Rooms and Stories – Universität zu Köln

Hüpfen (Jose MariaPerez/unsplash)

Als sie den Mensabereich „Wahlessen“ betritt, sieht sie ihn sofort. Er sitzt an einem Tisch in Fensternähe. Allein. Sie hat draußen im dunklen Schatten der Wände gestanden und beobachtet, wie er mit großen Schritten durch den Regen zur Mensa ging, dann eine Weile gewartet, ein Tablett mit irgendetwas Hastigem versehen und ist ihm gefolgt. Er ist nur mittwochs und donnerstags in der Uni. Was sie jetzt tun wird, fällt ihr sehr schwer, aber sie kann nicht anders. Es ist ein Kairos-Moment, den man nicht ungenutzt vergehen lassen darf. Im letzten Augenblick beschließt sie, nicht Englisch, sondern Deutsch mit ihm zu sprechen. Er beherrscht viele Sprachen, das weiß sie, in allen anderen wird sie ihm unterlegen sein. Bisher kennt sie ihn nur auf Englisch. Er bemerkt sie erst, als sie sich seinem Tisch nähert.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?“ „Überhaupt nicht.“ Er lächelt, hebt die Brauen und macht eine ermunternde Handbewegung, während sie mit unruhigen Fingern das Tablett abstellt, den grüngemusterten Stockschirm an den Tisch lehnt und ihre Mantelknöpfe aufnestelt. Sie trägt einen leichten schwarzen Sommermantel.

„Was reden denn die da draußen? Ich habe eben nicht aufgepasst.“ „Irgendein Kommilitone hat wohl politische Probleme. „Es geht also um Politik?“ Diese schönen Augen, denkt sie. Jetzt schauen die schönen dunkelbraunen Augen amüsiert nach unten auf seinen Teller. „Was soll denn das wieder für ein Fleisch sein? Man weiß nie, ob es gut ist, wenn man es anschaut.“ „Sieht aus wie Pferdefleisch“, meint sie. Er lacht leise. Er lacht sehr oft, auch im Unterricht. Er scheint die Welt aus sicherer Entfernung mit einer Mischung aus Heiterkeit, Ironie und Entspanntheit zu betrachten. „Pferdefleisch kenne ich, das schmeckt ganz gut.“ Jetzt blickt er auf ihren Teller und sieht nur Salat. „Sie mögen kein Pferdefleisch! Darum haben Sie also keins!“ Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Wie immer in wichtigen Momenten setzt ihr Verstand aus.

„Dieses schreckliche Wetter heute macht mich traurig“, versucht sie. Kein guter Anfang.„Ja, der Sommer ist schon vorbei hier in Köln.“ „Meinen Sie?“ „Sicher. Zwei Wochen Sonne, und dann ist es vorbei.“ „Ich weiß nicht… “ „Im vorigen Jahr war es noch schlimmer, da gab es gar keinen Sommer. In Köln regnet es viel mehr als in London. Da sieht es so aus, als ob es jeden Moment regnet, aber es tut es nicht.“ In diesem Moment rutscht ihr Schirm und fällt. Zu seiner Seite. Sie bückt sich, doch er ist schneller und hat ihn bereits aufgefangen.

„Gleich fällt er wieder!“ warnt sie. „Bestimmt! Er ist zu lang. Das müssen Sie so machen, dann fällt er nicht mehr.“ Er hängt den Schirm gekonnt in einem merkwürdigen, erstaunlich effektiven Winkel an den Tisch. Sie schaut ihn verdutzt an. Er hebt die Brauen und lacht zufrieden. „Eigentlich komisch“, sagt sie. „Immer wenn ich diesen großen Schirm mitnehme, regnet es nicht, aber heute doch.“ „Sie hatten heute also Glück mit dem Schirm.“ Großes Glück, denkt sie. Und nicht nur mit dem Schirm.

„Wie schmeckt denn das Pferdefleisch?“ erkundigt sie sich. „Ganz gut, aber man hat es wohl vorher mit Sand bestreut.“ „Dann ist es vielleicht ein Wüstenpferd?“ Er lehnt sich zurück und lacht. „Könnten auch Kamelen sein“, meint er. „Aber das glaube ich nicht. Die sind zu teuer.“ Ach, wie schön es sich anhört, wenn er Kamelen sagt. Das ist bisher sein einziger Fehler, auch wenn er unverkennbar britisch klingt. Sehr sophisticated. „Man könnte sie aus dem Zoo klauen“, schlägt sie vor. Er sieht sie an. Lacht. Und spielt weiter mit. „In den chinesischen Restaurants bekommt man gutes Fleisch. Man sagt, auch schon mal Ratten.“ „Sie essen Ratten?“ Die Vorstellung erschreckt sie. „Nicht bewusst. Aber wenn, dann haben sie gut geschmeckt.“ „Meine Schwester aß früher Regenwürmer.“ Hoffentlich verdirbt sie ihm nicht den Appetit. „Gebratene?“ „Nein, rohe.“„Regenwürmer werden doch selten, oder?“ „Bei uns im Garten gibt es noch genug davon.“ „Aber Frösche?“ „Das stimmt. Davon gibt es nicht mehr so viele. Essen Sie auch Frösche?“ „Die schmecken ganz besonders gut.“ Jetzt wirkt er wirklich belustigt. Was redet sie da nur für einen Unsinn. Er scheint einen äußerst robusten Magen zu haben.

Sie schweigen eine Weile, er verzehrt mit bestem Appetit sein Fleisch und streut dann den Reis in die Sauce. Dabei fällt ihm das Messer in die Mischung. Er fischt es vorsichtig mit der weißen Papierserviette heraus.

„Sind Sie schon lange hier in Köln?“ fragt sie. „Seit einem Jahr und einem – oder zwei – nein, einem Monat.“ „…. und bleiben Sie noch?“ Plötzliche Angst zwingt sie zu dieser Frage. „Nein, ich gehe nach diesem Semester wieder zurück nach London. Ich habe im Sommersemester angefangen. Drei Semester sind genug. Es ist nur ein Ausflug.“ Er schaut sie an und lacht wieder. „Sie haben in diesem Jahr angefangen, nicht?“„Im vorigen Wintersemester.“ „Sie haben also gerade erst Ihr akademisches Jahr begonnen. Sagt man das auf Deutsch so?“ „Ja.“ „Köln ist keine so schöne Stadt. London ist auch nicht schön, aber schöner als Köln.“ „Das stimmt. Es gibt ein paar schöne Stellen in Köln, aber sonst….“ „Das Unicenter gefällt mir nicht.“ Das versteht sie sofort. „Nicht wie New York.“ Ganz sicher kennt er New York. „Ich war schon mal drin, ganz hoch oben. Es sieht aus wie ein Krankenhaus. Schrecklich.“ „Ja, die Gänge. Ich dachte so.“ Er lacht wieder. „Aber man kann sich dort gut umbringen. Von oben herunterspringen.“ Er sieht sie an. „Sie wollen einen dramatischen Tod? Man braucht gar nicht bis ganz oben zu fahren, es geht auch weiter unten.“ „Ich will aber wirklich sicher sein.“

Er sieht sie immer noch an. Nachdenklich. Alles an ihm ist schön, seine tiefe, melodische Stimme, seine Augen, seine Nase, seine  Nasenflügel, seine Zähne, sein Mund. Die langen schlanken Hände. Ob er ein Instrument spielt? Ob er klassische Musik mag? Er spürt ihre Verlegenheit und rettet sie, indem er das Gespräch in ungefährlichere Bahnen lenkt.

„Heute Morgen war es ganz schrecklich. Ich musste zum Straßenverkehrsamt. Wissen Sie, wo das liegt?“ Sie weiß es nicht. Er sagt den Straßennamen, doch sie vergisst ihn sofort wieder.  „Davor ist eine Schlachterei, und es wurde umgebaut. Ich war um halb sieben zu Hause losgefahren. Ich dachte, es wäre genug Zeit, zwei Stunden. Aber ich musste warten. Ich sollte meinen englischen Führerschein übersetzen. Das dauerte so lange! Als ich herauskam, gab es keine Straßenbahn und keinen Bus. Ich musste zu Fuß gehen. Und das war eine ziemlich große Strecke, eineinhalb Kilometer. Bis dahin konnte ich kein Taxi kriegen. Alles war nass und voller Pfützen. Ich musste richtig hüpfen.“ Jetzt muss sie auch lachen.

„Das hat bestimmt nett ausgesehen.“ Er verzieht zweifelnd das Gesicht. „Dann hatten Sie ja einen richtig frühen Termin.“ Er nickt. „Es war sehr früh am Morgen. Ich dachte, die Zeit genügt. Und ich muss es bis zum Wochenende unbedingt haben.“ Er atmet hörbar ein. Ihr Mund ist trocken, sie kann kaum schlucken. „Ich habe heute keine Lust, in die Vorlesungen zu gehen.“ „Das brauchen Sie doch auch nicht.“ Er zieht wieder die Brauen hoch und schaut sie an. „Es ist nicht so weit bis nach London. Etwas mehr als eine Stunde, wenn man fliegt.“ „Nicht drei Stunden?“ „Eine Stunde und ein bisschen. Man kann auch mit dem Fahrrad fahren.“ „Sie kennen mein Fahrrad nicht.“ Er lacht. „Man braucht wohl einen Tag mit dem Fahrrad.“ „Ich bestimmt nicht.“ „Also gut. Zwei Tage. Es ist auch nicht sehr weit bis Ostende.“ Er sagt Ostend.

„Ich war im vorigen Jahr in England.“ „Ja, wo waren Sie denn?“ „In London.“ „Und es hat Ihnen gefallen?“ „Ganz gut.“ „London ist etwas zu groß, wenn man es nicht kennt.“ „Ich habe mir nur die schönsten Stellen angesehen.“

Inzwischen hat er etwas umständlich seine Milch ausgepackt, zwei Strohhalme hineingesteckt und trinkt. Sie hätte nie damit gerechnet, dass er Milch trinkt. Wein, Whiskey, Kaffee, Tee. Aber Milch? Jetzt erinnert er sie an einen großen dunklen durstigen Vogel. Als er ausgetrunken hat, lehnt er sich zurück und lächelt.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen“, sagt er freundlich und sehr langsam, „ich habe noch eine Verabredung. Einen Termin. Ich stecke gerade so richtig in einem bürokratischen Apparat.“ Er zieht seinen kurzen grauen Mantel an, nimmt sein Tablett, nickt ihr zu und geht. Am Tischende dreht er sich noch einmal um, lächelt und sagt: „Guten Appetit.“

Dann ist er fort, und sie kann kaum glauben, dass er jemals da war. Ihr Schirm hängt noch in diesem neuen ungewohnten Winkel und sekundenlang sieht sie noch einen dunklen Schatten auf dem Stuhl gegenüber. Dann wird alles leer. Sie denkt nichts. Sie fühlt nichts. Bald wird er fort sein. Für immer. Dieser merkwürdige Wortwechsel wird ihr erstes und einziges Gespräch bleiben. Sie ist zwanzig. Er ist vierundvierzig, doch das weiß sie nicht. Sie weiß nichts über ihn und sein Leben. Als sie im Studentenheim ankommt, schreibt sie alles auf. Sie will kein Wort, keine Bewegung verlieren.

Nach einem halben Jahrhundert, zehn Jahre nach seinem Tod, steht alles noch unverändert in meinem alten Tagebuch, und ich erschrecke, als ich das Datum lese: 18. Juni 1975. Mein Gespür war richtig, es war wirklich der letzte Moment. Drei Wochen vor Semesterende.

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2 Antworten zu Rooms and Stories – Universität zu Köln

  1. marion sagt:

    Diesen Dialog kann man einfach nicht aus ‚der Hand legen‘. Ein plötzlicher ’small talk‘ mit ungewissem Ausgang. Was erhofft sich die Studentin? Ist es eine Mutprobe für sie, den bewunderten Dozenten anzusprechen? Trotz des ‚kairos‘ fallen ihr nur blödsinnige Themen ein. Wer hat so etwas nicht auch schon erlebt? Danke dir für den Leseschmaus! Marion

    • Bee sagt:

      Die Studentin war einfach hoffnungslos verliebt….in einen wirklich faszinierenden Mann. Manchmal merkt man, wenn man einem außergewöhnlichen Menschen begegnet, wie außergewöhnlich, habe ich allerdings erst herausgefunden, als ich die Nachrufe seiner Freunde gelesen habe. Ich hatte davon damals keine Ahnung – und er hat sich sicher später gar nicht mehr an mich erinnert. Danke für das Lob, liebe Marion.

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