Rooms and Stories – when thou art gone

Hands (Rémi Walle/unsplash)

Krefeld Hauptbahnhof, September 1973. Sie saßen auf der grauen Bank, ganz nah beieinander, hielten sich an den Händen und schwiegen. At the still point of the turning world. Die Luft um sie herum war voller Geräusche. Gongs und Ansagen aus Lautsprechern. Leise und laute Fahrgastgespräche. Schleifende Güterzüge. Quietschen, Rattern, Bremsen. Bahnsteig zwei, bitte Vorsicht. Der Schnellzug wird voraussichtlich fünfundzwanzig Minuten später eintreffen. Bitte einsteigen, Türen schließen, der Zug fährt sofort ab. Achtung, Bahnsteig drei, Zug fährt durch. Ihre Züge waren noch nicht da, etwas Zeit blieb ihnen. Sie rückten noch enger zusammen, sie legte den Kopf an seine Schulter, fühlte sich unglücklich und verzweifelt. Jetzt war es zu spät, sie konnte nichts mehr ändern. Sie hatte nicht erwartet, dass es so weh tun würde. Die beleibte alte Dame, die sich neben ihnen niedergelassen hatte, rief immer wieder ungeduldig nach einem Gepäckträger. Passagiere hasteten und schlenderten vorbei. Sein Zug hatte Verspätung, ihr Zug kam zu früh. At the still point of the turning world.

Trink Ludwigsbrause, das köstliche Getränk mit Pittgewürz, dachte sie. Trink Ludwigsbrause. Mit Pittgewürz. Pittgewürz. Pitt.

Ihr Zug fuhr zurück nach Kempen, seiner würde ihn zur Fähre bringen, um halb eins war er in Ostende, spätabends dann in London, wo man ihn vom Bahnhof abholte. Sie wussten nicht, wann sie einander wiedersehen würden, und waren betrübt, weil nichts, aber auch gar nichts, so schön und wunderbar gewesen war, wie sie es sich vorgestellt und erhofft hatten. Vor allem der letzte Abend. Fast hätten sie alles ruiniert und einander verloren.

Beim Abschiednehmen wollte sie ihn richtig küssen, doch es ging nicht. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten und hoffte, er würde es nicht merken. Beim letzten Lebewohl standen sie in ihren Zügen hinter den trüben Fenstern und hoben still die Hände. Noch konnten sie sich sehen. Noch. Bald nicht mehr. Plötzlich war ihr, als würde ihr Herz in tausend Stücke zerspringen. Alles hatte sie falsch gemacht. Er hätte nie herkommen dürfen, es war ein Fehler gewesen, doch sie hatte ihn unbedingt wiedersehen wollen und alles riskiert. Und jetzt war es zu spät. Am Morgen hatte er ihr noch ein kleines Geschenk gegeben und ein Gedicht in einem Briefumschlag. „Aber das darfst du erst lesen, wenn ich weg bin.“ Music when soft voices die.

Schon ruckte ihr Zug los und sie sah ihn nicht mehr. Die ganze Zeit auf der Bank hatte sie sich beobachtet gefühlt, genau wie in den Tagen zuvor im Dorf, und tatsächlich, ihr Gefühl hatte sie auch diesmal nicht getrogen. Selbst auf dem Krefelder Bahnhof gab es jemanden, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Ein großes blondes Mädchen aus der Parallelklasse. Sie befand sich nun im selben Abteil und grinste wissend, hatte aber genug Anstand, sie nicht zu stören. Morgen würden es wohl auch die anderen erfahren, doch das war ihr egal. Rose leaves, when the rose is dead.

Bockwürste entstehen aus toten Eidechsen, dachte sie. Aus toten Eidechsen. Toten Eidechsen. Eidechsen. Echsen. Nicht aus Rosen. Ich bin für meine Rose verantwortlich.

Zu Hause angekommen, ging sie gleich auf ihr Zimmer. Nur Chris, den kleinen getigerten Kater, nahm sie mit. Er war der Einzige, der sie ablenken konnte. Und das Buch, das P. ihr geschenkt hatte: „Cider with Rosie“ von Laurie Lee. Vorn hatte er ein Rosengedicht für sie hineingeschrieben. Die Rose blüht, ich bin die fromme Biene. Es war falsch gewesen, ihn hierher kommen zu lassen, so schrecklich falsch! In das Dorf, in dem sie jeder kannte, in dem nur wenige Straßen weiter ihr deutscher Freund wohnte, der leider allgegenwärtig war. Das Dorf, in dem jeder alles sah. Sie hatten keine Chance gehabt. Keinen Moment lang hatte sie sich frei gefühlt, alles troff vor Erinnerungen, überall lauerten Spitzel. Natürlich auch in der Eisdiele, auf die sie sich so gefreut hatte. Dort hatten gleich zwei Klassenkameradinnen hinten in der Ecke gesessen, eifrig tuschelnd, die eine hatte gar mit dem Finger auf sie gezeigt. Alles in ihr verspannte sich. Sie hatte ihren englischen Freund mitten ins Feindesland kommen lassen, wo er arglos und verliebt umhergegangen war, ohne die unzähligen Blicke und Erinnerungen auch nur zu bemerken, die sie so quälten. Hier war kein Zentimeter unbelastet, nicht mal in der Natur. Auch nicht in den Hinsbecker Höhen und an der Niers. Vor allem nicht im Gelände am Schwimmbad. Tausendmal war sie schon dort gewesen. Aber mit jemand anderem.

Als sie am Abend ihren deutschen Freund traf, wurde sie mit Klagen und Vorwürfen überschüttet. „Du liebst ihn wohl immer noch!“ Er war außer sich. „Du musst endlich den Kontakt mit ihm abbrechen!“ Sie war zu müde, um sich zu verteidigen, ihr war nur noch schlecht. Er hatte trotz ihrer Vereinbarung angerufen, als P. da war, hatte sie sogar von der Schule abgeholt und war mit ihr ins Feld gefahren. Ihr Gewissen war so verwirrt, dass sie nicht mehr gewusst hatte, wen sie mit wem betrog. Falls Liebe denn überhaupt Betrug sein konnte. Und es war ja auch nichts passiert.

And so my thoughts when thou art gone. Ich habe den Falschen verraten, dachte sie. Ich habe einen schrecklichen, unverzeihlichen Fehler gemacht. Und jetzt ist er weit fort und entfernt sich mit jeder Minute noch mehr von mir.

Erst in ihrem Zimmer ging es ihr besser. „Ich habe ihn sehr lieb gehabt, als er so still auf meinem Bett saß, die Beine auf dem Tisch, den Block auf den Knien, die Augenlider fast geschlossen, ganz konzentriert“, schrieb sie in ihr Tagebuch. „So schön sah er aus.“ Er hatte ihr bei den Englischhausaufgaben geholfen, eine Zusammenfassung der Kurzgeschichte „Désiree’s Baby“ für sie geschrieben. With no offspring of their own, Mr. and Mrs. Valmondé  fing es an. Das Wort offspring kannte sie bis dahin noch gar nicht. Sie würde den ganzen Text auswendig lernen und fing gleich damit an.

Spätabends saß sie unten im Wohnzimmer neben dem schwarzen Telefon und wartete auf den Londoner Anruf, war erleichtert, dass ihrem englischen Freund nichts passiert war, stellte sich vor, wie er gemütlich auf dem Sofa saß, die Farbe wusste sie nicht, vielleicht braun oder dunkelblau, und starken Tee mit Milch trank. Danach wurde sie ruhiger. Sie würde ihm schreiben, das war sicher. Und er würde ihr schreiben, das hatte er versprochen, sie freute sich schon auf die Briefe. Hoffentlich waren es viele, viele, viele. Zu Weihnachten oder auch erst im nächsten Jahr würde sie zu ihm nach England fliegen, egal, was alle sagten. Nichts würde sie abhalten. Gar nichts. Und dann, weit weg von ihrem Dorf, würden sie alles richtig machen.

gone (Lou Baier/unsplash)

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Eine Antwort zu Rooms and Stories – when thou art gone

  1. Wulf Arp sagt:

    sehr romantisch traurig…..

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