In meiner Vorstellung ziehe ich mich gern in meine inneren Gärten zurück. Es gibt drei, einen Nachtgarten zum Einschlafen und für tagsüber einen freundlichen sonnigen Obstgarten und einen wilden englischen Cottage Garden. Ich kenne sie so genau, dass ich sie mühelos zeichnen kann. Für alle gibt es reale Vorbilder, in denen ich sinnliche Eindrücke sammle. Für den Nachtgarten finde ich sie in den Schattenbereichen unseres eigenen Hausgartens und im großen Japanischen Garten in Leverkusen. Ich versuche, ihn mehrmals im Jahr zu besuchen, mich in aller Ruhe darin zu bewegen und dabei möglichst viele Fotos zu machen, die ich mir später zu Hause genau ansehe, um mir alle Eindrücke einzuprägen oder gezielt zu verstärken, damit ich sie auch mit geschlossenen Augen gut abrufen kann. Wie die Hütte im Käuzchenwald sehen auch die inneren Gärten bei jedem Besuch ein wenig anders aus, je nach Verfassung und Jahreszeit, nur die Grundstruktur bleibt bestehen.
Am schönsten ist mein Nachtgarten im Frühling und Herbst. Ich besuche ihn abends im Bett zum Entspannen und Beruhigen, zum „Erden“ und „Abschalten“. Früher konnte ich darin sehr gut einschlafen, denn es gibt dort ein kleines Haus mit einem bequemen Bett, aber seit Corona gelingt mir das Einschlafen besser in der Hütte im Wald, wobei auch das langsam schwieriger wird, daher muss ich mir vielleicht bald noch ein weiteres Plätzchen suchen. Käuzchen gibt es in den Gärten übrigens auch. Sie scheinen in all meinen Kraftorten zu leben, genau wie an den Wänden meines Arbeitszimmers.
Um in den Nachtgarten zu gelangen, muss ich zuerst durch ein großes uraltes Tor, das zwischen hohen Steinmauern liegt. Ich lege die Hände auf das raue Holz und warte. Wenn ich Glück habe, öffnet sich das Tor, gleitet lautlos beiseite, schließt sich sofort hinter mir, und ich kann den Garten betreten. Es klappt nur, wenn ich keine störenden Gedanken habe und mich ganz auf den inneren Ort einlasse, sonst muss ich aufgeben oder noch mal von vorn anfangen, manchmal sogar mehrmals – mich dem Tor erneut aus einiger Entfernung nähern, mich davor stellen, das Holz berühren und stumm darum bitten, eingelassen zu werden. Die Steinmauer um meinen japanischen Garten erinnert mich an die alten Mauern von englischen Herrenhausgärten und auch an die lange Mauer, die in meinem Geburtsort früher von der Kirche bis hin zum kleinen Friedhof führte. Überhaupt mag ich alte Mauern und auch die kleinen wilden Pflanzen, die dort in den Fugen wachsen. Wir haben hinten im Garten eine Trockenmauer, die eine Kräuterspirale umschließt und aus der alle möglichen winzigen Gewächse sprießen, vor allem Farne. Ganz von selbst, und ich nenne sie „Gartengeschenke“.
Einmal habe ich „richtig“ von meinem Nachtgarten geträumt und war total erstaunt, den sonst nur im Wachzustand imaginierten Ort plötzlich so unerwartet im Schlaf zu sehen. Doch ich stand nur vor der verschlossenen Tür und musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Mir ist zwar so gut wie immer bewusst, dass ich träume, aber ich bin leider keine gute luzide Träumerin, denn ich kann die Handlung selten beeinflussen. Ich träume mit allen Sinnen und wachem Bewusstsein, aber in meiner Traumwelt scheinen Gesetze zu gelten, auf die ich (noch) keinen Einfluss habe. Ich kann mich allerdings leicht aus unangenehmen Träumen herauskatapultieren oder wie an einer unsichtbaren Nabelschnur herausziehen. Aber dann ist der Schreck meist schon so groß, dass ich mit Herzrasen erwache.
Der echte Garten in Leverkusen liegt offen, ist von allen Seiten einsehbar und kann über Brücken und durch mehrere Eingänge betreten werden. Mein geheimer Garten dagegen ist komplett umwallt, hat nur ein Tor und wird ausschließlich von mir besucht, obwohl ich auch hier das Gefühl habe, dass mein Vater noch vor kurzem anwesend war. Vielleicht ist er in einen der angrenzenden Gärten gegangen, den freundlichen Obstgarten oder den wilden Cottage Garden mit Rosenbüschen, Clematis, Fingerhut, Frauenmantel, Herbstanemomen und der Bank unter den Kletterrosen – alles Pflanzen, die ich hier im Garten habe und die auch in den Gärten meines Vaters wuchsen.
Zwischen den Gärten wandert ein zahmer Fuchs hin und her, der sich streicheln lässt, aber vor allem finde ich hier alle Katzen, die je mein Leben geteilt haben und inzwischen gestorben sind. Nur Alice fehlt, denn sie ist ja noch bei mir. Den Trosttrick mit dem „versetzten“ Weiterleben habe ich aus den Harry Potter-Büchern. J.K. Rowling hat ihre Mutter sehr früh verloren, vielleicht hat sie mit den inneren Bildern ja nicht nur ihrer Romanfigur, sondern auch sich selbst geholfen? Der Tod ist in ihren Büchern jedenfalls nicht das Ende. Als Dumbledore stirbt, ist er gleich darauf in seinem Portrait im „Headmaster’s Office“ zu sehen und schläft, wacht und spricht dort weiter, ohne dass ihm Zeit und Tod noch etwas anhaben können. Harrys verstorbene Eltern sind für ihren Sohn im Spiegel von Erised auch noch zu sehen. Beide Vorstellungen sind für mich sehr anrührend und tröstlich und erinnern mich an meine eigenen inneren sicheren Orte.
Die acht Katzen freuen sich jedes Mal, mich zu sehen. Meine Kindheitskatze Topsi, schwarzweiß, klein und drahtig, ist meistens die erste, die angerannt kommt und Köpfchen gibt, aber dann sehe ich auch schon den riesigen silbergrauen Cisco, meinen Seelenkater, bei dessen unerwartetem Tod ich vor sieben Jahren tatsächlich Angst hatte, ich würde den Verstand verlieren. Wie gut, dass ich ihn hier noch besuchen kann. Meistens laufen mir die anderen Katzen spätestens dann entgegen, wenn ich auf die zweite Brücke trete, und wir schlendern zusammen über Trittsteine und Wege durch den geheimnisvollen Schattenteil bis zum Fischteich und dann die Stufen hoch zum Teehaus. Oder ist es ein kleiner Tempel?
Hinter dem Tor wachsen Farne und Hostas, Rododendren und Azaleen, Hortensien und Elfensporn, rechts gibt es einen Moosgarten mit leisem Wasserlauf und glänzenden Steinen, und überall stehen halbverborgen kleine und große Statuen und Steinornamente. Natürlich findet man überall auch Bäume und Sträucher – vor allem Koniferen, Fächerahorne und große Eichen, aber auch Pinien, Kamelien und Bambus. Und am Fischteich steht eine Trauerweide, die so groß ist wie meine alte Baumfreundin an der Dorenburg in meinem Heimatort.
Der japanische Nachtgarten ist eine Oase der Entspannung, kontemplativ und meditativ, sanft und beruhigend, mit Hügeln und Wasser, weich fließenden Formen, ein wirklich poetischer Ort. Immer wieder leuchtet kräftiges Rot zwischen mattem Grün und Weiß und vielen Rosa- und Lilatönen. Es herrscht ein angenehmes Wechselspiel von Licht und Schatten, Hell und Dunkel, Hügeln und Flächen, feucht und trocken, rund und eckig. Einige Steinlaternen und Statuen habe ich mir aus dem realen Garten in Leverkusen ausgeliehen. Kurz vor dem Teehaus gibt es auch einen Abschnitt mit fein geharktem Kies, einer Bank und Findlingen. Dort kann man besonders gut nachdenken und den Geist klären. Der Garten ist nicht immer gleich. Es hängt ganz davon ab, was mir gerade gut tut und welche Bilder mir mein Unterbewusstsein schenkt. Ich bin da offen und lasse mich auf meinen Bildern davontragen.
Auch hier gehe ich zum Einschlafen am liebsten meinen vertrauten Weg, nachdem sich das Tor hinter mir geschlossen hat. Oft mit bloßen Füßen, um den Boden, die Pflanzen, das Moos, die Steine, das Holz und den Kies besser zu spüren, ich höre die Pflanzen und Bäume atmen, das Wasser leise plätschern (das höre ich tagsüber auch hier im Garten, denn wir haben einen kleinen Teich mit Goldfischen, Quellstein und Holzsteg), gehe über die Trittsteine des großen Koi-Teichs den Hügel hoch bis zum Haus, in dem in einem fast leeren Raum mein aufgedecktes Bett steht. Hier ist es angenehm kühl, von draußen hört man die leisen Klänge eines Windspiels (ich habe mehrere hier im Garten, so dass ich den Ton im Ohr habe) und den sachten Wind in den Blättern.
Im Haus steht in dem fast leeren Zimmer ein niedriger dunkler Tisch mit einer Teekanne und einer Schale Tee, ich trinke daraus, lege mich auf das Bett, und der Blick durchs Fenster ist blattschattig mit zarten bis kräftigen Gelb- und Grüntönen. Meine Katzen scharen sich um mich, und ihr entspanntes Schnurren bringt mich zuverlässig zum Einschlafen, wenn ich es einmal bis hierher geschafft habe. Oft wünsche ich mir, dass das Letzte, das ich in diesem Leben höre, das Schnurren einer Katze ist. Der warme, weiche Tierkörper vibriert auf äußerst beruhigende Weise, und die Wellen pflanzen sich wohlig in meinem Körper fort und tragen mich mit sich in den Schlaf.
Am schönsten war es, wenn mein gutmütiger Cisco sich wie eine überdimensionale Fellmütze um meinen Kopf legte (das tat er immer, wenn ich krank war und das Bett hüten musste, aber oft auch einfach nur so) und anfing, laut und tief zu schnurren. Es tut mir bis heute leid, dass ich nie auf die Idee gekommen bin, seine Stimme aufzunehmen, aber damals ahnte ich noch nicht, dass ich ihn schon so früh verlieren würde. Jede Katze klingt anders. Alice schnurrt leiser und höher, bei Ben klang es irgendwie gepresst, und an das Schnurren meiner Kinderkatzen kann ich mich nicht mehr richtig erinnern. Aber vielleicht würde ich es trotzdem wiedererkennen?
Manchmal schlafe ich im Nachtgarten auch schon draußen ein, die Katzen auf dem Schoß, neben mir auf der Bank oder unten an meinen Füßen. Mein getigerter Dorfkater Sam hatte die Angewohnheit, mit beiden Vorderläufen meinen Hals zu „umarmen“ und zärtlich mit seiner rauen Zunge die kleine Kuhle in der Mitte des Schlüsselbeins zu lecken, was ungemein kitzelte und mich oft zu Tränen rührte. Er leckte auch jeden Morgen meine Füße. Im Geheimen Garten macht er das immer noch und bringt mich damit zum Lachen.
Unmittelbar vor dem Einschlafen höre ich nur noch das Schnurren. Die Luft ist klar und würzig, duftet blättrig, holzig, harzig, frisch und herb, durchsetzt mit Efeu- und Farnnoten, aber gelegentlich auch ganz kurz intensiv lilienartig. Manchmal wachsen im Teich statt der Seerosen langstielige Lotusblumen. Ich weiß nicht, wie ihre Blüten in Wirklichkeit riechen, und habe mir daher meinen persönlichen Lotusblütentraumduft geschaffen. Er ist süß und stark und vermischt sich harmonisch mit den Schattengerüchen der Nacht.