Rooms and Stories – Über den Wolken

Der erste Flug nach London Gatwick sollte ihr für immer im Gedächtnis bleiben. Sie war aufgeregt, doch auf angenehme Weise, denn schließlich warteten auf sie lauter Abenteuer, ihr Freund P., ein neues Land, die weite Welt! Schade, dass er sie nicht vom Flughafen abholen konnte. Doch er hatte versprochen, sie in der Victoria Station zu erwarten, einem Ort, den sie nach diesem Tag für immer mit ihm verbinden würde, denn dort begrüßten und verabschiedeten sie sich später oft, auch wenn sie ihn in Cambridge besuchte.

Im Flugzeug sicherte sie sich einen Fensterplatz und bekam gleich zwei männliche Nachbarn, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Der eine war jung und entspannt, der andere mittelalt und verkrampft. So spannend hatte sie sich das Fliegen nicht vorgestellt, vor allem den Start, der sie mit unsichtbarer Hand in den Sitz drückte und ihr die Ohren brausen und zuploppen ließ, fand sie wunderbar. Sie kam sich vor wie in einem gigantischen Riesenrad, das sie immer höher trug. Wie angenehm, die Verantwortung für ihr Schicksal völlig in die Hände des Piloten abzugeben, hier oben gab es nichts mehr, das sie tun konnte. Die Flugbegleiterinnen vollführten ihr Luftballet und sie las gehorsam die Broschüre mit den Sicherheitsmaßnahmen.

Bald konnte sie auf winzige Häuser und Kirchen, klitzekleine Autos und Schiffchen hinuntersehen, die Welt schrumpfte auf Miniaturengröße und verschwand schließlich gänzlich, als sie ein wenig schaukelnd durch die Wolkenschichten stießen. Da war sie, Reinhard Meys grenzenlose Freiheit, ohne Ängste, ohne Sorgen. Schon bald wurde es gleißend hell und sie glitten über einem Meer aus steif geschlagener Sahne und fluffigem Eischnee. Sie stellte sich vor, auf einer der großen Wattebäusche zu liegen, in Weichheit zu versinken und nur noch zu träumen. Bis in alle Ewigkeit. Ab und zu gab es Wolkenlöcher, durch die man weit, weit unten bunte Landschaften oder Wasser sah. Es gab auch ein paar Turbulenzen, bei denen ihr Magen hüpfte, daran musste man sich erst gewöhnen.

Der junge Mann direkt neben ihr war ein gesprächiger,  freundlicher Vielflieger und hieß Horst. Sie unterhielten sich angeregt über Bücher, Filme und England. Bis sie ihm ihren heißen Tee über die Hose schüttete. Sie hatte nicht geahnt, dass ihr Getränk so heiß sein würde, und reflexartig die Tasse fallen lassen. Just in diesem Moment war das  Flugzeug kurz abgesackt, hatte die Tasse überraschend zur Seite geleitet, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Horst stieß einen überraschten Schrei aus, der seinen Nebenmann endgültig in Panik versetzte. Das Malheur war ihr entsetzlich peinlich, doch Horst hatte sich schnell von seinem Schrecken und dem Verbrühungsschmerz erholt und meinte, dass man den Fleck auf der schwarzen Hose bald nicht mehr sehen würde, so dass alles wieder gut war. Seinem Nebensitzer war der Schock allerdings so sehr in die Glieder gefahren, dass er begonnen hatte, leise zu beten. Offenbar war er katholisch, denn es waren sehr vertraute Gebete. Vor allem das „Gegrüßt seist du Maria“. Er schaukelte dabei leicht mit dem Oberkörper, vielleicht wollte er seinen Worten damit mehr Kraft verleihen. Horst warf ihr einen vielsagenden Blick zu, und sie war froh, dass sie nicht unmittelbar neben dem Beter saß. Angst war ansteckend, wie sie aus Erfahrung wußte. „Vielleicht hört ihn ja jemand da oben“, flüsterte Horst. „Nah genug sind wir ja. Keine Ahnung, welcher Heilige für Flugreisen verantwortlich ist.“ Ein interessantes Thema. „Wahrscheinlich Christophorus“, vermutete sie. Dass Gott höchstpersönlich sich die Mühe machen würde, ihr Flugzeuge zu beschützen, konnte sie sich nicht vorstellen. Das war eher Aufgabe des Piloten, der sich zwischendurch mit sexy Stimme immer mal wieder meldete und angab, auf welcher Höhe sie sich befanden und welche Wetterlage in London zu erwarten war. Es war ein ziemlich warmer Tag. Schließlich packte sie „Die Judenbuche“ weg und konzentrierte sich nur noch auf die Wolken, die Stimme von Horst und die Sicherung ihrer Teetasse. „Ich hab keine Ahnung, wie ich von Gatwick nach Victoria kommen soll“, hörte sie sich plötzlich sagen, und ihre Stimme klang ziemlich besorgt. „Kein Problem, „sagte Horst. „Ich fahr da auch hin. Und ich bleib bei Ihnen, bis Sie Ihren Freund gefunden haben“. Und genau das tat er.

Bei der Ankunft in London fühlte sie sich wieder unwirklich wie in einem Film. Sie verließ den Bauch des großen roten Vogels und landete in den Hallen von Gatwick Airport, Horst kannte zum Glück den Weg und nahm sie mit in den Bereich, wo die Koffer kreisten. Eine Flut von Stimmen, Farben, Bildern und Geräuschen prasselte auf sie ein. Englische Bahnhöfe und Züge rochen ganz anders als in Deutschland. Vor allem der stechende Geruch von Kreosot war gewöhnungsbedürftig, auch wenn sie die Bezeichnung damals noch nicht kannte. Die Züge sangen hier in einem anderen Takt, es klang wie Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick, Tschi-kitti-tick. Sie schaute aufmerksam aus dem Fenster und beobachtete die anderen Passagiere.

„Englische Schornsteine sehen aus wie kleine Mülltonnen mit komischen Deckeln und Dächern, und besonders in London gibt es davon ziemlich viele. Die meisten männlichen Hosenbeine haben ziemlich Hochwasser. Überhaupt gehen englische Männer irgendwie seltsam, ein bisschen, als ob sie vorwärts fallen würden, und lassen dabei die Arme baumeln. Viele Frauen haben ziemlich hohe Stimmen. Die Menschen in den Zügen starren entweder auf ihre Füße oder in ihre Zeitungen oder Bücher. Wenn man versucht, sie anzusehen, schauen sie irritiert weg oder scheinen zu überlegen, ob irgendwas mit ihnen nicht stimmt. Zum Beispiel, ob sie vergessen haben, den Reißverschluß ihrer Hose zuzumachen. Vielleicht ist es hier unhöflich, sich direkt in die Augen zu sehen. Das krasse Gegenteil von Paris. Londoner sprechen äußerst schwer verständlich, zumindest für mich“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Sie kannte den Londoner Dialekt noch nicht, der ihr später so vertraut werden würde. Cockney. Sounds like home. Blimey. Apples and Pears. Have a butcher’s. Haven’t seen you for donkeys.

Die Fahrt von Gatwick nach Victoria dauerte ungefähr dreiviertel Stunde. Zusammen mit Horst verließ sie den Zug, doch der Bahnsteig war leider peterleer. Wo war er bloß? Sie versuchte, sich keine Sorgen zu machen, aber für einen kurzen Moment war ihr sehr mulmig. Doch dann sah sie ihn.

Ihr englischer Freund saß auf dem völlig falschen Bahnsteig neben einer völlig fremden Reisetasche, die zu bewachen er sich offenbar bereit erklärt hatte, schaute in die falsche Richtung und sah sie nicht kommen, was ihr die Möglichkeit gab, ihn genüßlich zu überraschen. Sie verabschiedete sich von Horst, der noch eine Weile in der Ferne stehen blieb und ihr freundlich nachwinkte, pirschte sich langsam an P. heran und blieb schließlich genau vor ihm stehen. „Na, du?“ sagte sie. Zum Glück hatte er sich nicht sehr verändert und freute sich auch ganz offensichtlich, sie zu sehen. Sein Haar war etwas länger als beim letzten Treffen und ringelte sich zu ihrer Überraschung ein wenig im Nacken.

Zuerst waren sie beide verlegen, aber das war normal nach dem langen Fernsein. Hand in Hand gingen sie zum Taxistand. Zum ersten Mal saß sie in einem Black Cab. „Sehr unbequem, hat offenbar keine Stoßdämpfer, dafür eine Trennscheibe aus Glas, aber trotzdem schön“, schrieb sie in ihr Tagebuch. Zum ersten Mal erblickte sie Piccadilly Circus und Lord Nelson auf seiner einsamen Säule. Schließlich betrat sie an der Hand ihres Freundes Charing Cross Station, den Bahnhof, der ihr später in ihrem englischen Leben so vertraut werden würde und in dem sie so oft stundenlang warten musste, weil ausgerechnet die Züge nach Gravesend dauernd ausfielen. Due to staff shortages. Due to weather conditions. Due to strikes. Due to snow. Due to something or other. 

Viele Ängste kenne ich nur allzu gut, doch Flugangst gehört nicht dazu. Seit jenem ersten Gatwick-Flug genieße ich jede Minute in der Luft und bin einfach nur glücklich, dass ich hoch über den Wolken so entspannt sein kann. Allerdings ändert sich mein Wohlfühlfaktor rapide, wenn ich keinen Fensterplatz habe. Die Flüge in die USA und zurück waren allesamt unschön, ich saß eingezwängt in der Mitte des Flugzeugs und verspürte nur Langeweile und keinen Hauch von Flugfreude. Nur zweimal ist mir im Flugzeug schlecht geworden. Beim ersten Mal, weil die Person hinter mir sich unablässig übergeben musste, beim zweiten Mal, weil ich zwei Stunden rückwärts auf einem der Stewardess-Sitze verbringen musste. Mein eigentlicher Platz war doppelt gebucht und die dort sitzende äußerst dominante Dame machte keinerlei Anstalten, unseren Sitz zu räumen. Noch schlimmer als das Rückwärtsfliegen war die Tatsache, dass ich den anderen Passagieren beim Essen zusehen musste. Ich hatte echt Pech. Der Mann gegenüber salzte und pfefferte sein Tablett großzügig und schob es dann angeekelt von sich. „Den Fraß hier kann ja wohl keiner essen!“ maulte er laut und verdarb mir damit endgültig den Appetit. Und den Flug gleich mit.

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