Full of Books and Chocolate….

Dublin

Heute habe ich meinen Dublin-Reiseführer aus dem Regal gezogen, van Morrison gehört und in meinen unzähligen Ordnern nach den alten VHS-Unterlagen gesucht, um mir die Teilnehmerliste aus jenem denkwürdigen Englischkurs noch einmal anzusehen und herauszufinden, wann genau wir uns das erste Mal begegnet sind. Jetzt weiß ich es. Am 20. Januar 1998, einem Dienstag, irgendwann zwischen 18:00 und 18:30 Uhr. Der Kursraum befand sich im ersten Stock des Gymnasiums Alte Wallgasse, der Unterricht dauerte von 18:30 bis 20:00 Uhr. In meinen Unterlagen fand ich auch einen Brief an meine Freundin Jacqueline, in der ich ihr über das „massive emotional earthquake“ berichtete, das mein Leben von Grund auf verändert hatte.

„The January wind swept him into my evening class, nothing striking happened at first, we were just acutely aware of each other. I could always feel him when he was near me and was disappointed and a bit lost when he wasn’t. I knew almost nothing about him, but I didn’t have to. It was enough to know his smile, the way he pushed his glasses up or the way he squinted when he was reading (he is very shortsighted!). I love his voice. He seems quiet and wise, intelligent and funny. A really kind and special person.”

Am dritten Abend musste er sich notgedrungen und sichtlich widerstrebend outen, nachdem er mich gerade zum zweiten Mal aus einer unkomfortablen Situation errettet hatte. Aus irgendeinem Grund, vielleicht hatten wir kurz das Thema Ernährung oder Diäten gestreift, wollte ein Teilnehmer plötzlich von mir den Unterschied zwischen gesättigten und ungesättigten Fettsäuren wissen. Was für eine Frage in einem Englischkurs, woher zum Teufel sollte ich das wissen? Aber die Leute stellen einem im Unterricht oft die seltsamsten Fragen und mir war es peinlich, wenn ich nicht antworten konnte. Anschließend musste ich natürlich darüber lachen, aber nicht in der Situation selbst. Wie alt ist Prince Charles? Wie heißt Doppeloxer auf Englisch? Wie, Sie kennen sich nicht mit Schiffsknoten aus? Wann wurde Australien entdeckt? Wie hieß das Schiff von Kolumbus? Wann war noch mal die zweite germanische Lautverschiebung? Im Unterricht wäre ich nur zu gern unfehlbar gewesen und hätte am liebsten alles gewusst. Wenn ich Pech hatte, was fast immer der Fall war, wurde ich dank meiner hypersensiblen Blutgefäße auch noch tomatenrot und bekam einen wüstentrockenen Mund. Völliger Schwachsinn, aber was soll man machen. Ich hatte keine Ahnung von gesättigten und ungesättigten Fettsäuren und sah mich hilfesuchend um.

Er fing meinen Blick sofort auf, erhob sich, kam zu mir, fragte leise „May I?“ und übernahm mein Stück Kreide. Dann schritt er zur Tafel, skizzierte diverse Formeln aufs dunkle Grün und erklärte den staunenden Zuhörern den Unterschied. Irgendwas mit Doppelbindung, wenn ich mich recht erinnere. Ich atmete tief durch und war schlagartig entspannt. Gemeinsam waren wir offenbar selbst für die merkwürdigsten Fragen und Situationen gewappnet. Genau das stellten wir bald auch beim Lösen von komplizierten Kreuzworträtseln fest. Wir ergänzten uns im besten Sinne und gemeinsam fanden wir fast immer die Lösung. Da ich ja inzwischen wusste, dass er einen Doktortitel hatte, erkundigte ich mich vorsichtig, ob er vielleicht Chemiker sei? Nein, war er nicht. Er war Arzt. Virologe und Facharzt für Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie (ein wahrer Zungenbrecher!) und er sagte es auf Englisch! Außerdem leitete der charismatische Dr. just a civil servant das Kölner Gesundheitsamt. Keine Ahnung, warum ich seinen Namen als Kölnerin damals nicht kannte. Ich las jeden Tag den Kölner Stadt-Anzeiger, Name und Gesicht hätten mir daher eigentlich ein Begriff sein sollen, denn er hatte sich ja vor allem im Bereich von HIV und AIDS landesweit mit der sogenannten Kölner Linie einen Namen gemacht, aber da die anderen im Kurs ihn auch nicht erkannt hatten, fühlte ich mich nicht ganz so schlecht. Vielleicht war das so ja auch alles genau richtig. Verliebt habe ich mich tatsächlich völlig unvoreingenommen in den civil servant. „Gerade richtig dick, in seinen besten Jahren“, in Anlehnung an „Karlsson vom Dach“, ein Buch, dass er mir im Laufe der Jahre sehr oft vorgelesen hat. Abends liest er mir immer vor, bis heute, damit ich besser einschlafen kann, ein Ritual, das ich überaus liebe. Karlsson ist das genaue Gegenteil von mir, vielleicht gefällt er mir deshalb so gut. Leider hat er in seiner Monomanie auch ein klein wenig Ähnlichkeit mit Donald Trump, daher lesen wir das Buch jetzt nicht mehr ganz so häufig.

Wir hätten uns übrigens schon früher kennenlernen können, wie wir später herausfanden. Bereits einmal hatte das Schicksal in Form meiner damaligen VHS-Chefin versucht, uns einander näherzubringen. Meine Fachbereichsleiterin hatte mich nämlich gefragt, ob ich nicht gemeinsam mit ihr einen Englischkurs „Medical English“ am Kölner Gesundheitsamt anbieten wolle, sei gut bezahlt und interessant, doch ich hatte abgelehnt, weil ich zwar Fachübersetzerin für Psychiatrie war, mich aber in Medizin im allgemeinen nicht sonderlich fit fühlte. Und so ging sie allein zum Gesundheitsamt und führte ein längeres Gespräch mit dem Amtsleiter, der zwar nicht allzu viel von diesem Kurs hielt, seinen Leuten aber gern etwas Gutes tun wollte und ihn daher auch genehmigte. Lustigerweise war es dann auch ausgerechnet meine Fachbereichsleiterin, die ihn nach einem Einstufungstest am Neumarkt in meinen Kurs in die Alte Wallgasse schickte.

Ich hörte sehr genau zu, wenn er sprach. Offenbar hatte er zwei Kinder, außer dem Sohn mit Internetzugang auch eine Tochter, die England mochte und sogar gemeinsam mit ihm einen anderen VHS-Kurs besuchte. Da er immer nur von „my house“ und „my garden“ sprach, schloss ich, dass er vielleicht doch geschieden war. Einer seiner schönsten Sätze war „I have a house full of books and chocolate.“ Ich liebe Bücher und Schokolade! Inzwischen wusste ich auch, dass er leidenschaftlich gern kochte (wieder was, was ich nicht besonders gut konnte) und ein echter Steinzeitfan war. „I love megalithic tombs. And I love Orkney.“ Und er mochte Friedhöfe und alte Steinengel, genau wie ich. Unsere ersten beiden Rendezvous (nach Kursende!) fanden daher auf dem Melaten Friedhof statt, für viele möglicherweise ein eher unromantischer und gruseliger Ort. Nicht für uns. Zum ersten Mal geküsst haben wir uns im Weidener Römergrab, einer unterirdischen Grabkammer, in die man damals noch allein hinuntersteigen konnte, nachdem man sich in dem kleinen Wärterhäuschen den Schlüssel geholt hatte. Sonst wäre es dort bestimmt nicht zu unserem ersten Kuss gekommen.

Melatenblätter (BFL)

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