Das Kind braucht Luftveränderung (8) – Rieke

Kinder (Annie Spratt/unsplash)

Der Beitrag meiner Freundin Effi zu ihrer „Kinderverschickung“ als Kleinkind nach Bonndorf hat inzwischen viele ehemalige „Bonndorfer Kurkinder“ erreicht, vor kurzem auch Rieke, die ihre eigenen Erinnerungen an Haus Johnen erzählt und mir erlaubt hat, ihren Brief in meine kleine Serie „Das Kind braucht Luftveränderung“ aufzunehmen.

Das Thema hat erst vorige Woche wieder einen Schub bekommen durch einen längeren Bericht im  Fernsehen und Radio (in dem auch mein „Kurort“ Niendorf vorkam) zum frisch erschienenen Buch von Lena Gilhaus „Verschickungskinder: Eine verdrängte Geschichte“. Langsam lichtet sich das Dunkel aus verlorenen (!) und verschwundenen (!) Akten, Nichtwissenwollen und Leugnen. Inzwischen weiß man, dass es sogar Todesfälle in einigen Heimen gegeben hat. 

Ich muss gestehen, dass mich bei den Berichten immer noch schaudert. Auch beim Lesen von Riekes Brief. Plötzlich habe ich wieder die klare Erinnerung an die eklige Schokoladenpuddingsuppe, mit der man uns so oft malträtiert hat. Einen ganzen Suppenteller randvoll mit purer brauner Scheußlichkeit! Auch die welken Salatblätter mit Ravioli hatten wir auf dem Teller. Wer hat sich bloß diese schauderhaften Gerichte ausgedacht, mit denen wir armen Kinder unbedingt zunehmen oder abnehmen sollten? Wir waren ja immer „falsch“, egal, wie wir aussahen. Zu dick, zu dünn, zu blaß, zu wild, zu kräftig, zu schüchtern. Millionen Kinder wurden künstlich für krank und kurbedürftig erklärt. Jahrzehntelang war ich der Meinung, als Kind „zu zart“ gewesen zu sein. So zart, dass ich in Kur musste. Ich brauchte dringend „Reizklima“, gute Seeluft. Und wir waren die Generation, die sich nicht gewehrt und nicht beklagt hat. Wir waren ja Schlimmes gewöhnt.

Der Ekel vor vielen Speisen ist mir bis heute geblieben. Bei mir sind es vor allem Sülze, noch jetzt schüttelt es mich, Büchsenmilch (als Sauce über dem Nachtisch) und der für meine Nase irgendwie schmutzig-erdige Geruch, der aus den riesigen Blechkannen mit dünnem „Kinderkaffee“ aufstieg. Davon wurde mir im Heim jeden Morgen und Abend schlecht. Ich habe mir schon überlegt, ob ich es mir antun soll,  mir dieses Gebräu noch einmal herzustellen und daran zu riechen. Aber diesmal wohl dosiert und freiwillig, als Erinnerungspforte sozusagen, wer weiß, was mir dann noch alles einfällt. Trinken werde ich es bestimmt nicht! 

Riekes Erinnerungen – Haus Johnen, Bonndorf

„Liebe ehemalige Verschickungskinder,

wie froh ich doch bin, endlich diese Seite gefunden zu haben… Menschen, die auch als Kurkind im Haus Johnen in Bonndorf waren. Die Berichte über die Örtlichkeiten im Haus haben geholfen, bei mir einige Erinnerungstürchen etwas weiter zu öffnen. Danke dafür. Trotzdem sind meine Erinnerungen insgesamt leider auch immer noch sehr bruchstückhaft.

Ich war mit 9 oder 10 Jahren im Haus Johnen, irgendwann zwischen 1973 und 1974. Es gib bei der DAK und in der Familie leider keine Unterlagen mehr, aber es muss in diesem Alter gewesen sein, denn ich war bei der Gruppeneinteilung an der Grenze zwischen den großen und den kleinen Kindern.

Bei den Kleinen

Es wurde die Gruppe der kleinen Kinder, die zum Spielen ständig mit Bauklötzen lärmend, aber ansonsten fast still im Speiseraum blieb und kaum rauskamen. Stundenlang habe ich als viel älteres Kind in dieser „Spielzeit“ sinnentleert allein am Esstisch gesessen. Ich erinnere mich noch genau, wie ich mich am zweiten Tag mutig bei der Aufsichtstante über die Langeweile beschwert habe und die Gruppe wechseln wollte. Bekommen habe ich nur Papier und Stifte zum Malen. Ich fühle heute noch die verzweifelte Wut in mir und wie ich versucht habe, ja nicht zu weinen…

Ich erinnere mich an „Heilgymnastik“ im Garten mit Blick zum Haus, ohne dabei Laufen zu dürfen. Rumpfbeugen kann ich bis heute nicht, auch wenn Sie mir „helfen“ wollten, die Hände auf den Boden zu kriegen. Es hat sehr wehgetan…

Ravioli und welkes Salatblatt

Ich erinnere mich an etwas Ähnliches wie Ravioli mit welkem Salatblatt. Mir war übel vom Geruch und dem ekeligen Aussehen. Im Essraum war schon lange kein anderes Kind mehr. Es wurde dunkel. Ich saß wie gelähmt auf der Bank am Tisch gefangen vor dem Teller. Kein Ausweg…  laute Drohungen… Blackout. Ich erinnere, wie ich mich auf Klo übergebe und sofort spüle und dann hinterher die tiefe Erleichterung und ein Glücksgefühl, das sich der Magen zu beruhigen beginnt… Blackout… Ich erinnere mich sehr verschwommen an einen kleinen dunklen Abstellraum oder Verschlag mit Holztür, in dem ich von einem Mann eingesperrt wurde… Blackout…

Außerhalb des Hauses erinnere ich eine Fahrt zum Schwimmbad, aber nur die Tür in die Schwimmhalle und ein kleines Stückchen einer Wanderung auf dem Philosophenweg – alle Kinder schön geordnet an den Händen gefasst.

Ein Junge hatte Geburtstag. Sein Postpaket hat einfach eine der Tanten geöffnet, das Geschenk noch verpackt einbehalten (bis zu Abfahrt) und die süßen Sachen an alle verteilt. Einige Kinder wollten die gestohlene Schokolade nicht. Die hat die Tante dann gegessen.

Mein Bett stand im Schlafraum gleich links an der Wand bei der Tür. Nach dem „Ravioli-Tag“ wurde ich morgens als krank eingestuft. Ich musste im Bett bleiben und durfte sogar mein mitgebrachtes Buch lesen. Aber ich hatte nach den ganzen schlimmen Erlebnissen einfach nur noch Angst… den ganzen Tag allein im Zimmer mit ständig wachsamen Ohren, ob jemand Böses wiederkommt… Nur nicht einschlafen, um nicht überrascht zu werden… Es waren mindestens 2-3 Tage. Irgendwann ist auch tatsächlich ein Arzt gekommen… Diagnose unbekannt.

Was ich nicht erinnern kann: Die genauen Örtlichkeiten im Haus, Gesichter, Namen, der übliche Tagesablauf, andere Kinder. Wie lange war ich überhaupt da? Zwei Wochen? Länger?

Rettung

Denn ich hatte Glück… Ich habe es tatsächlich geschafft, mindestens zwei Briefe über die schrecklichen Zustände im Haus Johnen mit dem Hilfeschrei „Holt mich sofort hier raus!“ nach Hause zu schicken. Ich weiß sicher, dass ich Sie im Essraum und vermutlich während der „Spielzeit“ auf meinem Malpapier geschrieben habe. Vielleicht war die Gruppe mit den kleinen Kindern am Ende sogar meine Rettung. Nur wie ich es geschafft habe, sie abzusen-den, bleibt ein großes Rätsel.

Meine Eltern haben mich nach den Briefen tatsächlich sehr schnell und gegen alle Widerstände der DAK und des Kurheims vorzeitig in Bonndorf mit dem Auto abgeholt. Anschließend mussten sie sich dann monatelang gegen horrende Kostenrückerstattungs-forderungen der DAK wegen „eigenmächtigem Kurabbruch“ wehren. Der Schriftverkehr und meine Briefe sind leider nicht mehr auffindbar. Die DAK hat nach 30 Jahren alle Schreiben vernichtet.

Für mich ging das Leben zu Hause danach einfach weiter, als sei nichts geschehen. Eine tatsächliche Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse im Haus Johnen gab es damals üblicherweise nicht. Heute bin ich weiter, aber die Erinnerungslücken und Auswirkungen auf mein ganzes Leben sind immer noch zu groß und spürbar, um mit diesem unmenschlichen Umgang Frieden machen zu können.

Rückblick

2007 war ich zur Spurensuche in Bonndorf und bin noch einmal den Philosophenweg gegangen. Als ich auf einer Bank Pause gemacht habe, bin ich mit einem älteren Herrn ins Gespräch gekommen, der damals Arzt in Bonndorf war. Er sagte, dass sich die Kurheime tatsächlich alle kaum voneinander unterschieden hätten. Es sei eine schlimme Zeit gewesen und oftmals wurden auch die Ärzte viel zu spät von den Heimleitungen gerufen, wenn Kinder krank oder verletzt waren.

Es ist wichtig, dass wir damaligen Kurkinder lesen können, was vielen von uns in der ein oder anderen Weise passiert ist. Und je mehr Geschichten erzählt werden, desto einfacher wird es für uns Kurkinder hoffentlich zu begreifen, dass uns die schrecklichen unmenschlichen Dinge nicht passiert sind, weil wir schlechte Kinder waren. Wir sind nicht selbst schuld an dem, was wir in Kindererholungsheimen wie dem Haus Johnen erleben mussten.

Es war das Kinderkurdenken der damaligen Zeit und wir entsprachen einfach nicht der gewünschten Sorte Kind, das nie vor Heimweh weint, nie auf Klo muss, nie krank wird, auf Kommando glücklich einschläft, jedes billig schreckliche Essen mit Hochgenuss isst, jede angeordnete Aktivität gehorsam begeistert bejubelt und dick-gesund wieder fröhlich nach Hause fährt.

Ich bin sehr froh, dass ich mit diesem Zeitzeugen sprechen konnte. Aber es reicht nicht.
Mir fehlen noch Puzzleteile. Vielleicht hat jemand noch Fotos oder genauere Beschreibungen vom Heim. Ich würde mich darüber sehr freuen! Ich wünsche Euch alles Liebe und Gute.
Herzliche Grüße
Rieke“

Kinder (Jamie Taylor/unsplash)

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3 Antworten zu Das Kind braucht Luftveränderung (8) – Rieke

  1. Birgit sagt:

    Hallo Rieke ,ich war mit ca 6 ,es muss im Winter/Frühling 1974 gewesen sein ,überall lag Schnee in Bonndorf. Ein paar Sachen sind mir in Errinnerung geblieben. z.b. Bratkartoffeln mit süßer Quarkspeise und Honigbrötchen. Vielleicht magst Du mich mal anschreiben ? LG Birgit

  2. Arnulf Blau sagt:

    Hallo,
    ich war im Sommer 1970 im Kinderheim Johnen. Ich wurde dorthin geschickt, weil ich viel zu dünn war. Ich habe eigentlich ganz gute Erinnerungen an die freundlichen Betreuerinnen. Die versuchten mich mit allerhand lustigen Tricks zum Essen zu überreden. Tja, mit dem Essen, das war allerdings so eine Sache. Es gab jeden Tag Milchsuppe, die hab ich gar nicht gemocht. Aber die tollen Wanderungen und alles andere war echt ok. Ich hab sogar noch ein Bild von unserer Kindergruppe.

  3. Hollerbach Iris sagt:

    Liebe Rieke und Birgit,
    auch ich war im Kinderkurheim Johnen in Bonndorf, von Februar bis März 1975, für 6 Wochen. Ich bin zufällig auf eure Kommentare gestoßen. Erinnerungen an die Zeit habe ich kaum noch, aber ich habe einen Eintrag in meinem Poesiealbum von damals, von der zukünftigen Frau des Juniorchefs. Wenn ihr wollt, schicke ich euch gerne ein Bild von dem Poesieeintrag von Moni und das Foto von Moni. Schreibt mich sehr gerne an.
    Liebe Grüße Iris aus Karben im Wetteraukreis.

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