Rooms and Stories – Zimmer 13

in der Bretagne

Als die Tür aufgeht und meine neue Zimmergenossin hereinkommt, bin ich angenehm überrascht und total erleichtert, denn sie ist mir sofort sympathisch. „Hallo, ich bin die Michelle“, sagt die zierliche Person, die nach Eau de Roches duftet, freundlich und reicht mir die Hand. Sie spricht leise und musikalisch, die französische Färbung ist nur ganz zart. Ich bin so froh, dass sie nicht raucht! Wir erzählen einander ein bisschen über unsere Heimatorte und unsere Eltern, und sie gibt mir gleich viele nützliche Tipps für den ersten Tag an der Uni, berichtet, welche Dozenten und Professoren sie bereits kennt. Wir atmen beide tief durch und lächeln.

Michelle hat weiches, dunkelblondes Haar, das direkt nach dem Waschen wellig und leicht gelockt ist wie feinstes Engelshaar. Ihre Augen sind braun, mit einer Spur Graugrün. Sie ist etwas älter als ich, studiert bereits seit einigen Semestern an der Sorbonne in Paris, ist sehr schlank und im Gegensatz zu mir äußerst sportlich. Hier in Köln wird sie ihre Magisterarbeit schreiben. Das Thema klingt kompliziert: Deutschland nach dem ersten Weltkrieg in den Romanen von Fallada „Kleiner Mann, was nun“ und „Wolf unter Wölfen“. Ich kenne den Schriftsteller nicht, wohl aber das Pferd Falada aus dem Märchen „Die Gänsemagd“, dessen Kopf nach dem Verrat durch die Kammerzofe an der Brückenmauer hängt und jeden Morgen so traurig der betrogenen Prinzessin antwortet. Die Prinzessin beginnt: „Oh du Falada, da du hangest.“ Und der Pferdekopf antwortet: „Oh du Jungfer Königin, da du gangest, wenn das dein Mutter wüßt‘, ihr Herz tät ihr zerspringen.“ Mir tat das Pferd immer sehr leid, als Kind hat mich der abgeschlagene Kopf gelegentlich in den Schlaf verfolgt. Mir selbst gefiel in dem Märchen vor allem der Zauberspruch der Gänsemagd-Königstochter: „Weh, weh, Windchen, nimm Kürdchen sein Hütchen, und lass’n sich mit jagen, bis ich geflochten und geschnatzt und wieder aufgesatzt.“ Geschnatzt ist ein wunderbar altmodisches Wort, das ich bis heute gelegentlich benutze.

 Aus dem Märchen lieh sich Fallada seinen Namen, erzählt mir Michelle, in Wirklichkeit hieß er Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen. Sein selbstgewählter Vorname stammt aus dem Märchen „Hans im Glück“. Pseudonyme sind sehr verlockend, ich überlege, wie ich mich selbst nennen soll, falls ich eines Tages Bücher schreibe. Das ist mein großer Traum. Bei den Exerzitien vor dem Abitur habe ich ihn zu meiner großen Überraschung zum ersten Mal ausgesprochen: „Ich möchte Schriftstellerin werden.“ Wir saßen im Kreis, gemeinsam mit einem sehr netten Priester, den wir nie wiedersehen würden, und sollten sagen, wie wir uns unsere Zukunft vorstellten. Meinen Eltern verschweige ich meinen kühnen Plan natürlich. Ich weiß genau, was meine Mutter sagen wird: „Brotlose Kunst! Kommt nicht in Frage!“ Vielleicht könnte ich meinen Nachnamen in die französische Form Valentin umwandeln, so hießen unsere hugenottischen Vorfahren. Aber möglicherweise ist das nur so eine Familienmär wie die angebliche Burg Felten, von der außer den Geschwistern meines Vaters kein Mensch etwas weiß. Die Hauptperson in Falladas „Kleine Mann, was nun“ nennt seine Frau „Lämmchen“, erzählt Michelle. Klingt ein bisschen wie „Liebchen“, so nennt mich mein Vater manchmal. Ich muss das Buch unbedingt lesen!

 Die erste kalte Universitätsdusche erwischt mich am nächsten Morgen bei der „Studienberatung für Erstsemester“. Dieses Gespräch ist für alle Neuen Pflicht. Der Professor wirkt genervt, hat wohl den ganzen Tag nichts anderes getan als sich mit unwissenden Frischlingen herumzuschlagen. Mich fragt er unfreundlich, warum ich denn ausgerechnet Germanistik studieren wolle. Es gebe in Köln ohnehin schon viel zu viele Germanisten. Auf diesen Affront bin ich nicht gefasst. „Weil ich Bücher liebe“, ist das Einzige, das mir einfällt und entspricht zudem der Wahrheit. Der Professor schnaubt. „Wenn das alles ist, sollten Sie besser Bibliothekarin werden.“ Ich fühle mich wie ein mit Eiswasser begossener Pudel. Den Rest der Beratung bekomme ich nicht mehr mit vor nachhaltigem Schreck. Die Zweifel, ob Germanistik wirklich das richtige Fach für mich ist, lodern stärker denn je. Später wird mir klar, dass er Linguist ist. Vielleicht hätte ich die Bücher nicht erwähnen sollen? „Weil ich die deutsche Grammatik und Sprachwissenschaft liebe“ wäre vielleicht eine bessere Antwort gewesen? Irgendetwas Witziges, Originelles hätte ich sagen sollen, ihm den Wind aus den Segeln nehmen, aber mir fällt in heiklen Situationen nie etwas Gescheites ein. Ob alle Erstsemester das mit der Liebe zu Büchern gesagt haben und er deshalb so sauer war? Am liebsten würde ich gleich alles hinschmeißen und gar nicht erst anfangen zu studieren.

Im Hauptstudium begegnete ich ihm später wieder, er leitete das Seminar „Übersetzungskritik“, ein Thema, das mich spontan faszinierte. Vielleicht ahnte ich damals schon, dass ich schon bald Buchübersetzerin werden würde. Wir verglichen verschiedene Übersetzungsversionen, hatten dabei immer Zielsprache und Ausgangssprache im Blick, denn ohne das Original zu kennen, kann man sich die Kritik gleich sparen. Wer nicht beide Sprachen perfekt beherrscht, kann eine Übersetzung gar nicht beurteilen. Das leuchtete mir ein. Eines Morgens ging es um Fachsprachen. „Die kann man nicht übersetzen“, meinte der Professor, „Hier muss man den entsprechenden Begriff in der Zielsprache einfach kennen, damit die Übertragung klappt.“ Als Beispiel wählte er die Waidmannssprache, die kenne ich recht gut aus meinen Kinderbüchern und durch meinen Jäger-Vater, und Minuten später beeindruckte ich den Professor, der mich im ersten Semester so verunsichert hatte, mit meinem rein zufälligen Wissen. Ich schien die Einzige im Kurs zu sein, die wusste, zu welcher Fachsprache „Lichter“, „Blume“, „Luder“ und „Schweiß“ gehörten und was sie in diesem Kontext bedeuten. „Sie sind aber intelligent!“ entfuhr es ihm. Ich wurde rot. Das unverdiente Lob freute mich. Mit Intelligenz hat die Kenntnis der Jägersprache natürlich genauso wenig zu tun wie die Germanistik mit der Liebe zu Büchern.

 Jeden Morgen setzt sich Michelle an ihren Schreibtisch, trinkt warmen Kräutertee, manchmal nascht sie auch Marmelade, und bleibt sitzen, bis sie mindestens fünf Seiten geschrieben hat. Manchmal geht es schnell, dann können wir auch schon mal gemeinsam zu Fuß in die Uni gehen, manchmal sitzt sie auch am Nachmittag noch dort, mit leicht zusammengezogenen Brauen und gezücktem Füller, es will ihr dann einfach nicht genug einfallen. Sie ist beneidenswert diszipliniert. Auch was ihre Fitness betrifft. Sie geht (gefühlt) jeden Tag schwimmen, weil es sie an die Bretagne und das Meer erinnert, in das man einfach morgens und abends hineinspringen kann, wenn man dort ein Sommerhaus hat. In der Bretagne würde ich auch gern leben! Michelle erzählt mir von blauen Hortensienbüschen, Menhiren und verwitterten Kalvarienbergen vor uralten Kirchen. In der Bretagne gibt es viele geheimnisvolle Orte, sogar einen personifizierten Tod, den Ankou, Legenden und Mythen, Broceliande, den sagenhaften Wald aus der Artusepik, und sogar eine eigene keltische Sprache, Bretonisch. „Du musst mich unbedingt dort besuchen“, sagt Michelle, und ich weiß, dass ich das ganz sicher tun werde.

 Samstags geht Michelle reiten, sie besitzt natürlich einen Reithelm und alles, was man zum Reiten sonst noch braucht. Sie sieht eindrucksvoll aus in ihrem Outfit und berichtet, dass deutsche Pferde viel größer sind als französische. Sie schwärmt für den jungen englischen Jockey Eddie Macken.

Ich schwärme auch. Erschreckend heftig, selbst für meine gefühlsstürmischen Verhältnisse. Für meinen ungarisch-britischen Lektor, in dessen Kurs ich ganz zufällig geraten bin. Es tut richtig weh und fühlt sich an wie Liebe. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Als ich mich in seinem Zimmer im Philosophikum anmelde und ihn zum ersten Mal sehe, fällt mir alles aus den Händen, Tasche, Stift, Block. Als hätte mich der Blitz getroffen, so etwas Verrücktes ist mir noch nie passiert. Sein Gesicht muss einem uralten Seelenbild in mir entsprechen, von dem ich nicht weiß, woher es stammt. Aus einem Film? Einem Buch? Einem Traum? Einem anderen Leben? Ich bin in seinen Kurs geschickt worden, es ist ein sogenannter C-Kurs, weil ich im Placement Test schlecht abgeschnitten habe. Es war ein komplizierter Multiple Choice Test, der die Lektüre von etlichen Texten und Büchern voraussetzte, von denen ich bis dahin noch nie gehört hatte. Eine deprimierende Erfahrung, doch als jäh der Blitz in mich fährt, bin ich glücklich, dass mich der verpatzte Test ausgerechnet in dieses Zimmer geführt hat. 

 Wenn ich in den Intensive Language Course gehe (14:00 -17:00 Uhr im alten Vorlesungsgebäude, er kommt immer zu spät), ist mir schon morgens beim Aufstehen schlecht vor Aufregung und ich bekomme keinen Bissen herunter. Im Mittelhochdeutschkurs finde ich Worte für diese Gefühlsverwirrung bei Gottfried von Straßburg: „süeze sûr, liebes leit“. Wird er mich bemerken? Mir zulächeln? Das bodenlose Verliebtsein hat etwas zutiefst Erschreckendes. Es beginnt bereits, sich störend auf meine realen Beziehungen auszuwirken, denn für meine Gefühle macht es merkwürdigerweise überhaupt keinen Unterschied, ob sie erwidert werden oder nicht. Dieser Mensch erschüttert alles, was bisher war. Michelle wünscht mir „Viel Glück“, wenn ich donnerstags hoffnungsvoll ängstlich aus der Tür gehe. Natürlich interessiert er sich nicht für mich, auch wenn er mich gelegentlich anlächelt, so dass all meine Sehnsüchte ins Leere laufen. Im zweiten Semester besuche ich gleich zwei seiner Veranstaltungen, den Essay und den Translation Course. Danach ist er fort, und ich weiß nur, dass ich ihn nie vergessen und noch lange suchen werde. 

 Ab und zu fährt Michelle mit ihrem kleinen weißen C4 am Wochenende mit mir zu meinen Eltern. Beide mögen sie auf Anhieb, auch wenn sie isst wie ein Vögelchen, was meine Mutter nicht müde wird zu beklagen. Michelle ist oft unterwegs, so dass ich trotz des Doppelzimmers erstaunlich viel Zeit für mich allein habe. Doch es stört mich auch nicht beim Lernen oder Lesen, wenn sie da ist. Sie gehört einfach dazu. Zum Zimmer, zu Köln, zu meinem Leben.

Wir lieben zufällig genau dieselbe Musik: alles von Cat Stevens, aber auch vieles von Donovan, Ralph McTell („Streets of London“) und Bob Dylan (besonders „Hurricane“). Es ist die Zeit der Folk-Sänger und Michelle hat auch Musik von französischen Künstlern wie Alan Stivell, der damals in Deutschland schon gut bekannt ist. In der Bretagne gibt es auch Harfen und Dudelsäcke als traditionelle Instrumente, erfahre ich, denn es ist ein keltisches Land. Cat Stevens hören wir jeden Abend, eine von uns muss immer gefühlt hundertmal aufstehen, um den Recorder zurückspulen zu lassen, damit wir „Sad Lisa“ oder „Father and Son“ wieder und wieder hören können. Es ist ein friedliches, angenehmes Jahr in der 13, auch wenn mir die Uni und mein Freund bei der Bundeswehr enorm viel Stress machen.

 In der Bretagne war Michelle Meisterin für Kraulschwimmen, 4 x 100 Meter Staffel, ich bin tief beeindruckt. Ich selbst bin leider der unsportlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Michelle dagegen ist ein echtes Wassermädchen und hat vom Schwimmen eindrucksvoll starke Schultern. Sie zeigt mir Fotos von ihrem Bretonischen Spaniel und ihrem Irish Setter. Ihr Vater ist Zahnarzt und ein hervorragender Fotograf. Er fotografiert am liebsten Winzlinge: Insekten, Blüten, Grashalme, Tautropfen, aber natürlich auch seine Hunde. Auf einem Bild läuft der Spaniel durch ein wogendes Gräserfeld, am liebsten würde ich es vergrößern und über meinen Schreibtisch hängen. Oft wartet er stundenlang geduldig, bis die Grille, der Marienkäfer oder die Heuschrecke genau so sitzen, dass er sie perfekt fotografieren kann. Diese Jagd mit der Kamera kann ich gut verstehen und auch das befriedigende Glücksgefühl, wenn der richtige Moment gekommen ist und man das Bild „geschossen“ hat. Michelles Mutter klingt ähnlich kompliziert wie meine eigene, obwohl Michelle nie Negatives über sie sagt. Aber wir können beide zwischen den Zeilen lesen.

 Für mich ist das Zusammensein mit Michelle ein „Match made in Heaven“. Es gelingt uns mühelos, diskret, rücksichtsvoll, freundlich und entspannt miteinander umzugehen. Kein einziges Mal haben wir Streit oder auch nur eine Unstimmigkeit. Ich freue mich jeden Tag, mit ihr im selben Zimmer zu wohnen. Wenn ich nach Köln zurückkehre, ist es trotz der Kopfschmerzen, die mir die berüchtigte Kölner Bucht in den ersten Monaten beschert, schon bald genauso mein Zuhause wie mein Elternhaus. Morgens weckt uns Michelles Radio mit französischen Nachrichten, abends hören wir bis tief in die Nacht unsere gemeinsame Lieblingsmusik. Einen Fernseher gibt es nur im Gemeinschaftsraum, nicht in den Zimmern. Es ist eine ruhige, freundliche, sichere Zeit in Zimmer 13, ich lerne wichtige französische Wörter wie „bof!“ und „le truc“ und sehe unzählige französische Filme, denn das Institut Français liegt um die Ecke und wir besuchen auch oft die preiswerten kleinen Kinos, etwa die Cinemathek. „César et Rosalie“ mit dem schönen Sami Frey und dem interessanten Yves Montand sehen wir mindestens fünfmal.

 Es gibt nur ein Foto von unserem Zimmer, Michelle muss es gemacht haben. Ich sitze auf meinem Bett mit der knallroten Decke, die meine Mutter gekauft hat, und sehe fröhlich aus. Hinter mir hängen einige der selbstgemalten schwarzweißen Tuschebilder, meine Wimmelbilder aus der Pforte. Es muss in der Adventszeit aufgenommen worden sein, denn an der Wand hängt ein Adventskalender in Nikolausform, einer der wenigen Hampelmann-Kalender in meiner Sammlung. Man sieht auch den Rand des blauen Märchenposters von Edmund Dulac und eine Ecke des David Hamilton-Posters, auf dem die beiden Mädchen vor der verwitterten Mauer nie aufhören werden, die weißen Tauben zu füttern.

Im nächsten Jahr kennen wir uns fünfzig Jahre, und Michelles Gegenwart ist für mich immer noch genauso angenehm und entspannend wie damals. Wir brauchen selbst nach längerer Abwesenheit nur Sekunden, um wieder vertraut zu sein, und sind auf Whatsapp oft in Kontakt. Michelle reist gern und schickt mir stimmungsvolle Fotos aus fernen Ländern, entdeckt verwunschene Buchläden für mich und teilt mit mir die schönsten Sonnenuntergänge an ihrem bretonischen Strand. Inzwischen joggt sie jeden Tag. Sie liebt Hunde (besonders Beagles) wie ich Katzen (besonders Maine Coons). Wir sehen uns jedes Jahr, sie hat es sogar während der Pandemie nach Köln geschafft. Ich habe sie in Paris und in der Bretagne besucht, aber das sind andere Räume und andere Geschichten.

Der Tag, an dem sie aus Zimmer 13 auszog, war schrecklich. Ich brachte sie zum Wagen, wir gaben uns die letzten traurigen Luftküsse, und ich ging zurück in den einsamen, halbleeren Raum. Genau wie am ersten Abend. Schnell und ohne jemanden anzusehen. Schließlich wollte ich nicht vor aller Welt in Tränen ausbrechen. 

in der Bretagne

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