I met you in Dublin…

Dublin (Gabriel Ramos/unsplash)

In wenigen Wochen haben wir Silberhochzeit, und der Blick zurück ist immer noch wunderschön. Wir begegneten uns zum ersten Mal Anfang 1998 in der Königin-Luise-Schule (1871 als erste höhere Töchterschule in Köln gegründet), wo zwei meiner insgesamt vier Englischkurse stattfanden: „Spot your mistakes“ und „Getting ready for your trip abroad“. Beide hatte ich selbst ins Leben gerufen. Den ersten, um deutschen Muttersprachlern ihre typischen Fehler abzugewöhnen. Meine Lieblingssparte waren „false friends“, Wörter, die zwar englisch klingen, aber entweder auf Englisch gar nicht existieren oder eine völlig andere Bedeutung haben als bei uns, oder Wörter, die in beiden Sprachen verblüffend ähnlich klingen und daher leicht verwechselt werden. Mit dem zweiten Kurs wollte ich zukünftige Globetrotter oder Reisende für Großbritannien und die Vereinigten Staaten so fit machen, dass ihnen nicht all die peinlichen Fehler unterliefen wie mir selbst. Etwa Müll in einen blauen US-Briefkasten werfen, Amerikaner mit dem falschen Wort für Klo zu Tode schocken (nicht loo oder toilet, sondern bathroom!), Waliser als Engländer bezeichnen und damit einen hysterischen Schreianfall provozieren und vieles mehr. Zudem gab es eine kleine Einführung in die lange und hochinteressante Liste von Tabuwörtern, einen Exkurs über die Begehung nationaler Feiertage sowie über besondere Tischmanieren (Gabelhaltung! Zuerst die Milch in den Becher, dann erst den Tee!). Wir schauten uns die damals noch relativ unbekannten Besonderheiten der landestypischen Küche an („Toad in the Hole“, „Bubble and Squeak“, „Sweet Potato“, „Digestives“, „Cilantro“) und vieles mehr. Es machte Freude, das alles zu vermitteln. Die Kursteilnehmer von „Getting ready“ verabschiedeten sich leider oft schon schnell ins Ausland und schickten mir danach nette Kartengrüße, in denen sie sich für die nützlichen Tipps bedankten. „Spot your mistakes“ war beständiger, einige Teilnehmer kannte ich schon seit Jahren, was den Nachteil hatte, dass ich nichts recyceln konnte und mich für jeden Abend aufwändig neu vorbereiten musste. Ich steckte viel Zeit und Energie in die Vorbereitung.

Die VHS-Tätigkeit hatte ich noch während des Studiums nach der Rückkehr aus England aufgenommen, um die Miete für meine kleine Wohnung in der Südstadt bezahlen zu können. Sie lag direkt am Römerpark und wenn man nachts aus dem Fenster schaute, blickte man auf den alten Hafen, der mich oft an ein Schloss erinnerte, besonders, wenn der Mond direkt über den Turmspitzen hing. 1998 wohnte ich bereits in einer größeren Wohnung im Belgischen Viertel, hatte einige Jahre als Fachübersetzerin für psychiatrische Texte an der Uniklinik hinter mir und arbeitete nun vor allem als freie Buchübersetzerin. Ich lebte nicht allein, hatte zwei Katzen und verfügte über zwanzig Jahre Lehrerfahrung. Doch „erste Stunden“ machten mich nach wie vor nervös, auch wenn man es mir nicht mehr anmerkte. Das Gute war, dass ich im Unterricht grundsätzlich nur Englisch sprach, für mich fast wie ein weicher Seelenschutzmantel.

Wie üblich war ich zu früh im Klassenraum, saß mit baumelnden Beinen auf dem altmodischen Pult, starrte die leeren Plätze an und versuchte, mich nach der Winterpause unterrichtsmäßig einigermaßen zu akklimatisieren. Übersetzerisch steckte ich mitten in einem Reiseführer über Dublin, saß den ganzen Tag zwischen Stapeln von Irlandbüchern und fand es schwierig, meine Gedanken von der O’Connell Bridge, St. Stephen’s Green, Molly Mallone, Anna Livia Plurabelle und den bunten Scheiben von Bewley‘s Oriental Café zu lösen, um mich einer neuen Gruppe auszusetzen. Da saß ich also auf meinem Pult vor einem leeren breiten zweireihigen U aus Stühlen und Tischen, hatte mir zum Trost eine halbe Beruhigungstablette aus dem Fundus meiner Mutter gegönnt, aber ich fühlte mich trotzdem aufgeregt und harrte der Dinge, die da kommen mochten. Erste Stunden waren Stress pur. Jedenfalls bis zu diesem Abend.

Ein leises Geräusch ließ mich aufblicken. Jemand hatte die Tür vorsichtig geöffnet. Ich erblickte einen etwas verloren wirkenden Mann mit Brille, der einen hellen Trenchcoat ohne Gürtel trug, mich fragend ansah und wissen wollte, ob dies der richtige Raum für seinen Englischkurs „Spot your mistakes“ sei, „yes, it is“, daraufhin nahm er rechts vor mir Platz. In nächster Nähe, was mir irgendwie gefiel, denn er strahlte etwas sehr Beruhigendes aus. Auch er war sehr früh dran und hatte anscheinend dasselbe Bedürfnis wie ich, sich mit Räumen vertraut zu machen, denn er schaute sich aufmerksam um und beobachtete auch diskret die anderen Kursteilnehmer, die langsam den Raum füllten. Natürlich sprach ich ausschließlich Englisch mit ihm, was ihn ein klein wenig unsicher machte und mich um einiges sicherer. An unsere Konversation kann ich mich nicht mehr erinnern, vielleicht steht dazu etwas in einem meiner Tagebücher, wohl aber, dass meine Aufgeregtheit sich schon sehr bald zu verwandeln begann, im Laufe des Abends eine durchaus angenehme Farbe annahm und schließlich einem leichtköpfigen Gefühl Platz machte, das ich damals noch nicht benennen konnte: Eu-Stress.

Wir fanden uns zufällig, waren beide nicht auf der Suche, vielleicht die beste Voraussetzung für die Liebe? Es „passierte“ bereits am ersten Abend, head over heels, auch wenn es mir damals nicht bewusst war. Bereits bei der üblichen Vorstellungsrunde versuchte ich, mehr über den nachdenklichen Fremden im Trench herauszufinden, doch der blieb spröde. „I am just a civil servant“, stellte er sich vor. Ein einfacher Beamter! Das konnte alles bedeuten, aber wie ein typisch deutscher Beamter wirkte er so gar nicht. Alles, was ich an diesem ersten Abend sonst noch herausfand, war, dass er einen Sohn mit Internetzugang hatte und ein Saab Convertible fuhr (beides gestand er natürlich nur auf Nachfrage), sogar mit Navigationssystem (das gestand er auf hartnäckige Nachfrage eines anderen Kursteilnehmers, der sich mit neuen Autos auskannte und ein Saab-Fan war), was ich mir genauer erklären lassen musste, weil ich mir darunter damals nichts vorstellen konnte. Bei den Übungen merkte ich schnell, dass er bei englischen Präpositionen ziemlich ins Trudeln kam. „Always take the second one that comes to your mind“ riet ich ihm spontan. Es half! Die richtige Präposition war tatsächlich immer genau die zweite, die ihm einfiel, und schon war sein Problem gelöst.

Aber meins kam noch! Leicht gerührt erinnere ich mich an den Moment, als mir – absolut typisch für erste Stunden, daher zu Recht von mir gefürchtet – ein total wichtiges Wort partout nicht einfallen wollte. Ich weiß nicht mehr, ob es ein deutsches oder englisches war. Meine Wortblockaden waren wirklich ärgerlich. Kaum war die Stunde vorbei, kreuzte das verstockte Wort natürlich sofort wieder grinsend in meinem Kopf auf. So war es immer gewesen, und ich hasste es. Diesmal nicht. Mr Just a civil servant sah mich kurz an, spürte den Stress, zauberte blitzschnell ein winziges Wörterbuch aus seiner Tasche (gelb, Langenscheidt), schob seine Brille hoch, hielt das Büchlein extrem nah vor seine Augen und soufflierte dezent den verstockten Begriff. Ich war beeindruckt und mit einem Mal ruhig und entspannt. Das war mir in zwanzig Jahren noch nie passiert. Wir waren bereits am ersten Abend ein Dream Team.

Zu Hause angekommen war ich so aufgekratzt, dass es meinem Mitbewohner schon an der Tür auffiel. „Du bist ja gar nicht so müde wie sonst!“ Nein, kein bisschen. Elated geradezu. Normalerweise musste ich mich mindestens eine Stunde lang erholen nach den anstrengenden Unterrichtsstunden, redete keinen Ton, wollte nicht angesprochen werden, knallte mich vor den Fernseher, fühlte mich, als hätten mich Energievampire bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt. Erst danach war ich wieder normal.

Ob ich mich da schon richtig verliebt hatte? Immerhin fand ich den Mann im Trench so interessant, dass ich später in der Teilnehmerliste seine Adresse nachschaute und ihn dann auch noch im Telefonbuch suchte. Er hatte einen Doktortitel? Davon hatte er im Unterricht nichts erwähnt. Aber er neigte offenbar ohnehin eher zu Untertreibungen. Er wohnte in der Aachener Straße, sah ich, also gleich um die Ecke. Dachte ich! Im Telefonbuch gab es noch jemanden mit seinem Nachnamen. Seine Tochter? Hatte er überhaupt eine Tochter? Seine Frau? Lebten sie getrennt? Waren sie geschieden? Ich fürchtete, dass so ein netter Mensch unmöglich ungebunden sein konnte. Bloß nicht, dachte ich. Verheiratet geht gar nicht. So was will ich nie wieder! Aber vielleicht ist er ja geschieden. Hoffentlich. Wie lang die Aachener Straße tatsächlich ist, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Da ich zahlenblind bin, fiel mir die tierisch lange Nummer nicht wirklich auf und ich mag ja Hexennummern. Selbst wenn sie doppelt sind.

Am nächsten Morgen kehrte ich zurück nach Dublin. Doch von nun an war ich nicht mehr allein in der quirligen Stadt an der Liffey. Ein extrem kurzsichtiger Mann um die fünfzig, der einen abgeliebten Trenchcoat ohne Gürtel trug, überaus charmant lächeln konnte, eine Schneidezahndiastase hatte und ein kleines Wörterbuch in der Tasche trug, begleitete mich. Er war auch bei mir im Zimmer, saß neben mir am Schreibtisch, las mit mir aufmerksam in der Sekundärliteratur, blätterte für mich in den Büchern von James Joyce, unterhielt sich mit mir (zu meiner großen Verblüffung) über Anna Livia Plurabelle (wer kennt schon Anna Livia Plurabelle!), schlug für mich komplizierte Wörter nach (damals hatte ich noch kein Internet und natürlich konnte man auch noch nichts googeln) und hörte gemeinsam mit mir die angenehme Musik, die leise im Hintergrund lief, um mich angemessen auf das Land meiner Übersetzung einzustimmen. Beim Arbeiten war es ruhige Irish Folk Music, damit ich mich konzentrieren konnte. In den Pausen tranken wir frisch gebrühten Bewley’s Tea, aßen englische Biscuits und hörten Van Morrison. So laut es ging in einer Mietwohnung mit dünnen Wänden. Meine Katzen Sam und Kitty schliefen wie immer zusammengerollt auf meinem Schreibtisch. Dann kam „River of Time“  und beamte mich weit, weit weg. Hinauf in die Wolken. Hinein in zwei weit ausgebreitete Arme. Und die trugen mich fort. Von jedem und allem. In ein komplett neues Leben. Schon am ersten Morgen nach dem ersten Treffen.

Dublin (Lucas Swinden/unsplash)

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