Rooms and Stories – Said the Fox

Während der beiden Wochen in Oberammergau wurde ihr Leben unmerklich neu justiert. Der junge Engländer war etwas älter als sie und studierte in Cambridge Philologie und Germanistik. So einen Seelenfreund wie ihn hatte sie noch nie vorher getroffen. Jemand, der auf der Gitarre „Something“ und „Jealous Guy“ für sie spielte und auf dem Plattenspieler „Heart of Gold“ (was hatte Neil Young nur für eine merkwürdig hohe Stimme), der wie sie die Beatles und Simon and Garfunkel liebte. Jemand, der Tagebuch führte und seine Träume aufzeichnete, ohne dadurch auch nur im Geringsten lächerlich zu wirken. Bisher hatte man sie immer für verrückt erklärt, weil sie nachts so ausgiebig träumte und sich morgens sogar noch daran erinnerte. „Du brauchst dringend einen Psychiater“, sagte ihr deutscher Freund. „Das ist nicht normal.“ Er selbst konnte sich an seine Träume nie erinnern, was sie wiederum für nicht normal hielt, aber das sagte sie vorsichtshalber nicht. Jeden Morgen war der junge Engländer DJ und legte „Freßmusik“ für die Jugendhausgäste auf, meist Songs, von denen man garantiert sofort wach wurde, etwa „Whisky in the Jar“ und „The Lion sleeps tonight“ oder „Crocodile Rock“, und sie freute sich schon darauf, ihn nach der langen Nacht endlich wiederzusehen. Meist war er natürlich beschäftigt, doch zwischendurch fanden sie immer wieder Zeit füreinander. Manchmal nahm sie auch an den Exkursionen nicht teil, um bei ihm bleiben zu können. Aus diesem Grund war sie nie in Schloss Linderhof und bestieg auch nie den Kofel, aber das war es wert.

P. hörte ihr nicht nur zu, er sprach auch über seine eigenen Nachtgespinste. Mit ihm konnte sie über C.G. Jung und meaningful coincidences reden, denn die Liebe zur Psychologie hatte sie schon damals. Sie hatte zu Haus bereits angefangen Freud zu lesen, immerhin beschäftigte der sich mit Traumdeutung und hatte ein dickes Buch darüber geschrieben, doch derartige Lektüren waren ein einsames Unterfangen in ihrem konservativen niederrheinischen Dorf. In Oberammergau kaufte sie sich in der Buchhandlung Theodor Hanika „Sprechstunden für die Seele“ von Eric Berne, „Spezialist für Psychiatrie und Psychoanalyse“, und las es während der Heimfahrt fast aus. Als sie etliche Jahre später als Psychiatrie-Übersetzerin an der Uni Köln das Kapitel über Bernes Transaktionsanalyse übersetzte, dachte sie sofort an Oberammergau und musste die ganze Zeit lächeln.

Gleich nach der Heimkehr erstand sie im einzigen Schreibwarenladen des Ortes ein dickes leeres Buch, orangerot, eine andere Farbe hatte der Laden nicht vorrätig, und begann, alles ihr Wichtige aufzuschreiben. Vor allem die Nachtgespinste, denn sie hatten es verdient. Mit wenigen Pausen führte sie danach regelmäßig Tagebuch, später schrieb sie auch direkt ins Handy (Träume sind am klarsten, wenn man gerade aufgewacht ist) oder in den Computer. Ihr englischer Freund war der erste, der sie Bee nannte, und der einzige, der ihr ein Buch über Bienen schenkte. Mit Zeichnungen, denn Bücher ohne Bilder sind keine richtigen Bücher. Sie nannte ihn P. oder Pitt und schenkte ihm Tütchen mit Pit Brause. Im Garten in Oberammergau zeigte er ihr das Bienenkapitel in „Winnie-the-Pooh“. You never can tell with bees. Zuerst verstand sie take statt tell, aber das störte ihn nicht. Als sie fat und thick verwechselte, korrigierte er sie sanft, und danach verwechselte sie es nie wieder. Aber dass sie statt jealous guy zuerst yellow sky verstand, verriet sie ihm lieber nicht.

P. liebte Bücher, las Gedichte und kannte sich aus in der Artusepik, gelegentlich entdeckte sie ihn gar als jungen Prinzen inmitten der Tafelrunde. Er kannte sie alle, Parzival, Herzeloyde, Igraine, Merlin und Morgane, den grünen Ritter, Lancelot und Guinevere, die schöne Isolde, den mutigen Tristan und den gehörnten Marke. Und er kannte König Artus. Höchstpersönlich. Aus nächster Nähe. Und Merlins Grab und die Weißdornhecke im Wald Brocéliande. Von P. hörte sie zum ersten Mal von Minnesang, den Winter- und Sommerliedern von Neidhard von Reuental, über die sie später eine Seminararbeit schreiben sollte, und erfuhr die wahre Bedeutung von muot und frôuwe. Bisher kannte sie nur das Nibelungenlied (in hochdeutscher Übersetzung) und hatte sich beim ersten Lesen heimlich ein winzig kleines Bisschen in den jungen Giselher verliebt. Schade, dass er auf so tragische Weise ums Leben kam. Am schlimmsten fand sie den gemeinen Betrug an der starken Brunhilde. Das war so demütigend, kein Wunder, dass sie den Kerl an den Wandnagel hängte. Siegfried und Gunther waren ihr herzlich egal. Später studierte sie wie P. Mittelhochdeutsch, besuchte im ersten Semester gleich ein Seminar über das „Nibelungenlied“, Uns ist in alten mæren wunders vil geseit, und wählte als Staatsexamensthema seinen „Tristan“. Dèr werlde und disem lebene enkumt mîn rede niht ebene.

P. war jemand, von dem man ungewöhnliche Begriffe, Wortspiele und Namen lernen konnte, seine Wortfindigkeit und seine erfrischenden Gedankensprünge waren überwältigend – er erfand sogar nicknames für ihre Eltern: Anna Pfirsich und Kurt Sühngut. Er war jemand, der ihr Möglichkeiten zeigte, die wirklich zu ihr passten, was neu und angenehm war, denn bisher erwarteten Eltern und Freund vor allem, dass sie klaglos fremden Wünschen entsprach. Volksschullehrerin sollte sie werden, was sie schon jetzt mit Panik erfüllte. Aber das ging schnell und sie konnte während des Studiums sogar zu Hause wohnen bleiben. Dabei wollte sie viel lieber richtig studieren und ganz schnell ganz weit weg! Hier war jemand, der ihr das zutraute, ihr sogar dazu riet, sie bestärkte in ihrem eigenen Gefühl. Jemand, der abgedreht und einfallsreich war, Doublethink beherrschte und in verspielten Schwüngen und kühnen Hakenschlägen dachte, auch wenn sie seinen Humor und seine Ironie zunächst so gar nicht verstand, weil sie das Leben viel zu ernst nahm. Hier war jemand, der zärtliche Vorsicht oder vielleicht auch vorsichtige Zärtlichkeit in ihr Leben brachte. Das war sie nicht gewöhnt. Jemand, mit dem sie sich Dinge traute, die sie sonst nie gewagt hätte. Rollenspiele waren ihr ein Graus, aber am Gruppenabend in Oberammergau spielte sie gemeinsam mit ihm ein altes Ehepaar, das schon seit Jahrzehnten zusammen war, was ihr erstaunlich leichtfiel und an seiner Seite sogar Spaß machte.

Hier war jemand, der ihr freundlich den Unterschied zwischen sympathy und pity erklärte, bei dem das Wort seltsam einen ganz eigenen, seltsamen Klang bekam und die Farbe der Frösche noch grüner wurde. Jemand, der ihr zaghaftes Englisch förderte, ein Muttermal auf dem linken Schulterblatt hatte, von einem Hauch Cedarwood umgeben war und dessen Haar nach Vanille, Nüssen und Karamell roch, was sie verwundert ihrem Tagebuch anvertraute. Ich weiß, dass es seltsam klingt, aber es stimmt! Jemand, der bei herzhaftem Gähnen einem jungen Fuchs mit spitzen kleinen Eckzähnen ähnelte und beim Lächeln manchmal zuerst den linken Mundwinkel hochzog. Jemand, der Rehe mochte und wach und munter war, so lange er genug geschlafen hatte, was im Normalfall offenbar sehr lange dauern konnte. Jemand, der wie sie zu lesen vermochte, was der Wind in den Sand schrieb. Sie sprachen über Max Frisch, Theodor Storm und Arthur Schnitzler, drei Schriftsteller, die sie später im Studium intensiv erforschen würde. Sie kannten, mochten und bedauerten Reinhard und Elisabeth, Hero und Leander, Romeo und Julia und Pyramus und Thisbe. Das hätte ihnen eigentlich schon damals zu denken geben müssen.

Neben P. stand sie eines Abends bei der Besteigung der Klammspitze in Waldes Schatten wie an des Lebens Rand. Und frühmorgens in der Brunnenkopfhütte sah sie ihn im Traum lächeln, während der Bergnebel dick und weiß durch das geöffnete Fenster ins Zimmer quoll. Es war so viel schöner, ihn schräg von oben aus der Höhe des Etagenbetts zu betrachten als einfach nur zu schlafen wie alle anderen, doch sie gab Acht, ihn nicht zu intensiv anzuschauen, denn das hätte ihn möglicherweise geweckt. Sie dachte, dass ihre blauen Augenblicke dazu wohl imstande sein könnten.

In Oberammergau fand sie den Kompass, der sie schon bald nach Köln und England führen sollte. Als sie nach fünfzig Jahren unerwartet ihre alten Briefe an ihn liest, denn er hat sie alle aufbewahrt (genau wie sie seine, und es sind viele!), überrascht sie die ferne ruhige, sichere, weiche Mädchenstimme. Auf den Umschlägen sind Zeichnungen von Kupferraupen, Blechratten, Bleivögeln, Goldmücken, Porzellanfischen und Traumkatzen zu sehen, gleich neben tiefsinnigen oder lustigen Sätze wie Les fleurs sont très contradictoires! oder Alle Sterne sind voll Blumen oder Pepsi Cola is best oder Setze mir ein Denkmal, cher, ganz aus Zucker, tief im Meer oder Ma rose, elle est unique au monde, denn sie war nicht nur das Reh, sondern auch die Rose, für die man verantwortlich war und die man vor Zugwind schützen musste. On ne voit bien qu’avec le cœur. Damals war das noch ein Geheimnis, das nicht jeder kannte. Und P. war der Fuchs, der gezähmt werden wollte, daher zähmte sie ihn. Zähmen, das bedeutet, sich vertraut machen. 

When the hour of departure drew near… “Ah”, said the fox. “I shall cry.” So geschah es. Doch das kam erst später. Da weinten beide. Der Fuchs und das Reh. Und der Frosch und die Rose. Und sogar die Bienen.

Der Abschiedsabend im leeren Aufenthaltsraum muss so geschmerzt haben, dass ihre zuverlässige Erinnerung ihn für alle Zeiten ausgeblendet hat. Nur nächtliches Gewittergrollen hinter Fenstern und seine ausgezogenen Schuhe vor der Tür sind ihr im Gedächtnis geblieben. An die traurige Zugfahrt dagegen erinnerte sie sich genau. Zu Hause stürzte gleich wieder die schwere alte Gegenwart auf sie ein, genau wie befürchtet, und Oberammergau erschien wie ein Traum. Zum Glück gab es Gegenbeweise: den kleinen Holzfuchs, das hölzerne Reh (inzwischen fehlt ihm ein halbes Bein), den winzigen Frosch, ein Tütchen Pit Brause, das Bild von König Ludwigs geschnitztem Himmelbett, in dem sie so gern einmal geschlafen hätte (hatten sie  tatsächlich gemeinsam auf Neuschwanstein in Ludwigs Schlafgemach gestanden?), Fotos, auf denen P. allein und mit ihr zu sehen war. Es gab ihn also wirklich. Oberammergau war nicht versunken. Und die Karte vom Jugendhaus, auf deren Rückseite in seiner unverkennbaren Handschrift mit den großen runden Unterlängen die vertrauten Goethe-Zeilen standen. Ob ihr damals das kühn ersetzte Wort überhaupt auffiel? Möglicherweise überlas sie es aus reiner Lyrikblindheit, weil sie das Gedicht bereits kannte. Oder hielt es gar für einen Flüchtigkeitsfehler. Was es natürlich keineswegs war. Sie hätte ihn besser kennen müssen. Nach einem halben Jahrhundert springt es ihr sofort ins Auge. „Über allen Gipfeln ist Ruh. Über den Wipfeln spürest du kaum einen Bauch.” Nicht mal den Hauch von einem Bauch.

“Did you actually mean to write Bauch?”  “Of course – bringing the great poem down to earth.” Of course. 

Fox (Nathan Anderson/unsplash)

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