Rooms and Stories – Flughafen Düsseldorf

July she will fly, wie bei Simon und Garfunkel. Kurz nach dem bestandenen Abitur geht sie in das einzige Reisebüro des Ortes und bucht für den 8. Juli einen Charter-Flug mit Dan-Air von Düsseldorf nach London Gatwick, obwohl ihr deutscher Freund gedroht hat, sich zu trennen, falls sie es wagen sollte. Sie kann es nicht ausstehen, wenn man sie zu etwas zwingen will, das werden die anderen nie verstehen. Immerhin hat sie P. seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen und er kennt ihre Seele besser als jeder andere. Er kennt sogar ihre Träume. Ich bin bei dir, du seist auch noch so ferne. Sie bucht. Ihr deutscher Freund trennt sich. Aber nicht für immer. Noch nicht.

Eigentlich hat sie schon Weihnachten fliegen wollen. Christmas in England must be totally different. Mit Mince Pies, Christmas Pudding, Pantomimes und Turkey, aber außer P. und ihr selbst waren alle dagegen. Zu Weihnachten muss die Familie zusammen sein, vor allem in Deutschland! Jetzt ist schon wieder Sommer, ein Jahr ist vorbei. Ob P. sich sehr verändert hat? So viele dicke Briefe haben sie einander in der Zwischenzeit geschrieben, haben sich immer besser kennengelernt, Gedichte und Geschichten ausgetauscht und füreinander ausgedacht, von Rose, Fuchs und Reh, Frosch und Brausekönig. Schliefst du mir am Halse ein, du in dem Schäfchenbaum, so wär ich ruhiger. Doch sehnsuchtsvoll zu schreiben ist nicht dasselbe wie einander zu sehen und zu umarmen. Und Träume verwehen schon am Morgen. Du schliefst am Strande ein. Ich auf dem Meere. Stiegen die Dünste auf, warn beide verschwunden.

Sie hat ihm Bilder gemalt, auf dickes und dünnes Papier, auf Umschläge, unter Geschriebenes. Wenn sie doch schöner zeichnen könnte! Alles würde sie malen, besonders sein Lächeln damals in der Brunnenkopfhütte. Sie malte die Stimme der Früchte, Perlenumrisse, Eisdornen, die Morgenfrühe. Doch es werden nur kleine Drachen und Glasschnecken, so zart, dass man sie auf keinen Fall anrühren darf. Sie haben feinste Antennen und spüren bereits, wenn man nur an sie denkt. Besonders im Dunkeln. Nacht ist wie ein stilles Meer.

Immer wieder Zweifel, sobald ein Brief länger über den Kanal braucht. „Du, bist du bitte ganz ehrlich in deinem nächsten Brief und sagst mir, ob ich kommen soll oder nicht?“ Für sehr umfangreiche Umschläge muss sie jedes Mal Nachporto bezahlen, doch das tut sie äußerst gern. „Willst du mich überhaupt noch sehen? Ich kam mir mit meinem langen Brief so vor, als ob ich mich dir aufdränge.“ Natürlich will er sie noch sehen. Er hat nur nicht so viel schreiben können, weil er in Cambridge wichtige Prüfungen bestehen musste. Im Mai hat sie beschlossen, dass sie außer Germanistik nun doch auch Anglistik studieren will, es hat auch ein ganz winziges Bisschen mit dir zu tun, und bekommt den gewünschten Studienplatz in Köln. Am Tag, als sie den Flug bucht, schreibt sie nachmittags an die ZVS nach Dortmund. Nie mehr Klosterschule. Ein Zimmer in einem Stundentinnenheim ist ihr schon so gut wie sicher. Vom Dorf in die Großstadt. Von Deutschland nach England. So viele Veränderungen.

Passenger Ticket and Baggage Check for use on Student Charter Flights. Es ist ihr erster Flug, noch dazu allein in ein fremdes Land mit einer anderen Sprache, sie ist gespannt und aufgeregt. Ihr Vater ist noch gespannter, dreht während der Fahrt nicht nur am Lenkrad und schafft es fast, dass sie den Flug verpasst. Dabei waren sie so früh losgefahren, obwohl es nicht weit ist nach Düsseldorf, aber Vater verfranst sich hoffnungslos. Zuerst kurven sie eine Stunde in Krefelder Vororten, dann umkreisen sie den Flughafen wie eine Fata Morgana. Vater sieht aus, als würde er jeden Moment explodieren, und sie muss ihn beruhigen. Später wird er ihr gestehen, dass er Angst hatte, die Maschine mit seiner Tochter könne abstürzen. Es hat mit dem Familienkrach am Vorabend zu tun, der Grund ist vergessen, die schlechte Stimmung nicht, danach plagt ihn sein Gewissen, weil er den unnötigen Streit angefangen hat. Und das am Vorabend einer wichtigen Reise! Wahrscheinlich war er da schon nervös. Irgendwie schaffen sie es in den Flughafen. Beim Abschied muss sie schlucken. Abschiede hassen sie beide. Besonders voneinander. An Bahnhöfen geht er später immer sehr schnell weg, damit er seine Tochter nicht im Zug davonfahren sehen muss. Abschiede sind für ihn kleine Tode. Für sie auch.

Es ist ihr erster Aufenthalt in einem Flughafen. Alles ist neu und aufregend, die riesigen lichtdurchfluteten hohen Räume, die unwirklichen Stimmen aus den Lautsprechern, die fremden brummenden, sirrenden, rauschenden Geräusche der Flugzeuge, die heftigen Geruchsmischungen aus Kaffee, Parfums, Deos, warmem Essen und Reinigungsmitteln. Und die vielen Wörter, die auf sie einprasseln. Check-In, Sicherheitskontrolle, Personenkontrolle, Gepäckkontrolle, Aufgabegepäck (der rote Koffer), Handgepäck (die braune Handtasche), Metalldetektor, Boarding, Gates, Lounge, Flugsteig, Startbahn. Schade, dass sie die neue Erfahrung mit niemandem teilen kann.

Sie kommt sich gleichzeitig mutig und verloren vor, wandert jung und vorsichtig umher, blickt neugierig in die Book Stalls und den Duty Free Shop, kauft nichts, berührt nichts, alles wirkt so aufgeräumt, ordentlich und geräumig. Und vor allem so riesig!

Ihre Reiselektüre erweist sich als Fehlschlag. Warum hat sie auch ausgerechnet „Die Judenbuche“ von Annette von Droste-Hülshoff mitgenommen! Allen Erwartungen zum Trotz verspürt sie immer noch keine Angst vor dem Fliegen, auch nicht später in der Wartelounge, denn sie liebt Höhen und kann es kaum erwarten, die Welt von oben zu betrachten. Wünsche wie die Wolken sind. Endlich wird sie den Himmel richtig sehen, vielleicht sogar Brechts besondere Wolke entdecken, sehr weiß und ungeheuer oben, daran kann man sie erkennen. Hoffentlich bekommt sie einen Fensterplatz. Obwohl es jetzt nicht mehr lange dauert, ziehen sich die Minuten zu Ewigkeiten. Heute Abend wird sie bei P. sein, sie werden am Fenster stehen und in die Londoner Nacht schauen. Den Mond sehen. Gedichte hätte sie mitnehmen sollen. Oder seine Briefe. Zumindest einen. Von den ganz dicken. Mit Nachgebühr. 

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2 Antworten zu Rooms and Stories – Flughafen Düsseldorf

  1. Wulf Arp sagt:

    ….gibt es da eine Fortsetzung?…..

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