn ich in Wirklichkeit schon in meinem richtigen Bett liege, damit ich an beiden Orten gleichzeitig gut einschlafen kann. Nachts ist die Hütte meist aus dunklem Holz. Tagsüber kann sie auch aus Stein sein und in den Bergen oder direkt am Wasser liegen. Ihr Anblick ist immer angenehm und mit dem Gefühl verbunden, nach Hause zu kommen.
Wenn es Nacht ist, gehe ich zuerst durch den Wald, der nach Erde, Laub, Tannennadeln und Pilzen riecht, steige dann die moosbewachsene steinerne Treppe empor und komme schon bald zur Hütte im Käuzchenwald. Der Wald heißt so wegen der vielen Eulen und Käuzchen, die draußen in den Baumhöhlen wohnen – aber auch drinnen im Haus in den Regalen. Meistens erwarten sie mich schon und fliegen lautlos voran, aber manchmal sitzen sie auch nur oben auf den Ästen, schlafen oder beobachten mich. Wenn es mir zu dunkel wird, nehme ich meine Lichtkugel in beide Hände und lasse mich von ihr leiten.
Durch ein hölzernes Törchen betrete ich den Garten. Manchmal huscht der Fuchs vorbei, der hier lebt. Gelegentlich sitzt er auch auf dem Dach oder auf der Mauer. Ich gehe vorbei an Sträuchern und Büschen, an kleinen Bäumen und großblütigen hellen Blumen, die im Dunkel schwach leuchten, öffne die Eingangstür und trete in den Flur.
Er ist leer, bis auf eine große Standuhr mit messingfarbenem Ziffernblatt. Es ist dasselbe wie das meiner eigenen Uhr, die noch von meiner Urgroßmutter stammt, und zeigt ein Tier, das ich für einen Nachtfalter halte. Ihr Ticken klingt vertraut und ist eng verbunden mit meinem Vater, der diese Uhr immer sorgfältig mit einem Schlüssel, der im Inneren des Gehäuses liegt, aufzog. Er schenkte sie mir kurz vor seinem Tod. Ich begrüße die Uhr, steige die dunkle Holztreppe hoch, die aussieht wie unsere Treppe hier im Haus, und halte mich am Geländer fest. Es fühlt sich warm und lebendig an, und dann stehe ich auch schon vor der Tür, die ins Zimmer meines Vaters führt. Hier habe ich ihn vor einiger Zeit unverhofft im Traum gefunden und danach beschlossen, sein „neues“ Haus beim Visualisieren nochmals zu besuchen und genauer zu erforschen. Seitdem war ich schon mehrmals dort.
Ich schaue mich jedes Mal aufmerksam um und entdecke dabei immer etwas Neues. Ich bin dankbar, dass ich auch „nach innen“ gut sehen kann. Bis zu meiner Therapie, wo mir diese Bildreisen mehr geholfen haben als alles andere, war mir überhaupt nicht bewußt, dass es Menschen gibt, die diesen Zugang zu ihren inneren Bildern nicht haben. Vielleicht braucht man dazu viel Fantasie, vielleicht muss man dazu hochsensibel sein, vielleicht muss man dafür einfach nur offen sein. Ich weiß es nicht. Ich kenne es nicht anders und habe schon als Kind meine inneren Bilder genossen wie Filme, die an mir vorüberziehen, besonders kurz vor dem Einschlafen. In der Therapie habe ich dann gelernt, sie aktiv zu erkunden. Ich habe lange nicht darüber gesprochen, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass mein Gegenüber damit oft nichts anfangen kann. Ich erinnere mich noch gut, wie fassungslos ich war, als die Lektorin, die mein Angstbuch betreute, meine Visualisierungen in der Therapie als „esoterisch“ abtat und komplett streichen wollte. Fast hätte mein Beharren auf meinem „esoterischen“ Kernkapitel mit der „Schwester Angst“ dazu geführt, dass mein Buch gar nicht erschienen wäre! Bis auf die etwas anderen, gedämpfteren Farben ist das Sehen beim Visualisieren ähnlich wie „richtiges“ Sehen oder das Sehen im Traum. Meine Traumfarben sind auch ziemlich gedämpft.
Mein Vater ist nie anwesend, wenn ich ihn auf diese Weise besuche, aber ich meine zu spüren, dass er noch vor kurzem da war, als habe er gerade erst das Zimmer verlassen. Ich kann noch sein Rasierwasser riechen und sehe seine Brille, Stift und Papier und seine Bücher auf dem Tisch am Fenster. Meistens hat er mir irgendetwas hingelegt als Willkommensgruß, etwa einen kleinen Stein oder eine Blüte.
Ich stelle mir gern vor, dass die Hütte an der Schwelle zur Anderswelt liegt. Die Wanderer zwischen den Welten können sie zwar nicht gleichzeitig besuchen, sondern nur abwechselnd, aber sie merken, wenn der andere da war. Auch ich bringe jedes Mal etwas mit, das ich meinem Vater auf die Fensterbank lege. Im Zimmer ist es so angenehm friedlich, dass ich mich meist erst eine Weile in den Sessel setze, um zur Ruhe zu kommen. Ich lasse meinen Blick über die Regale und Bilder schweifen und nicke den schläfrigen Käuzchen zu, die ich dort entdecke. Danach lege ich mich auf das Sofa, betrachte den altmodischen Lampenschirm neben den Büchern und schlafe dabei oft auch schon ein. Manchmal leisten mir die beiden längst verlorenen Katzen aus meiner Kindheit Gesellschaft, was mich immer sehr anrührt.
Wenn ich merke, dass keine Katze da ist und es einfach nicht klappen will mit dem Einschlafen, stehe ich wieder auf und gehe in den nächsten Raum. Die Tür ist mir erst bei einem meiner späteren Besuche aufgefallen. Der Raum dahinter liegt nicht im Wald, sondern am Meer. Er ist auch nicht mit meinem Vater verknüpft, sondern erinnert mich an das Zimmer einer Pension in Rye in Südengland, wo ich mit meinem Mann vor vielen Jahren einige Nächte verbrachte. „Jeake’s House“ war für mich ein magischer Ort, der mir schöne Träume und Nachtgeräusche schenkte und einst dem Schriftsteller Conrad Aiken gehörte. Das Bett im Seezimmer ist allerdings kein antikes Himmelbett wie das in „Jeake’s House“, sondern nur ein einfaches, großes Bett. Es sieht auch nicht immer gleich aus. Manchmal hängen Laternen an den Seiten oder meine Leuchtkugel wird zum Mondlicht auf dem Nachttisch.
Durch das offene Fenster weht angenehm frische, kühle Seeluft ins Zimmer. In der Ferne hört man das Meer und beim Morgengrauen die ersten Möwen, während auf der anderen Seite des Hauses immer noch der träumende Wald liegt. Die Lampe lässt an der Wand Schatten tanzen, und ich weiß, dass ich mich jetzt nur noch bequem auf die Seite zu drehen brauche, um ganz sicher einzuschlafen. (Beim Visualisieren liege ich meistens auf dem Rücken.) Bisher hat es immer zuverlässig geklappt, so dass ich nicht weiß, ob es nicht vielleicht noch weitere Türen gibt, weil ich das Zimmer bisher nie verlassen habe. Ab und zu höre ich hier auch noch die Stimme eines Pfaus, dessen Ruf wie Miauen klingt. Diese akustische Erinnerung stammt aus einem Urlaub in Frankreich, wo mein Mann und ich in einer alten Mühle wohnten. Ein weißer Pfau schlief auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes. Im Dunkeln schimmerte er wie ein Geist und manchmal miaute er.
Hochsensible Sinne sind ein wahrer Schatz beim Visualisieren und lassen sich allesamt leicht triggern und sehr gut trainieren. Um meine eigenen inneren Bilder aktiv zu verstärken, habe ich auch diesmal nach Fotos gesucht, die meinen Fantasiegebilden so ähnlich wie möglich sind. Während der Therapie habe ich meine inneren Szenen sogar gezeichnet, was sie noch intensiver machte. Wenn ich die Bilder betrachte, präge ich mir die Einzelheiten noch genauer ein, so dass ich sie in meine Reisen mitnehmen kann, und die Gerüche des Waldes und des Gartens kann ich tagsüber gut hier im Garten oder in meinen Erinnerungen finden und sammeln. Hier gibt es viele Schattenstellen mit Farnen, Moos und Hostas. Um mir die Käuzchen besser vorstellen zu können, habe ich mir im Internet Filme angesehen. Wenn sie zahm sind, lassen sie sich gern streicheln, und seitdem fliegen sie mir auch zutraulich auf den Schoß oder auf die Schulter und schmiegen ihre Köpfchen in meine Hand. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Nachtvögel, genau wie mein Vater, und an meinen Wänden hängen viele Eulenbilder.
Wunderschön geschrieben Beate. Das hast du alles selbst so erlebt? Ich beneide dich. Das möchte ich auch „können“. Denn du hat Recht, diese Fähigkeiten, in sein Innerstes Ich abzutauchen, hat nicht jeder. Du hast eine besondere Gabe.
Danke, liebe Karin. Vielleicht kann man es ja lernen? Zwischendurch denk ich auch nicht mehr daran und lasse meine „Gabe“ (vielleicht ist es das ja wirklich?) ruhen, aber jetzt grade hilft es mir sehr. Herzliche Grüße!