Sonntag ist ein neues Mädchen in die 15 gezogen, wir sind also Nachbarinnen. Masako und Sabine aus der 17 haben sie bisher auch noch nicht gesehen, auch nicht zufällig im Flur, und sie hat sich auch niemandem vorgestellt, wie es sonst bei uns üblich ist. Wir treffen uns oft in der Küche zum Reden oder Teetrinken, sie hat bestimmt unsere Stimmen gehört. Offenbar möchte sie lieber erst mal nur für sich sein, was wir verstehen und respektieren. Sie wohnt noch allein im Zimmer, wir wissen nicht, ob es momentan als Doppelzimmer oder Einzelzimmer genutzt werden soll.
Seit einigen Stunden läuft in der 15 ziemlich laut das Radio. In der Küche sprechen wir darüber und beschließen, etwas zu unternehmen. Wir klopfen bei der Neuen an und versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen, rufen durchs Holz, sie soll bitte etwas leiser sein, weil die Musik uns stört. Sie reagiert nicht. Wir hören zwar Geräusche, aber sie will offenbar nicht aufmachen. Vielleicht hat sie Heimweh. Vielleicht geht es ihr nicht gut. Vielleicht weint sie, hat vielleicht Liebeskummer, und will nicht, dass wir es hören.
„Können wir was für dich tun?“ rufen wir. Keine Antwort. Schließlich schieben wir ihr einen zusammengefalteten Zettel unter die Tür. Darauf steht: „Bitte dreh dein Radio leiser.“ Wir wagen nicht, die Klinke herunterzudrücken, als wäre es die verbotene letzte Tür aus dem Märchen. Sabine holt die Heimsprecherin, die sich traut, doch die Tür ist abgeschlossen. Das Radio wird auch nicht leiser, als es draußen dunkel wird. Später und später wird es, doch im Flur und durch die Wände kann man den Krach immer noch deutlich hören. Wenn wir nichts unternehmen, können wir alle nicht schlafen. Also holen wir wieder die Heimsprecherin und die informiert schließlich die Heimleiterin.
Kurz darauf ist sie vor Ort, versucht es wie wir mit Klopfen und Rufen, Rütteln und Klinkedrücken, und verschafft sich schließlich mit Hilfe des Generalschlüssels Zutritt. Zum Glück steckt innen kein Schlüssel, sonst hätte sie den Schlüsseldienst rufen müssen. Ein paar von uns stehen noch draußen und sehen sie im Zimmer verschwinden. Doch sofort stürzt sie wieder heraus, bleich, mit weiten Augen, die Hand am Mund, und jetzt bekommen wir Angst. Das Radio läuft unbeirrt weiter.
„Ist was passiert?“ fragt Sabine. Die Heimleiterin zittert am ganzen Körper, doch ihre Stimme ist fest. „Gehen Sie bitte alle in Ihre Zimmer und bleiben Sie dort. Kommen Sie auf gar keinen Fall auf den Flur, bis ich es Ihnen sage.“ Alles wirkt bedrohlich. Michelle ist im Moment in Frankreich, aber meine Freundin Karla ist bei mir, wir bleiben gehorsam im Zimmer, sehen und hören aber trotzdem, was draußen passiert. Karla und ich stehen am Fenster und beobachten den Eingang. Zuerst läuft ein Notarzt ins Haus, dann kommt die Polizei, schließlich zwei Männer mit einer Bahre. Wir hören die fremden Stimmen durch die dünne Tür. Jetzt stellt jemand das Radio ab. Als die Polizei erscheint, ist klar, dass die Neue tot ist.
Wir wissen nicht, wie sie ausgesehen hat und wer sie war, wir kennen nicht mal ihren Namen. Nur wenige Tage lang war sie auf unserem Flur, und jetzt wird sie heimlich weggebracht. Es quietscht, als die Männer die Bahre über den Gang rollen. Eine tiefe Stimme flucht, als sie die Bahre die Treppe hinunterschaffen, die enge Biegung ist sicher ziemlich schwierig für sie. Unser Aufzug ist für den Transport eindeutig zu klein. „Die war schwanger“, sagt die etwas höhere Männerstimme, die nicht geflucht hat, doch sofort widerspricht eine Frauenstimme. „Wir sind ein katholisches Haus! So etwas gibt es nicht in einem katholischen Haus!“
Gestorben vor mehreren Stunden, an einem Blutsturz. Das hören wir, und mehr werden wir nicht erfahren. Hätten wir sie retten können? Hätten wir gewaltsam die Tür eintreten sollen? Früher die Heimleiterin benachrichtigen? Aber es wäre nicht nett gewesen der Neuen gegenüber, sie sofort wegen ein bisschen Lärm zu verpetzen, versuche ich uns zu verteidigen. Ist sie verblutet? War sie sofort tot? Ist sie qualvoll gestorben? Hat sie allein versucht, ihre Schwangerschaft zu beenden? Hatte sie eine Fehlgeburt? Mir ist übel. Wir waren die ganze Zeit in ihrer Nähe und haben nichts unternommen, nur weil wir höflich und rücksichtsvoll sein wollten und ihre Privatsphäre respektierten. War das jetzt alles falsch? Ich fühle mich schlecht, verwirrt und irgendwie schuldig.
Mehr als das, was die Flurstimmen preisgeben, werden wir nicht in Erfahrung bringen, wir trauen uns auch nicht, die Heimleiterin direkt zu fragen. Wir vermeiden sogar, miteinander über das Erlebte und Gehörte zu sprechen. Wir schweigen und bleiben verunsichert.
Einige Tage lang ist es ungewöhnlich still auf unserem Flur. Fürs erste will niemand in das gefährliche Zimmer ziehen. Nicht mal, wenn es ein Einzelzimmer ist. Egal, wie beliebt Einzelzimmer normalerweise sind. Wenn ich an der 15 vorbeigehe, halte ich die Luft an und versuche, die stumme Tür auf gar keinen Fall anzusehen.