Winnetou und Pocahontas

Stämmelager 2010 (BFL)

Die Black Lives Matter-Bewegung, die nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA sehr an Fahrt aufgenommen hat, konnte schon einiges bewirken, unter anderem auch ein vermehrtes Nachdenken über alte Klischees und eingefahrene (meist negative, kolonialistische, sexistische, patriarchalische) Denkmuster. Dies betrifft nicht nur Persons of Color, sondern alle „ethnic minorities“, also auch die amerikanischen Ureinwohner, die American Indians bzw. Native Americans. Heute bezeichnet man sie wohl politically correct als indigene Völker. Seit ihrer „Entdeckung“ durch Kolumbus, der sie „los Indios“ nannte, wurden sie umgebracht, vertrieben, ausgebeutet, gedemütigt und diskriminiert. Sie waren die Wilden, die Heiden, die Fremden. Doch sie wurden auch zur perfekten Verkörperung weißer Wunschvorstellungen, standen für Würde und Tapferkeit, für Schönheit, Stolz und Naturnähe. Beim Überdenken meiner eigenen (sehr deutschen) Denkmuster und Vorurteile gerate ich in emotionale Verwirrung.

In Wildwestfilmen wurden „Rothäute“ oft als blutrünstige Wilde dargestellt, die schreiend im Kreis reiten, Tomahawks schwingen, mit Pfeil und Bogen waghalsig an Pferden hängen und sich dabei von gut verschanzten und hervorragend bewaffneten Cowboys reihenweise abknallen lassen. Sie überfallen Siedlungen, setzen sie in Brand (gern auch die Lager von feindlichen Stämmen), skalpieren und massakrieren ihre Feinde, binden Bleichgesichter und andere Gegner an Marterpfähle und lassen sie in der Sonne schmoren, schänden oder entführen Frauen, stehlen Pferde und torkeln nach dem Genuss von Feuerwasser, das sie ganz schlecht vertragen, besoffen durch die Gegend. Das sind die „bösen Indianer“, hinterlistig und gemein, brutal und gewalttätig oder schwach und feige. Sogar Mark Twains Injan Joe ein unangenehmer Typ, für den man auch nach seinem Ende in der Höhle wenig Mitleid verspürt. Das sind die „bösen Indianer“.

Somewhere in Arizone (BFL)

Wie anders ist der deutsche Blick auf die Native Americans. Bis heute sind viele von uns geprägt von Winnetou und Nscho-tschi, also eigentlich von Karl May, der den edlen Häuptling um 1875 erfunden hat. Zuerst hieß der tapfere Apatsche noch Inn-nu-woh. Die Jüngeren kennen inzwischen auch die „Indianerprinzessin“ Pocahontas, allerdings vor allem in der Disney-Version mit Romanze, Waschbär und Kolobri. Bei Pocahontas bin ich übrigens selbst vor einiger Zeit schwach geworden und habe mich sehr über die Pocahontas-Barbie gefreut, die mir unsere Enkel geschenkt haben. „Die Oma steht voll auf Pocahontas!“ Stimmt, und dafür hat sie sogar persönliche Gründe, von denen die Enkel nichts ahnen. In den Winnetou-Filmen gibt es übrigens auch viele „böse Wilde“, die den grausamen Rothäuten in den amerikanischen Wildwestfilmen in nichts nachstehen, vor allem wenn sie zu den Stämmen der Sioux, Oglala oder Komantschen gehören.

Indianer sind in Deutschland extrem positiv „besetzt“, werden seit langem romantisiert, verklärt und bewundert. Bei uns herrscht ein ausgeprägter „Indianerenthusiasmus“. Während die Ureinwohner in den USA diskriminiert und fast ausgerottet wurden, wurden sie hier schon früh als „edle Wilde“ verehrt, nicht zuletzt durch die Völkerschauen von Buffallo Bill, der mit seiner Indianertruppe viele deutsche Städte besuchte. Und dann kam auch noch Winnetou! Ich muss gestehen, dass er auch zu meinen Kindheitshelden gehörte. Gemeinsam mit Odysseus und dem „Mann ohne Colt“ aus der gleichnamigen Fernsehserie. Das war der Zeitungsverleger Adam MacLean, gespielt von Rex Reason, von dem ich sogar ein Autogramm besitze, genau wie von Pierre Brice (als Indianer). Adam MacLean kämpfte mit Worten statt mit Kugeln. Das gefiel mir, für Waffen hatte ich noch nie viel übrig. Meine Kinderfreundin Kornelia und ich träumten davon, in die USA auszuwandern und Wolfsforscherin (und  Tierärztin) zu werden. Vor allem aber wollten wir bei und mit den Indianern leben. Egal wo, auch im Reservat. Was Rollenverteilung und Heiraten betraf, machten wir uns keine Gedanken. Wenn es denn unbedingt sein musste, konnten wir uns den Mann teilen und zu dritt leben. So lange er unsere Wölfe akzeptierte.

riding free

In der Fantasie sahen wir uns auf sattellosen Pferden am Rand tiefer Canyons und über endlose Plains preschen. Frauen und Männer waren in unserer Vorstellung schon früh gleichberechtigt, denn wir hatten beide starke Mütter und Großmütter. Kornelia wollte vor allem Schamane werden. Nicht Schamanin, sondern Schamane. Sogar ihre schwere Krankheit hat sie später in diesem Sinne angenommen. Als schmerzhafte, unausweichliche, tödliche Initiation. Ein Schamane muss sterben, bevor er wiedergeboren wird und mit der Welt der Ahnen und Götter in Kontakt treten kann. Ich hoffe inständig, dass sie es geschafft hat. Vielleicht ist sie jetzt wirklich Schamane. Oder streift mit den Wölfen durch die Wälder oder gleitet mit den Adlern über die Schluchten. Das stelle ich mir gern vor und finde die Vorstellung tröstlich. Wenn sie mir in meinen Träumen begegnet, geht es ihr gut. Sie kann wieder lachen und sprechen, rennen, springen und tanzen, sie kann sich mühelos bewegen und wundert sich sehr, dass mich das verwundert.

In Berlin war sie während des Studiums mit Indianern befreundet und hat von ihnen viel über das Räuchern und über alte Mythen gelernt. Über ihrem Bett hing ein Traumfänger (über meinem auch). Sie las alles über Indianer, was sie finden konnte, auch den Riesenband „5.000 Nations“. Sie kannte die eindrucksvollen Portraits vom Ende des 19. Jahrhunderts, ihre Lieblingsfilme waren „Zwei Cheyenne auf dem Highway“ und „Little Big Man“, sie kannte die komplizierten Namen von Häuptlingen und Medizinmännern und gab ihren Katzen indianische Namen. Besonders die Lakota Sioux hatten es ihr angetan. Sie las Krimis und Kinderbücher, die von Indianern geschrieben waren. Am liebsten von Lakota-Frauen. Dass ihr indianisches Totemtier der Biber war, wussten wir schon als Kinder. Als sie älter wurde, sah sie immer mehr wie eine Lakota aus. War oder ist das jetzt alles rassistisch? Die unrechtmäßige Aneignung einer fremden Kultur? Heute sieht man das wahrscheinlich so.

Stämmelager 2010 (BFL)

Ich gerate tatsächlich in innere Konflikte, wenn es um Native Americans geht. Vielleicht sind meine Gefühle nur Projektionen, Idealisierungen und Romantisierungen, eine merkwürdige Mischung aus Trauer, Mitgefühl, Sehnsucht, Bewunderung und Faszination. Alte Kindergefühle. Ich kenne keinen Indianer persönlich, aber ich habe Indianer in den Reservaten gesehen und auch das Elend, in dem sie lebten. Ich habe so viele innere und äußere Bilder – aus Büchern, Filmen, aus Erinnerungen an die USA. Ich reagiere wohl immer noch „deutsch“, wenn es um Indianer geht, auch wenn ich Karl May nie gern gelesen habe. Ich fand seinen Stil schwülstig und Winnetous Ende richtig schlimm: „Winnetou stirbt als Christ.“

Als ich in den USA Indianern begegnete, konnte ich sie nicht fotografieren, nicht mal, wenn sie es darauf anlegten und für Fotos posierten. Bei meinem Besuch im Monument Valley stand hoch oben auf einem Felsen ein Indianer und winkte, er sah aus wie ein Scherenschnitt vor der untergehenden Sonne, aber auch ihn konnte ich nicht fotografieren. Es kam mir vor wie ein Sakrileg. „Wenn ihr uns fotografiert, raubt ihr uns unsere Seele“, höre ich Winnie-Kornelia sagen. Das hatte sie irgendwo gelesen und ich habe es nicht vergessen. Indianer darf man nicht fotografieren! Die Portraits, die wir von ihnen kannten, sahen ernst und würdevoll aus. Und irgendwie traurig. Das Wort, das meinem Gefühl am nächsten kommt, ist Ehrfurcht. Fotografiert habe ich nur Indianer aus Holz. Aber ich fotografiere ohnehin nicht gern Menschen, es sei denn, sie erlauben es mir oder, noch besser, bitten mich darum. In den Trading Points hätte ich so gern die wunderbaren Kunstwerke der Native Americans erstanden, aber ich hatte nicht genug Geld für die Decken, den schönen Silberschmuck, die Sandbilder und kostbaren Kachinas. Meinen ersten Amerika-Trip hatte ich bei einer Verlosung gewonnen, sonst hätte ich mir die teure Reise nie leisten können. Kornelia war nur einmal in den USA, sie hat sich wahnsinnig darauf gefreut („Das wird mein Leben ändern!“),  aber nichts wurde so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sie konnte durch ihre Krankheit schon nicht mehr allein reisen, saß die meiste Zeit in einem Ort fest und traf keinen einzigen Indianer. Sie wollte so schnell wie möglich zurück ins Land unserer Träume, aber es war bereits zu spät. Aber einmal ist sie mit dem Flugzeug über die Canyon geflogen. „Ich hab mich jefühlt wie ’n Adler!“

First Nation

Karl May hat die deutsche Wahrnehmung durch seine Bücher (und die Verfilmungen) nachhaltig vernebelt, aber die Vorliebe für Indianer gab es schon im deutschen Kaiserreich. Später, in der DDR, gab es nicht nur die Villa Bärenfett und das Indianermuseum in Radebeul (irgendwo müssen auch meine analogen Fotos sein, aber wo?), sondern auch die „Indianistik“, das Reenactment von „Indianerleben“ (oder dem, was man darunter verstand). Es gab Indianer-Clubs, Indianerkommunen, Indianerfreunde, eine Art ökoromantische Gegenbewegung zum herrschenden Sozialismus. Auch hier waren Indianer vor allem weise Schamanen, Heiler und Naturburschen, sie waren freie Menschen und schützten und liebten die Natur. Der verklärende deutsche Blick war tief in die Vergangenheit gerichtet, speiste sich aus der Fantasie eines Schriftstellers und idealisierte Indianer als edle Wilde. Aber auch in der Wahrnehmung anderer Länder sahen alle Indianer aus wie „Plains Indians“, denn von ihnen gibt es die meisten historischen Darstellungen.

In den 1970er und 80er Jahren wurde die (angebliche) Rede von Häuptling Seattle (nach dem die Stadt benannt ist) sogar zum Lieblingstext der deutschen Ökologiebewegung, obwohl sie so sicher nie gehalten wurde. Jeder und jede hatte das kleine Buch damals irgendwo im Regal. Immerhin hat es Seattle wirklich gegeben, und eine Rede hat er auch gehalten, aber den Text gab es zu keinem Zeitpunkt schriftlich, und Seattle hielt die Rede zudem in seiner Muttersprache. Ich weiß sogar noch ein paar Sätze daraus: „Meine Worte sind wie Sterne, sie gehen nicht unter.“ „Was immer den Tieren geschieht, geschieht auch bald den Menschen.“ „Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen. Oder die Wärme der Erde?“ Wir fanden die Sätze schön und treffend. Mit Indianern verbinden wir durch Karl May „echte“ (kitschige?) Männerfreundschaften, Blutsbrüder (Kornelia und ich waren natürlich auch Blutsschwestern), Gewänder, Tipis, Stoffmuster und Perlenschnüre, Mokassins und Leggings, Friedenspfeifen, Federhauben, Trommeln und Adlerfedern. (Kornelia und ich hatten auch eine und hüteten sie wie einen Schatz. Ich habe sie immer noch.) Den Häuptlingskopfschmuck (Federhaube) fanden wir nicht erstrebenswert. Da waren wir minimalistisch. Uns genügte unsere Feder.

Merkwürdigerweise waren wir schon als Jugendliche ziemlich kritisch, wussten vom Elend in den Reservaten, vom „Trail of Tears“ und Custers (wohlverdientem!) Ende bei der Schlacht am Little Big Horn. Wir wussten natürlich auch, dass der schöne Winnetou, der die Bravo-Cover zierte (wir hatten ihn beide als Star-Schnitt), in Wirklichkeit Bretone war und kein Indianer, aber er war so schön, dass es uns nicht störte. Winnetou war eine fiktive Figur war, die nie gelebt hatte – im Gegensatz zu Sitting Bull, Crazy Horse, Geronimo, Red Cloud oder Powhatan. Kornelia, die sich so leicht in Winnie verwandelte, dass wir bald selbst nicht mehr wussten, was Fantasie und was Erinnerung war, kannte schon früh die Namen und Sitten verschiedener Stämme, und das ist nicht erfunden.

Winnie – Illustration von Caroline Riedel für mein Buch „Mit Winnie in Niersbeck“

An Karneval wollten wir als Kinder natürlich beide Indianer sein. Nicht, weil wir uns über sie lustig machten, sondern weil wir sie liebten und bewunderten – oder das, was wir uns unter ihnen vorstellten. Indianer, wohlgemerkt. Nicht Indianerin! Wir hatten eindeutig eine Art Gender-Problem. Natürlich durften wir nicht. Das „gehörte sich nicht“ für Mädchen. Höchstens „Squaw“ (abwertend und sexistisch) war irgendwann möglich. Dazu gab es blauschwarze Zopfperücken, die wie verrückt juckten und unmöglich aussahen, wenn man sie entflocht. Winnie-Kornelias Mähne war ideal für Indianer. Meine feinen Haare nicht.

Es war eine unerfüllte, sehnsuchtsvolle Liebe, und ein bisschen spüre ich sie immer noch. Von Nscho-tschi (Marie Versini, auch aus Frankreich, genau wie ihr Filmbruder) träumten damals viele Jungs. Wir fanden sie schön, aber ihr Ende machte uns wütend. Dass die zierliche Nscho-tschi nur sterben musste, damit sie den Männern aus dem Weg war und nur ja keinen „Weißen“ heiraten und Kinder mit ihm bekommen konnte, mutmaßten wir schon damals misstrauisch. Wir waren schon früh Frauenrechtlerinnen. „Die stirbt nur, weil die ne Frau is!“ „Jenau!“ Im Film wird sie von Santer alias Mario Adorf erschossen, was viele Deutsche ihm nie verziehen haben. Bei Karl May liebt Old Shatterhand sie nicht mal richtig, wenn ich mich recht erinnere!

Winnies Gesicht (Skizze von Caroline Riedel)

Überhaupt gab es damals kaum tolle Frauen in den Büchern und Filmen. Schon gar keine starken, gleichberechtigten oder überlegenen. Entscheidungen trafen immer nur die Männer. Die Heldinnen, mit denen wir uns identifizieren oder die wir verehren konnten, waren dünn gesät und irgendwie verkannt: Maria, die nicht mal zur Dreifaltigkeit gehört, Hildegard von Bingen,  die bärenstarke, aber gleich von zwei Männern durch eine gemeine List betrogene Brunhild (Krimhild, verachteten wir aus tiefstem Herzen, sie  war eine totale Katastrophe, weil sie den Mund nicht halten konnte!), Athene, die in voller Rüstung aus dem Kopf ihres Vaters sprang und völlig ohne Männer lebte, Audrey Hepburn, weil sie so wunderschön war, und Pocahontas, weil sie so mutig war. Möglicherweise war das alles aus heutiger Sicht auch bloß wieder nur eine Mischung aus Sexismus, Rassismus und Kolonialismus, denn sie riskierte ihr Leben, um John Smith, einen weißen Mann zu retten, mit dem sie nicht mal eine Romanze verband wie in der Disney-Version. Die echte Pocahontas hat einen Mann namens John Rolfe geheiratet und wurde (freiwillig oder unter Druck) zum Christentum bekehrt. Irgendwer lockte sie auf ein Schiff, wenn ich mich recht erinnere. Nach der Taufe gab man ihr den Namen Rebecca. Aufsässige und autarke Mädchen waren in Kinderbüchern und Kinderfilmen rar gesät. Sogar der wilde „Trotzkopf“ wurde leider gebrochen. Die Pippi Langstrumpf-Bände kamen zu spät in mein Kinderleben, aber diese Zopfgestalt gehört ohnehin in eine andere Kategorie. Hoffentlich fühlen sich Rothaarige nicht durch sie diskriminiert. Schade, dass sie so oft rassistische Begriffe benutzte. Aus der  N….Prinzessin ist inzwischen allerdings längst eine Südseeprinzessin geworden.

Grab von Pocahontas (Mark Aleandri)

Wir lasen schon früh James Fenimore Cooper („Der letzte Mohikaner“, „Lederstrumpf“), die Bücher gab es in einer vereinfachten Jugendfassung in der Leihbibliothek, und später im Studium habe ich mich ausgiebig mit der amerikanischen Literatur aus der Zeit des „Wilden Westens“ beschäftigt. Da begegnete ich auch wieder Chingachgook (was für ein Name!) und Unkas. Als ich als Studentin nach England zog, traf ich gleich in der ersten Woche auf Pocahontas, denn ich lebte in Gravesend, und dort ist sie beerdigt. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal (zufällig! Gibt es Zufälle?) ihre Statue fand.  Winnie-Kornelia war richtig neidisch. Ich habe Pocahontas (eigentlich hieß sie Matoaka) oft besucht.

Es gibt Orte, an denen ich gut nachdenken kann, und bei mir sind das vor allem Friedhöfe. Möglicherweise wird die mädchenhafte Gestalt mit der Feder im Haar bald verschwinden, denn auch sie bedient wohl vor allem weiße männliche, kolonialistische und sexistische Klischees. Die echte Pocahontas sah völlig anders aus und trägt auf dem alten noch erhaltenen Kupferstich eine düstere Miene und einen merkwürdigen Hut. Sie besuchte 1616 England und den Königshof, wo man sie als „Indianerprinzessin“ bewunderte, und erkrankte bei der Heimreise schwer an Typhus/Pocken/Lungenentzündung oder Tuberkulose. Genau weiß man es nicht. In Gravesend holte man sie schwerkrank vom Schiff, und dort starb sie dann am 21. März 1617. Eigentlich liegt sie gar nicht unter ihrer Statue, denn ihr Grab in der St. George’s Church wurde bei einem Brand völlig zerstört, aber das wusste ich damals noch nicht. Ich verbinde jedenfalls viele gute Erinnerungen mit ihrem vermeintlichen Grab.

Im Regal (BFL)

Ich habe nicht nur die Barbie-Puppe, sondern auch noch die meisten meiner Cowboys und Indianer aus Kinderzeiten. Wir nahmen den Figuren immer sofort die Waffen ab und machten sie zu Freunden. Leider gab es unserem Cowboy Fort keine einzige weibliche Figur (später habe ich mir zwei Indianerfrauen aus Masse gekauft), denn es war „Jungensspielzeug“. Wie die Ritterburgen und Bauernhöfe. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum ausgerechnet mein Fort-Weihnachtswunsch erfüllt wurde. Einen Bauernhof und eine elektrische Eisenbahn hätte ich auch gern noch gehabt, nur die Ritterburg fand ich langweilig. Die Ritter trugen Rüstungen und ihre Pferde auch, man konnte nicht mal ihre Gesichter sehen. An unerfüllte Weihnachtswünsche und „Das gehört sich nicht für Mädchen!“ waren wir gewöhnt. Barbies hätte ich mir damals nie gewünscht, das war unter meiner Würde, aber damals gab es Pocahontas noch nicht. Ruth Bader Ginsburg hätte mir auch gefallen. Ich überlege gerade, ob ich sie mir als Action Figur zulege. Was für eine unglaublich tolle Frau!

Bei uns ritten sowohl die Cowboys als auch die Indianer ohne Sattel und Zaumzeug. Sie bekämpften sich nie, sie lebten friedlich zusammen in den Blockhäusern und züchteten Pferde. Ich weiß noch, dass der Cowboy mit dem blauen Hemd Jim hieß, und der Indianer mit dem erhobenen Arm (die Lanze hatten wir ihm abgenommen) Unkas. Ihm gehörte das schönste weiße Pferd, das wir hatten. Und wenn im Fernsehen halbnackte heulende Indianerhorden die Siedler umkreisten, regten wir uns tierisch auf. Wir kannten zwar die Worte Rassismus und Sexismus nicht, aber wir merkten sofort, wenn etwas unfair oder abfällig war. Und ein Genderproblem, was Spielzeug betraf, hatten wir eindeutig auch.

Gewand (BFL)

Als ich gestern noch überlegte, ob ich den überlangen Blogeintrag wirklich frei schalten oder lieber doch löschen sollte, passierten zwei merkwürdige Zufälle. Als erstes erwähnte eine Bekannte aus heiterem Himmel, dass sie aus Radebeul stamme und während ihrer Kindheit noch der Grizzly vor der Villa Bärenfett stand und ein echter amerikanischer Cowboy das Museum verwaltete. Er sei mit seinem Cowboyhut durch die Straßen von Radebeul marschiert und die Kinder hätten ihn auf Indianerart gegrüßt. Howgh! Und er grüßte genauso zurück. Das erste Zeichen. Als ich mich anschließend (nach einem langen anstrengenden Tag) ein wenig entspannen wollte und mich erwartungsvoll bei amazon prime einfand, präsentierte die Liste mit neuen Filmen mir als erstes „Te Ata – Stimme des Volkes“, was mich gleich doppelt vom Sofa haute. Von der berühmten Te Ata Fisher (geb. Mary Frances Thompson), die als Indian Story Teller sogar vor dem damaligen US-Präsidenten (Roosevelt) und der englischen Königsfamilie (King George) aufgetreten ist, hatte ich noch nie zuvor gehört.

Aber rein zufällig ist Ata der Name, den ich mir als Kind selbst gab und den nur meine liebsten Menschen benutzen dürfen. „Siehste!“ höre ich Winnie-Kornelia triumphieren. „Du has‘ ’nen echten Indjanernamen!“ Eigentlich stammt Ata aus der Sprache der Maori, merkwürdig, dass auch Mary Francis ihn wählte, und bedeutet Morgen. Ich betrachtete die schöne junge Frau im Film, die anmutig die Arme hob und mit eindrucksvoller Stimme rief: „My name is Te Ata, Bearer of the Morning. I am Chickasaw and a storyteller and this is my story.“ My name is auch Ata, und ein Storyteller bin ich auch. Das war das zweite Zeichen. Der Blogeintrag wird nicht gelöscht! Zum Glück werden die Indianer im Film alle von Indianern gespielt, und die Native American-Heldin hat wirklich gelebt. Ich darf den Film also mögen, auch wenn viele Schauspieler aussehen, als trügen sie schlecht sitzende Perücken. Vor allem Te Atas Vater und ihr früh ergrauter Gatte.

Mongole, Stämmelager 2010 (BFL)

Als Indianer verkleiden darf man sich schon lange nicht mehr. Das spielerische Hineinschlüpfen in „eine andere Haut“ (aus welchen Gründen auch immer) ist heute tabu. Möglicherweise sind auch die Tage der Festspiele von Bad Segeberg gezählt. Da treten eher keine echte Indianer auf, und das geht gar nicht in Zeiten, in denen sogar farbige Comicfiguren von gleichfarbigen Sprechern synchronisiert werden müssen. Merkwürdige Welt. Wenn das so weitergeht, werden unsere hervorragenden Synchronsprecher bald ein Problem haben.

Vorüber sind offenbar auch die bunten Tage der Kölner Stämme. Auch dort gibt oder gab es Indianer. Sie hatten die fremden Kulturen sorgfältig studiert, ihre Kleidung liebevoll selbst genäht, die Tipis originalgetreu nachgebaut. Erlaubt sind wohl höchstens noch die alten Römer, die am liebsten als Gladiatoren auftreten.  Alte Römer gibt es längst nicht mehr und die Hautfarbe stimmt ja. Ritter und Hunnen gehen vielleicht auch noch durch. Die gibt es längst nicht mehr, allerdings sind die Hunnen gelb geschminkt und damit wahrscheinlich rassistisch. Menschenfresser geht gar nicht, da Blackfacing und damit extrem rassistisch. Aber was ist mit Piraten? Weiße Piraten müssten eigentlich noch erlaubt sein. Weiße Kannibalen möglicherweise auch, die gibt es sogar in Grimms Märchen. Und Mongolen? Sie sind gelb geschminkt bei den Kölner Stämmen, und es gibt sie wirklich. Also rassistisch. Sie hatten wirklich schöne Zelte und Kostüme, alles originalgetreu. Und die Mongolen- und Hunnenfrauen waren echt zum Fürchten, besonders wenn sie im Pulk marschierten. Als Kinder wären wir entzückt gewesen. Die hätten uns mächtig imponiert! Gerade fällt mir auf, dass es schon ewig kein Kölner Stämmelager mehr gegeben hat. Das letzte große war 2010, da haben die Stämme sehr viel Geld für Mukoviszidose-Kinder gesammelt und mein Mann hielt im Namen der Stadt eine Dankesrede. Schade. Es war wunderbar, zur Abwechslung mal nach Herzenslust Menschen fotografieren zu dürfen, die sich freuten, wenn man sie ablichtete.

(BFL)

In den USA (und auch hier) sind momentan etliche bekannte Markennamen und Symbole (zu Recht!) dabei, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, nicht nur Persons of Color wie der weltberühmte Uncle Ben (ab 2021 werden die Produkte endgültig umbenannt in „Ben’s Originals“ und verlieren ihr Gesicht) und die lächelnde Aunt Jemima, die in der Tat mal extrem rassistisch war, sich im Laufe der Zeit aber schon stark verändert hat. Doch sie ist immer noch schwarz und daher immer noch ein rassistisches, und weil sie zudem eine Frau ist, auch ein sexistisches Klischee. Auch Indianer*innen wie die kniende „Indian Maiden“ auf den „Land o’ Lakes“-Produkten werden bald der Vergangenheit angehören. Inzwischen bietet die „Indian Maiden“ die Butter zwar nicht mehr kniend dar, suggeriert aber weiterhin, dass Indianerinnen romantisch, unschuldig und harmlos sind und bedient damit eindeutig weiße sexistische Vorurteile. Sie trägt fast die gleiche Kleidung wie Te Ata, Pocahontas und Winnetous Schwester. Auch der markante Indianerkopf mit der Federhaube auf „Crazy Horse Malt Liquor“ wird verschwinden.

In der Schweiz wird gerade eine beliebte Eissorte umbenannt, die „Winnetou“ heißt. Die Verpackung ziert ein Häuptlingskopf und das Eis ist schwarz-rot-gelb gestreift. Es gibt dieses Glace seit 1980, und in der Schweiz ist es offenbar überall bekannt, fällt aber klar in die Rubrik rassistisch, denn es verunglimpft einen Indianer, auch wenn es ihn niemals gab. Das geht gar nicht! Sogar Winnie-Kornelia und ich wären total ausgerastet bei der Vorstellung, Winnetou abzulecken und zu essen! Noch dazu mit Kopfschmuck und Kriegsbemalung! Ich bin gespannt, wie das Wassereis fortan heißen wird. Heute habe ich gelesen, dass bei uns auch die Haribo Goldbärchen bald der Vergangenheit angehören sollen. Nicht aus farblichen Gründen, sondern weil sich die Ernährungsgewohnheiten stark verändert haben. Da sollte ich mich doch noch einmal mit ein paar Packungen eindecken. Meine Lieblingsbärchen sind eindeutig die grünen, womit ich auf der sicheren Seite bin, denn es gibt ja auch gelbe und rote.

Ich gehe hoffnungsvoll davon aus, dass der kraftstrotzende Meister Proper, der ausschreitende Johnny Walker, der zahnkundige Dr. Best (seit kurzem auffallend verjüngt), der runde Schnauzbartkopf auf den Pringles-Packungen und der kernige Käpt’n Iglo noch ein bisschen bleiben, weil Werbung ohne Bilder und Bezugspersonen irgendwie doch ziemlich öde ist. Aber zum Glück bedienen sie ja keine rassistischen Klischees. Höchstens sexistische. Ich denke dabei an Meister Propers Muskelpakete. Aber bisher hat sich offenbar noch kein Mann beschwert.

Tanz (Jess Lindner/unsplash)

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Kleine pandemische Sprachbetrachtung (3)

Wand im Belgischen Viertel (BFL)

Immer noch fallen mir fast täglich coronabedingte Begriffe oder sogar Neuschöpfungen auf, aber auch neue und ältere Anglizismen, die im Moment vermehrt ans Sprachufer gespült werden. Leider fehlt mir aufgrund meiner ausgeprägten Corona-Fatigue die Zeit und Geduld, sie ordentlich zu sortieren, aber es soll ja auch nur eine kleine Momentaufnahme sein. So wie bei den vorherigen Beiträgen.

Aha-Regeln (BFL)

Auf großen Plakaten werde ich bereits unmittelbar vor der Haustür auf die AHA-Regeln aufmerksam gemacht. Soweit ich sehe, halten sich zumindest in meinem Stadtteil fast alle daran, auch wenn ich gelegentlich in der Bahn auf dem Weg in die Innenstadt schon mal jemanden ohne Maske lautstark ins Handy brüllen sehe (und vor allem höre). Komischerweise sind es fast immer Männer. Meistens sehen sie einander sogar recht ähnlich. Die Macho-Variante, die auch gern Manspreading macht (ausladende Körperhaltung mit Beinspreizen, gern in Zügen und Bahnen). Leider sind die Monologe, die man da anhören muss, zwar sehr laut, aber nie interessant. Es gibt auch Mitbürger (ebenfalls meist Männer), bei denen die Alltagsmaske ausschließlich unter dem Riechkolben hängt. Oder gar unter dem Kinn. Am liebsten würde ich was sagen, traue mich aber nicht.

Bei den Corona-Kombis begegnen einem in der letzten Zeit vermehrt die Corona-Demonstrationen und Coronaproteste, bei denen (neben Normal- und Wutbürgern) vor allem Maskenverweigerer, Coronarebellen, Coronaskeptiker und Impfgegner ihren großen Auftritt haben. Ihr Protest richtet sich gegen die vermeintliche Coronadiktatur („Die wollen unsere Gesellschaft zerstören!“), mitunter kommt es auch zu aggressiven Übergriffen gegen die Presse (die sogenannte „Lügenpresse“). Ende August gelangten sogar einige Flaggenträger auf die Stufen des Reichstags und weckten ungute Erinnerungen. Übrigens hat heute noch jemand ernsthaft versucht, mich davon zu überzeugen, dass Corona eine Erfindung unserer Regierung sei. „Das machen die nur, um uns zu kontrollieren und unsere Wirtschaft zu ruinieren. Es soll wieder so werden wie nach dem zweiten Weltkrieg. Das Virus ist in Wirklichkeit ein Witz! Pure Erfindung!“ Warum sollte eine Regierung ihre Wirtschaft ruinieren wollen? Und warum wie nach dem Krieg? Genau konnte er mir das auch nicht erklären. „Das ist eben so.“ Wir hatten einen kurzen, unbefriedigenden Disput und waren beide reichlich geladen, als wir uns trennten. Ich konnte ihn nicht überzeugen, er konnte mich nicht überzeugen. Nur gut, dass ich seine Gedanken nicht lesen konnte.

(united-nations-covid-19-response/unsplash)

Immer öfter, auch bei Politikern, sieht man jetzt den Coronafußgruß und den Coronaellenbogengruß.  Ganz neu sind (zumindest in meiner coronamüden Wahrnehmung) das Coronakontakt-Tagebuch (führe ich jetzt auch) und die Coronahygienpauschale (bekomme ich nicht). Auf Straßen und Bürgersteigen sieht man leider täglich mehr Coronamüll (einsame Mundschutzleichen), wobei es sich vor allem um benutzte Einmalmasken handelt. Leider auch vor unserem Haus, weil wir an einer Haltestelle wohnen. Wir transportieren die Objekte mehrmals täglich mit Abstand, Ekel und Greifer in den Restmüll. Obwohl sie streng genommen in den Sondermüll gehören.

Wand im Belgischen Viertel (BFL)

Auch neue Formen von Scham bereichern meinen Wortschatz, z.B. die Coronascham (man schämt sich, weil es einem gar nicht so schlecht geht trotz Pandemie) oder auch das Coronashaming (Anprangern von Personen, die sich nicht an die Regeln halten, wild feiern oder wild durch die Gegend reisen, oft in sozialen Netzwerken oder in der Presse bis hin zum echten „Shitstorm“ – Vorsicht beim Gebrauch des letzten Begriffs im Englischen, es ist ein „falscher“ Anglizismus). Dabei kann es auch passieren, dass Maskenmuffel oder Maskenträger angefeindet oder tätlich angegriffen werden (weil sie keine bzw. weil sie eine Maske tragen). In den USA sind bei Maskenkeilereien schon Personen zu Tode gekommen. Nach wie vor tragen dort vor allem weiße ältere Männer aus einer gewissen Partei keine Maske, weil sie damit erstens ihre politische Einstellung gut sichtbar kundtun und weil sie zweitens auf keinen Fall wie Weicheier aussehen wollen. Number 45 trägt jetzt neuerdings ab und zu eine in Schwarz (ist ja bald Wahl, also muss er wohl) und findet sich damit sogar attraktiv, wie er verlauten läßt, weil er bemaskt aussieht wie der Lone Ranger („I sort of like that.“). Flugscham (Flight Shame), ursprünglich geprägt von Rita Thunberg, steht jetzt sogar im neuen Duden, auf den ich in einem anderen Post noch eingehen werde. Dagegen ist Urlaubsscham (weil man ja eigentlich während der Pandemie nicht verreisen sollte) recht neu, und Vacation Shaming  ebenso. Damit bezeichnet man den Gruppendruck, der armen Urlaubern Schuldgefühle macht oder sie gar mit Verachtung straft. Es soll sogar Leute geben, die ihre Urlaube jetzt lieber geheim halten als wie sonst darüber ausufernd zu reden.

Immer mehr Corona-Fake-Shops im Internet nutzen die Gunst der Stunde, um ihre leichtgläubigen Opfer abzuzocken, Corona-Drive-ins sind zumindest bei uns eher selten, aber es gibt sie in anderen Ländern. Inzwischen gibt es auch schon die ersten Jugendlichen mit Corona-Abitur, und hier in Köln fand in den Messehallen in Deutz gar die größte Corona-Klausur Deutschlands statt: 6.000 Prüfungen in einer Woche. Die armen Studenten! Es kostete 50.000 Euro, die Hallen zu mieten, wenn mich mein Zahlengedächtnis nicht trügt. Und in der Schweiz gibt es eine wunderschöne Corona-Bibel, über die ich an andere Stelle mehr schreiben werde.

Neues Maushaus (BFL)

Die Coronastarre macht mir immer noch zu schaffen, zuerst in Kombination mit dem Lockdown und dann mit der Sommerhitze. Sie äußert sich als generalisierte Schreib- und Leseblockade, als extremer Social Media-Überdruss und gelegentlich auch als leichte Gereiztheit. Nicht mal zum Binge-Watching meiner Lieblingsserien konnte ich mich bisher aufraffen. Dafür bin ich abhängig von neuen Handy-Apps (NDR Info, BBC News, ZDFheute, WDR aktuell) und habe mehrere neue Maushäuser gebaut. Corona-Maushäuser. Für diese kreative Frickelsarbeit kann ich komischerweise selbst bei Hitze, Angst und Frust genug Energie aufbringen. Es lenkt wunderbar ab und man braucht dabei nicht mal zu denken. Maushäuser bauen ist einfach nur entspannend. Bloß wohin damit, wenn sie fertig sind? Mein armer Mann erwägt schon anzubauen….. und ich träume von einer richtigen kleinen Werkstatt… und vielen langen breiten Regalen.

Corona Warnapp (BFL)

Die Corona-App bzw. Corona-Warn-App gibt es seit Juni. Ich habe sie mir gleich am 18. Juni heruntergeladen, treffe aber kaum Menschen, die sie auch haben. „Mit Bluetooth will ich nichts zu tun haben.“ „Das ist mir alles viel zu unheimlich. Damit wird man doch bloß überwacht.“ „Das macht mir nur unnötig Angst. Wenn ich infiziert bin, merk ich das schon.“ Die App funktioniert offenbar, frustriert allerdings dadurch, dass sie einem nicht mitzuteilen geruht, wo und wann genau man seine Risikobegegnungen hatte. Zumindest der Tag wäre hilfreich! Die Meldung „Eine Risiko-Begegnung“ bleibt zwar weiterhin beruhigend grün und verfärbt sich nicht grau oder gar rot, versetzt mich aber trotzdem in diffuse Alarmbereitschaft. Wer war das? Und wo? Beim Rewe? In der Bahn? War es der Typ mit der Maske unter der Nase, der mir so unsympathisch war? Oder der Kerl ohne Maske, der so in sein Handy gebrüllt hat? Dabei geh ich doch eh kaum aus dem Haus.

Auch mit dem After-Corona-Body (schwabbelig, unfit) und den angefressenen Corona-Kilos (Frust macht Hunger, besonders auf Süß) müssen sich etliche von uns weiterhin herumplagen. (Warum eigentlich After-Corona? Wir sind doch mitten drin in der Pandemie? Egal.) Bizarr fühlt es sich an, wenn man während der Pandemie mit Alltagsmaske zur Gynäkologin geht. Vor allem auf dem Stuhl. Irgendwie total verrückt.

Maskenleiche auf dem Brüsseler Platz  (BFL)

Nervig finde ich so langsam die unzähligen Corona-Ausreden für alles und jedes und überall. „Wegen Corona!“ schallt es von allen Seiten. „Bin nicht dazu gekommen. Wegen Corona.“ „Hab ich vergessen. Wegen Corona!“ Als wir neulich gehackt wurden (extrem stressig) und bei der Polizei Anzeige erstatten wollten, kamen wir gar nicht erst ins Gebäude. Es ertönte nur eine körperlose weibliche Stimme aus der Wand. Fehlanzeige statt Strafanzeige. „Wir behandeln nur Notfälle. Wegen Corona! Erstatten Sie die Anzeige online.“ Haben wir gemacht, war äußerst hochschwellig, und bis heute haben wir keine Bestätigung, dass der Onlineschrieb angekommen ist. Wahrscheinlich im Äther verpufft. Wegen Corona! Zum Teil sind die Corona-Ausreden echt dreist. Nach einem Verkehrsunfall ließ eine Fahrerin das angefahrene Kind einfach liegen, weil man wegen Corona niemanden anfassen soll. Lautstark Feiernde begründen ihre Riesenpartys gegenüber der Polizei mit der Aussage „Was soll das? Wir sind doch nur eine große Patchworkfamilie!“. Manchmal kommt Corona aber auch gelegen. „Wir können uns leider nicht treffen/Ich kann leider nicht kommen/Das geht jetzt leider nicht. Du weißt schon, wegen Corona!“ Und die revolutionäre Corona-Mode: Seit einiger Zeit gehe ich eiskalt in Pantoffeln einkaufen und trage sie auch stolz in der Bahn. Sie sind meine bequemsten Schuhe, und mit Maske und Sonnenbrille erkennt mich eh keiner. Schuhfreiheit total. Meine Mutter wäre entsetzt.  Sowieso egal, was ich anziehe. Der Dresscode ist komplett aufgehoben. Wegen Corona! Es sollte nur nicht regnen.

Sicher wissen Sie längst, dass Homeoffice gar kein englisches Wort ist, sondern ein „Scheinanglizismus“. Home Office heißt in Großbritannien nämlich das Innenministerium und nicht der häusliche Arbeitsplatz. So ähnlich wie Gymnasium (engl. Turnhalle) oder Smoking (engl. tuxedo) oder Handy (engl. cell phone oder mobile phone).  Klingt zwar alles englisch, ist es aber nicht. Noch schlimmer sind die hier so beliebten Bodybags, die mit Corona schlimmstenfalls in ihrer Originalbedeutung etwas zu tun haben. Die frische Bezeichnung für die Rucksäcke oder Kuriertaschen mag für deutsche Ohren gut klingen, denn Anglizismen werden ja gern zur Veredelung von eher langweiligen Wörtern gebraucht, doch im Englischen bezeichnet man damit – festhalten! –  Leichensäcke.

Mein persönlicher Scheinanglizismus-Haßkandidat hat zum Glück nichts mit Corona zu tun: Barfen. „Das beste Barf-Menü für deine Katze“ oder „Hunde jetzt gesund barfen“. So steht es groß und fett auf einem Schild vor dem Laden, in dem ich das Katzenfutter kaufe, und mir wird bei dem Anblick jedes Mal ganz anders. Gucken die Leute, die solche Begriffe erfinden, eigentlich nie ins Wörterbuch? Barf (hier: biologisch artgerechtes rohes Futter) bedeutet auf Amerikanisch kotzen! Die Spucktüten in Flugzeugen heißen barf bags. Aber das ist jetzt wohl bloß wieder nur mein hyperaktives abschweifendes Übersetzerhirn. Sorry. Back to Covid19.

Aluhut (Tom Radetzki/unsplash)

Den Ausdruck Covidiot habe ich zum ersten Mal bei Saskia Esken gehört, aber es gibt ihn bereits seit April oder Mai – damals bezeichnete man damit Personen, die wie verrückt Klopapier und Küchenrollen horteten. Inzwischen ist die Bedeutung etwas breiter und bezieht sich auch auf Corona-Leugner. Das Wort ist offenbar auch im Englischen gebräuchlich. Nicht mal die Aluhüte waren mir ein Begriff, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, obwohl es die nun wirklich schon seit Jahren gibt, früher allerdings eher verbunden mit den Anhängern der anstrusen Chemtrail-Theorien. Heute sieht man die silbernen Dinger gelegentlich sogar als bitterernst oder auch nur ironisch gemeinte Kopfbedeckung (gegen vermeintliches Gedankenausspähen und schädliche Strahlen) oder als Symbol dafür, dass der Träger „Corona“ für eine Erfindung hält. Da wäre ein längerer Besuch auf einer spanischen Intensivstation sicher hilfreich. Was für ein Glück, dass wir hier in Deutschland bisher dank früher Tests und nur kleinen Clustern so gut wie verschont geblieben sind. Die ganze Welt beneidet uns dafür, doch hier erregt das Glück bei vielen einfach nur Unmut und Wut. Ist doch nichts passiert! Wo sind denn die vielen Toten? Wieder einmal zeigt sich auf höchst eindrucksvolle Weise: There is no Glory in Prevention. Offenbar können einige es nur auf die harte Tour lernen.

(Engin Akyurt/unsplash)

Abends und nachts sorgen übrigens gelegentlich genau die Mitbürger aus der nahegelegenen Hochhaussiedlung, die ich während der Lockdown-Einsamkeit so beneidet habe (als sie jeden Abend gemeinsam gesungen und Wunderkerzen geschwenkt haben, während hier absolute Totenstille herrschte) für Unmut, weil sie laut, rücksichts- und abstandslos bis in die Puppen gemeinsam grölen und feiern. Das passiert in Köln an den richtig großen Corona-Hotspots leider noch viel ausgeprägter, z.B. im Stadtgarten und auf meinem geliebten Brüsseler Platz, der deshalb abends und nachts abgesperrt ist. Die Pop-up-Bars und Biergärten zur Entlastung haben sich übrigens leider nicht bewährt und sind längst wieder abgebaut.

Weihnachtsmarkt (BFL)

Relativ neu ist auch das Wort bemaskt. Maskiert kann man ja bei den komischen Mundnasebedeckungen (besonders in einer Karnevalsstadt wie Köln) schlecht sagen, also musste dringend eine neue Wortschöpfung her. Karneval fällt übrigens wahrscheinlich komplett aus im nächsten Jahr. Genau wie dieses Jahr der Töpfermarkt und die Weihnachtsmärkte. Das mit den Weihnachtsmärkten hat mich echt tangiert und in eine temporäre Depression katapultiert. Keine Weihnachtsmärkte? Ich liebe Weihnachtsmärkte! Allerdings nur morgens, wenn kaum Besucher da sind und man nach Herzenslust fotografieren kann. Dieses Jahr werde ich mir wohl nur wehmütig meine vielen alten Fotos ansehen können. Ob wir wohl unseren alljährlichen Adventskalendervortrag werden halten können? Vielleicht in der fast leeren Kirche. Vielleicht. Und ohne Glühwein und ohne Plätzchen.

(united-nations-covid19-response/unsplash)

Zum Schluss fallen mir  noch die vielen pandemiebedingten Wellen ein. Es wellt in letzter Zeit wirklich recht heftig, und zwischen all den Viruswellen, Ansteckungswellen und Pandemiewellen gibt es jetzt auch immer mehr Pleitewellen und Konkurswellen. Sogar das Kölner Pascha, das größte Bordell Europas (ich wußte gar nicht, dass es so bedeutend ist!) hat gerade Insolvenz angemeldet. Ob es da jetzt noch was bringt, dass (ab heute) in NRW die Prostitution wieder erlaubt ist, wage ich zu bezweifeln. Gerade fragen sich auch schon viele besorgt, ob uns im Winter (Game of Thrones: „Winter is coming!“) wohl eine zweite, dritte oder sogar eine richtig große Monsterwelle droht, denkbar wäre auch eine fette Doppelwelle (zusammen mit der Influenza). Die Grippe-Impfungen sollte man sich am besten jetzt schon bestellen. Der Virologe Hendrik Streeck spricht übrigens gar von einer Dauerwelle und kreierte damit eine gelungene und erheiternde Bedeutungserweiterung des bisher unter diesem Namen bekannten chemischen Umformungsprozesses, bei dem glatte Haare hübsch gewellt werden. Mir fällt bei all der Wellerei jetzt auch noch Franz Grillparzers Drama aus Studienzeiten ein. „Des Meeres und der Liebe Wellen“. Geht höchst tragisch aus, mit dem Tod der beiden Liebenden Hero und Leander, die zueinander nicht kommen können. Ausnahmsweise nicht coronabedingt, sondern weil jemand die Lampe gelöscht hat, die Leander den Weg weisen sollte. Er ertrank, und sein Leichnam wurde von den Wellen an Land gespült.

(united-nations-covid19-response/unsplash)

 

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California Dreaming

San Francisco (Jeffrey Wing/unsplash)

Bei heißem und schwülem Sommerwetter bin ich nicht in der Lage zu schreiben, deshalb werde ich während dieser Jahreszeit auch immer auffällig still und falle in geistige Schockstarre, doch heute ist es so erfrischend kühl, dass meine Lebensgeister erwachen und die Lust am Schreiben zurückkehrt. Eigentlich wollte ich weiter über Masken und pandemische Sprachbetrachtung schreiben, habe mir schon viele Zettel mit Notizen gemacht, doch akut liegt mir ein ganz anderes Thema am Herzen.

Seit Corona schlafe ich (ja, immer noch!) weniger und lese stattdessen oft (ja, immer noch mitten in der Nacht!) auf dem Handy in der ZDF-App, der „New York Times“ oder im „Guardian“. Zum Glück kann ich danach trotzdem einschlafen, sogar mit dem (für mich) beruhigenden Gefühl, das Wichtigste zu wissen, das in der Welt gerade passiert. Letzte Nacht las ich die neuesten Meldungen zur US-Präsidentschaftswahl und zur weltweiten Pandemie-Lage (jetzt stehen bei uns auch die Côte d’Azur und Paris auf der Liste der Reisewarnungen), die letzten Erkenntnisse zur Vergiftung von Alexej Nawalnyj, vertiefende Infos zu Cholinesterase-Hemmern und dem Gegenmittel Atropin, und fand schließlich einen langen Bericht über die vielen Brände in der San Francisco Bay Area, was gleich wehmütige Erinnerungen an meine Aufenthalte dort weckte, so dass ich nach der Lektüre zu „Unsplash“ wechselte und mir Fotos von San Francisco und Kalifornien ansah.

Manche Städte prägen sich mir einfach unauslöschlich ein, und San Francisco gehört eindeutig dazu. Im Hintergrund höre ich bis schon beim Namen der Stadt Gitarrenakkorde und die Stimme von Scott MacKenzie, sitze plötzlich wieder im geräumigen Café des großen Buchladens, blättere in Bildbänden des Sierra Club und bewundere einen sanftäugigen sandfarbenen Hund, dem sein Hippie-Frauchen mit dem eindrucksvollen Lockenkopf ein rotweiß gepunktetes Halstuch umgebunden hat. Dort habe ich zum ersten Mal einen Hund mit Halstuch gesehen! Und dort las ich zum ersten Mal den Satz „I met God. She is black.“ Der „double twist“ gefiel mir. Die Karte habe ich gleich gekauft. Sie hängt hier im Flur.

Yosemite (Jordan Pulmano/unsplash)

Schon das vierte Jahr in Folge mit verheerenden Feuern in Nordkalifornien. Die Luft um San Francisco ist im Moment viermal schlechter als in Neu-Dehli und Beijing. Wenn man das Haus verlässt, hat man das Gefühl, in einen brütend heißen Schmelzofen zu treten. Die Augen tränen im beißenden, stechenden, stinkenden Rauch, und die Luft ist so verschmutzt, dass man nicht mal mehr den Mount Diablo und den Mount Hamilton sieht. Anwohner in der Bay Area haben Notfallkoffer gepackt für den Fall, dass sie ihre Häuser plötzlich verlassen müssen, filmen vorsichtshalber schon alle Zimmer, um die Bilder später der Versicherung (falls sie eine haben) zeigen zu können und auf diese Weise zu dokumentieren, was sie alles verloren haben, falls es zum Schlimmsten kommt und ihre Häuser dem Feuer zum Opfer fallen sollten. Sieben Menschen sind schon in den Flammen umgekommen, die Feuerwehrleute sind manchmal 48 Stunden an einem Stück im Einsatz. Viele Kalifornier haben Angst vor den Notunterkünften, die in Pandemiezeiten sicher noch schlimmer sind als ohnehin. Lebensgefährlich. Genau wie die Feuer.

Meine kalifornischen Erinnerungen drohen gerade in einer Mischung aus Hitzewelle, Pandemie und Feuersbrünsten zu versinken. Es schmerzt. Bei meinen Besuchen habe ich damals nicht nur einmal mit dem Gedanken gespielt, ob ich nicht dorthin ziehen sollte, weil ich mich so in die Stadt verliebt hatte. Das ist mir nur sehr selten passiert. Erdbeben hin oder her (1989 erschütterte ein schweres Erdeben von 6,9 auf der Richterskala die Stadt, und die Oakland Bay Bridge, über die wir so oft gefahren sind, brach zusammen), aber die Temperaturen liegen dort (ganzjährig!) zuverlässig in meinem Lieblingsbereich (um die 20 Grad). Kalifornien und vor allem die Bay Area erschienen mir immer wie ein Paradies, und ich mag auch die Menschen, denen ich dort begegnete.

Allerdings herrschte dort bereits in den 1980er Jahren und sogar schon im Frühling (ich war ja aus guten Gründen immer nur im Frühling in den USA) massive Wasserknappheit. Ich erinnere mich noch an mein Erstaunen beim Anblick des kleinen Schilds im Gästebad. „If it’s yellow, let it mellow. If it’s brown, flush it down.“ Das war doch sicher nur ein Witz? So etwas hatte ich noch nie gesehen und ich handelte mir prompt einen Tadel ein, weil ich kostbare Wasserressourcen verschwendete, indem ich jeden Morgen duschte, nach jedem Toilettengang die Spülung betätigte und mir dauernd die Hände wusch.

Point Reyes (Denys Nevozhai/unsplash)

Eines Morgens sah ich, wie der Nachbar gegenüber seinen gelbbraun vertrockneten Rasen mit frischer sattgrüner Farbe besprühte, und dachte zunächst an eine Sinnestäuschung oder eine üble Jetleg-Nebenwirkung. Aber er sprühte wirklich! Es war schon damals äußerst trocken in Kalifornien. (It never rains in Southern California) Doch wenn der Nebel zärtlich und lautlos wie eine geheimnisvolle weiße Katze über die Golden Gate Bridge zog oder wenn ich nachts aus meinem Fenster die zwinkernden Lichter der stillen Stadt sah, schmolz ich wehrlos dahin. Die tropfenden, moosbehangenen Bäume in Point Reyes, das Holzhaus auf Stelzen, das silberne Windspiel mit dem Wal, der lange Weg hinunter zum Leuchtturm, die windschrägen Bäume, die unerschrockenen Waschbären, die sich nachts über den Abfall hermachten, die lauen Abende mit den unglaublichen Sonnenuntergängen in der Halfmoon Bay, das heisere Seehundbellen am Fisherman’s Wharf, die mahnenden, imposanten Baumgiganten im Sequia National Park, die schroffen Felsen in Yosemite – ich könnte endlos weiter Bilder erinnern. In einer Küche in Oakland aß ich zum ersten Mal Celantro. In einer anderen Küche aß ich bei der Familie meines Freunds Bill zum ersten Mal Sweet Potato. Koriander und Süßkartoffeln liebe ich bis heute.

In den 1980ern übersetzte ich mit tiefem Glücksgefühl einen Reiseführer „San Francisco“ und war in meiner Vorstellung zwei Monate so intensiv dort, dass ich jeden Morgen erstaunt war, mich beim Aufwachen immer noch in Köln zu befinden. Ich neige dazu, mich in Büchern zu verlieren. Sogar in denen, die ich nur übersetzt und nicht selbst geschrieben habe. Manchmal verliere ich mich sogar schon beim Lesen.

Death Valley (Joseph Driscoll/unsplash)

Als ich während meiner Therapie nach sicheren inneren Orten suchte, fand ich den ersten gleich auf den kühlen Klippen von Big Sur, auch hier liebte ich die feuchte, reine, klare Luft. Die üppigen Mohnwiesen! Die Ice Plants! Und die wild wachsenen Callas! Das Geräusch des Meeres, das Singen des Windes, die steilen Felsen.

In einem kalifornischen Garten sah ich zum ersten Mal eine Maine Coon-Katze und nahm mir fest vor, eines Tages auch so eine prächtige Katze zu haben. Nachdem meine beiden Hauskatzen gestorben waren, sind dann auch tatsächlich nacheinander vier dieser eindrucksvollen Riesenkatzen hier eingezogen. Leider ist meine Alice ist die einzige Maine Coon, die heute noch mein Leben teilt.

Kalifornien, Ort meiner Sehnsucht. Sogar die Wüste ist schön, auch wenn die Erinnerung an den Sandsturm, in den wir dort plötzlich gerieten, bis heute mein Herz zum Rasen bringt. Damals war ich sicher, dass ich diesen Sturm nicht überleben würde. Ich habe ihn dann doch überlebt und aus der Vernichtungsangst heraus eine Short Story darüber geschrieben. Kalifornien, Ort meiner Träume. Es macht mich traurig, dass dieses Paradies mit seinen Bewohnern heute so gefährdet ist.

In diesem Sommer gab es übrigens noch eine Sensation. Am Furnace Creek zeigte das Thermometer am 17. August unvorstellbare 54 Grad Celsius und machte das südkalifornische Death Valley in der Mojave Wüste damit zum heißesten Ort der Erde. Dort war es selbst bei meinen Besuchen im Frühling eindrucksvoll heiß und flirrend, aber bei mir ist die Toleranzgrenze ja schon bei Ende 20 Grad erreicht, alles darüber macht mich körperlich krank. Ich weiß noch, wie ich mich im vorigen Jahr bei 42 Grad gefühlt habe: ziemlich tot. Ich hatte übrigens riesiges Glück. Ich durfte die Wüste auch ganz anders erleben. Einige Teile hatten sich in große Blütenteppiche verwandelt, es kam mir vor wie ein Naturwunder und ich war wie verzaubert. Wie können diese Pflanzen dort bloß überleben? Wie mag die Wüste heute aussehen? Ich spüre noch den Blick des Schakals, der stumm meinen Weg kreuzte. Ich höre noch die ohrenbetäubende Stille, die jeden Schritt verschluckte. Und ich hoffe und bete, dass die schrecklichen Feuer bald aufhören.

California Poppy (Steve Harvey/unsplash)

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„Juninacht“ von Hans-Joachim Leidel

Irgendwie schafft es mein Schwiegervater Hans-Joachim Leidel (den ich Jachym nenne) immer noch, mir genau im richtigen Moment einen kleinen Text oder eines seiner Gedichte zu schenken. Wie mag es wohl gerade heute in meine langweiligen Steuerunterlagen gelangt sein? Der Monat ist jedenfalls ideal! Zum ersten Mal gefunden habe ich es im Februar vor acht Jahren in unserem „Spiegelschrank“ in meinem Arbeitszimmer. In „seiner“ Schublade mit Notizen, Zeichnungen, Tagebüchern, unveröffentlichten Texten und unzähligen losen Blättern. Es war Anfang Februar, nur wenige Tage vor Jachyms 50. Todestag. Mein Mann war gerade auf einem Kongress in Berlin, ich war mit den Katzen allein im Haus, ziemlich melancholisch und dachte plötzlich an meinen unbekannten und doch so vertrauten Schwiegervater. Die Schublade hat ein Geheimschloss (genau wie sein alter Schreibtisch) und war gar nicht so leicht zu öffnen (hier im Haus klemmen alle Schubladen, wahrscheinlich weil sie zu voll sind). Außerdem musste ich erst die hohen Bücherberge wegräumen, die ich dauerhaft davor aufgetürmt habe.

Ungefähr zur selben Zeit dachte in einer ganz anderen Stadt noch jemand intensiv an Jachym. Auch er kannte ihn nicht persönlich, und doch schrieb er einen ausführlichen Wikipedia-Eintrag für ihn. Als ich am nächsten Morgen Jachyms Namen googelte, war der Eintrag plötzlich da, und vor mir lag immer noch das gerade entdeckte Gedicht. Mit ein bisschen Unterstützung von Jachym habe ich dann erstaunlich schnell „Lichtreich“, den Verfasser des Wikipedia-Eintrags, von dem ich nur das Pseudonym kannte, ausfindig gemacht, mit ihm Kontakt aufgenommen und ihm ein Foto geschickt.

Erklären kann man diese merkwürdigen Fügungen nicht. Es ist ein bisschen wie „Zauberei“. Aber das Gedicht ist ja auch magisch. Geschrieben in einer einsamen Nacht, in den 1950er Jahren in der Pension „Rauch“ in Hamburg. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn es das heutige Datum gewesen wäre. Bei Jachym ist alles möglich.

Juninacht

Ein Vogelschwarm klirrt kühl im schwarzen Baum,
sanfte Ballons ziehn einsam in die Sterne.
Der Mensch sucht seine Hände in der Ferne
und bettet sie an seiner Schläfe Schaum.

Ach, wie der Mond die Dinge traurig macht!
Durchs Wiesenland sieht man die Weiden steigen.
Zikaden sticken in den blauen Zweigen
den lichten Saum an das Gewand der Nacht. 

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Köln und Corona: Fronleichnam

Weihrauch

Heute, am zweiten Donnerstag nach Pfingsten, feiern die Katholiken Fronleichnam, und es ist zugleich der letzte kirchliche Feiertag vor Weihnachten, der in der Woche liegt. Die meisten fallen auf einen Donnerstag, und zu Nicht-Coronazeiten findet dann entweder mein Malkurs oder mein Literaturkreis (oder auch beide) nicht statt. Doch in den letzten Monaten hat Corona ohnehin alles verhindert.

Fronleichnam gilt als einer der Höhepunkte des katholischen Kirchenjahres, wird besonders prunkvoll begangen und erinnert an das letzte Abendmahl Jesu mit den Jüngern. Den Corona-Podcast mit Christian Drosten gab es zu meiner Verwunderung trotzdem, doch dann fiel mir ein, dass in Berlin heute kein Feiertag ist.

Pontifikalamt vor dem Dom

Kölner, die in der Nähe des Doms leben oder heute morgen früh dorthin gepilgert sind, hatten das besondere Vergnügen, kurz nach halb zehn den Dicken Pitter, die mächtigste unserer Domglocken, läuten zu hören, deren tiefe, dröhnende Stimme nur an den höchsten Feiertagen und zu besonderen Anlässen erklingt.

Auf dem Roncalliplatz hatten sich 300 Gläubige versammelt, jeder hatte einen Stuhl, wahrte den nötigen Abstand und trug eine Maske. Der große Platz sah ungewöhnlich leer und geordnet aus. Alles war anders als sonst. Aber Corona hält sich nun mal nicht an Feste und stört einfach überall.

Weihrauch (Klara Kulikova/unsplash)

Schon der Name Fronleichnam erinnert mich an meine Kindheit. „Wat bedeutet dat komische Wort?“ Fron war ja nichts Schönes und hatte vor allem mit Arbeit, Mühsal, Sklaven und Schufterei zu tun. Fron und Pein hatte ich schon öfter gehört, aber Leichnam war richtig scheußlich. Das waren verstorbene Menschen, also Tote und Kadaver! Kadaver sagten die Männer damals noch ziemlich oft. Vielleicht lag das am Krieg, der gerade erst vorbei war. Dann war ein Fronleichnam wohl so was wie ein misshandelter Toter? Der gegeißelte Jesus von Karfreitag? Oma waren meine Sondierungen wohl ziemlich unheimlich. Wer meiner Vorfahren mir diese journalistische Fragelust vererbt hat, weiß ich nicht. Ich passte ja sowieso nicht in meine Familie. Oder sollte meine Mutter früher auch mal so eine wissensdurstige kleine Nervensäge gewesen sein? Die meisten meiner Fragen habe ich Oma gestellt, denn wir waren uns besonders nah, und zu ihr hatte ich unerschütterliches Vertrauen. Ich konnte mich darauf verlassen, dass alles, was wir besprachen, unter uns blieb. Niemals hat sie mich verpetzt. Als ich mit sieben in die Schule kam, lebte sie bereits nicht mehr, und als ich endlich richtig lesen konnte, entdeckte ich, dass ich die Antworten auf meine Fragen in Büchern viel besser finden konnte als bei meinen Familienmitgliedern. Bücher schimpfen nicht, lachen einen nicht aus, hüllen sich nicht in schweres Schweigen, haben eine Engelsgeduld und seufzen nicht mal genervt.

Fronleichnam

„Wat du immer all wissen willst!“ wunderte sich Oma. Stimmt, ich wollte die Welt, in der ich lebe, verstehen. Wie wunderbar ist heute das Internet, wenn man nur zu suchen versteht! Dort kann ich meinen Wissensdurst sofort stillen. Als Kind hielt ich die Prozession für das Wichtigste an Fronleichnam. Die gab es an diesem Tag zuverlässig, jedes Jahr und in voller Pracht. Das gesamte Dorf war an dem Tag auf den Beinen. Protestanten gab es bei uns ja so gut wie keine, und außerdem hatten wir mit „denen“ ohnehin keinen Kontakt. Als Kinder durften wir mit evangelischen Kindern weder sprechen noch spielen. Und sie auch nicht mit uns.

Altar im Freien

„Hoffentlich wird das Wetter gut!“ sorgte sich Oma vor Fronleichnam tagelang. Aber das war es meistens. An was ich mich vor allem erinnere? Es ging überaus feierlich zu, es gab Gesang und Musik, überall waren Blumen, Girlanden, Sträuße in hohen und kleinen, bauchigen und schmalen Vasen, Blumen in Töpfen, bunte Gestecke, sogar kleine Teppiche aus Blüten. Außerdem gab es vor den Haustüren unzählige weiße und rote Kerzen in Haltern und Leuchtern, kleine Altäre auf zweckentfremdeten Hockern mit weißen Deckchen und Kreuzen aus Holz oder Metall (in allen Variationen), gar nicht so selten (wir lebten ja am Niederrhein) sogar Marienstatuen (Maria ist am Niederrhein allgegenwärtig). Die Dorfbewohner standen in Sonntagskleidung stolz und irgendwie verlegen vor ihren Häusern, bekreuzigten sich, wenn der Zug vorbei kam, oder gingen in der Prozession mit. Es gab Fähnchen schwenkende Kinder, es hingen bunte Fähnchen und Wimpel in den Fenstern, aber vor allem gab es viele, viele Menschen. Einem schüchternen Kind fällt das wohl besonders auf. Oma kannte die meisten und kam aus dem freundlichen Nicken und Zulächeln gar nicht heraus. Sie hat ihr ganzes Leben in diesem Dorf verbracht und war sehr beliebt. Ich ging an ihrer Hand und war stolz auf sie.

Kreuz

Und dann die Prozession selbst! Nur an diesem Tag konnte man den prächtigen bestickten Baldachin, auch Himmel genannt, bewundern, unter dem unser Pastor mit der hocherhobenen Monstranz durch die Straßen zog. Ich weiß nicht mehr, ob wir von der Kirche aus durchs Dorf zogen und zum Schluss auf dem Friedhof vor dem gewaltigen (sehr realistischen) Hochkreuz landeten, wo ebenfalls ein großer, geschmückter Altar aufgestellt war, oder ob wir uns zuerst dort versammelten, die Messe im Freien feierten und erst am Ende gemeinsam in die Kirche zogen. Es spricht viel mehr für die zweite Erinnerung, aber ich sehe irgendwie beides und kann leider niemanden mehr fragen. Vielleicht war das abhängig vom Wetter? Vor allem erinnere ich, dass ich die Stimme von „Herrn Pastor“ draußen auf dem Friedhof nicht gut hören konnte und auch nicht verstand, was genau er sagte, denn wir hatten damals natürlich keine guten Mikrophone. Der Wind wehte seine Sätze einfach in die andere Richtung, aber das machte nichts, denn er redete die meiste Zeit Latein. Auf jeden Fall roch es überall nach Weihrauch, draußen nur in kurzen kleinen Wolken, aber in der Kirche wahrlich betäubend und nebelartig schwer. Zur Erinnerungsauffrischung habe ich mir eben ein Räucherkügelchen angezündet, dabei ist mir dann noch einiges eingefallen, das lange verschüttet war. Ich liebe olfaktorische Trigger.

Die Priester (wir hatten damals vier, unseren Herrn Pastor, zwei Pfarrer im Ruhestand, die im zweiten Pfarrhaus lebten, und auch noch einen Kaplan, der in der Kaplanei wohnte und wunderbar singen konnte) waren in leuchtend helle Gewänder gehüllt, sämtliche Messdiener und Vorbeter marschierten ernst und rotweiß bzw. schwarzweiß vornweg und scharten sich während des Gottesdienstes um den Altar. Und ging da nicht auch noch ein junger Mann am Anfang der Prozession und trug eine Fahne mit Christussymbolen vor sich her? Oder war es das St. Laurentius-Wappen unserer Gemeinde? Vielleicht waren da auch noch zwei junge Männer, die den Kreuzträger flankierten? Die Fotos, die ich im Internet finde, erhärten diese Vermutung.

Monstranz (Jacob Bentzinger/unsplash)

Auf jeden Fall war es ein extrem wichtiges und geheimnisvolles Fest, denn es hatte ja mit „dem Leib Christi“ und mit „der Wandlung“ zu tun, wie Oma mir erklärte. Genau deshalb wurde die Hostie durchs Dorf getragen. Die Vorstellung, dass sich in der Eucharistie das Brot in den Leib Christi verwandelte und der Wein in sein Blut, war mir alles andere als geheuer. „Dann sind wir ja Menschenfresser und Kannibalen!“ Das kam nicht gut. Dafür waren sicher die vielen Märchen verantwortlich, die sie mir dauernd vorlesen musste (beim Erzählen vor dem Schlafengehen schlief sie im dunklen Zimmer neben mir im Bett oft ein und musste tadelnd am Ärmel gezupft werden: „Wat hat die Prinzessin denn dann getan, Oma?“) Sie war sicher der Meinung, dass man solche Fragen nicht mal denken durfte. „Das ist ein ganz großes Geheimnis, Kind!“  Das sah ich ein. Normalerweise wurde der Leib des Herrn in der Monstranz schließlich nicht draußen herumgetragen, sondern stand sicher und unerreichbar im Tabernakel. Oma versuchte übrigens oft, mich durch optische Elemente abzulenken. „Guck mal, Kind, wie schön die Gewänder sind! Und guck mal, da is‘ ja auch die Tochter vom Kohlenmann!“

Die Prozession war eine Art dörflicher Flurumgang mit verschiedenen Stationen, an denen wir alle stehen bleiben. Der Herr Pastor spendete seinen Segen in alle Himmelsrichtungen, alle bekreuzigten sich wieder, und die Prozession endete dann (in meiner Erinnerung meist in der Pfarrkirche) höchst feierlich, wieder mit Weihrauchschwaden und viel Latein. Manchmal kam sogar mein Vorname vor.

Fronleichnam – Beten mit Blumen

Heute kenne ich die Antworten auf die meisten meiner Kinderfragen. Fronleichnam geht auf vrône (mhd. Herr) und lîcham (mhd. Leib) zurück, und der Festumzug soll den Gläubigen zeigen, dass Gott allgegenwärtig ist. Also nichts Dramatisches mit Leiche und Schufterei! Oma konnte kein Mittelhochdeutsch und hat sich diese Fragen ganz bestimmt nie gestellt. Sie nahm ihre Religion an, wie sie kam. Gläubig und unkritisch. Aber inzwischen habe ich zu Fronleichnam noch ganz andere Informationen gefunden. Schade, dass ich Oma damit nicht beeindrucken kann.

Zum ersten Mal wurde das Fest offenbar 1246 in Lüttich gefeiert, und die erste Prozession in Köln fand vermutlich zwischen 1274 und 1279 statt. Das Fest wurde 1264 von Papst Urban IV auf diesen Tag gelegt, und die erste Anregung dazu geht auf eine Vision (oder Traumvision) der heiligen Juliana von Lüttich zurück. Sie sah 1209 den verdunkelten Mond, und Christus erklärte ihr den dunklen Fleck mit dem Fehlen eines eigenen Fests für die Eucharistie. Es bedurfte also dringend eines speziellen Festtags!

Monstranz

Die „Transsubstantiationslehre“, also die Verwandlung von Brot und Wein in das echte Fleisch und Blut Jesu Christi (vorher verstand man beide nur als Symbole), wurde erst 1215 zum Dogma erhoben, und prompt gab es einige Jahrzehnte später noch ein Wunder, ein vielbeachtetes und gleich doppeltes „Blutwunder“.

Im Jahr 1263 kam ein böhmischer Priester namens Peter von Prag, der stark an der „Transsubstantiationslehre“ zweifelte, auf seiner Pilgerreise nach Rom nach Bolsena in die Kirche der Heiligen Christina. Die war schon 304 als Märtyrerin gestorben, und ihr Tag ist der 24. Juli. Die Katakombe ihrer Kirche war bereits berühmt, denn es gab dort geheimnisvolle Blutflecken auf dem Altarstein zu sehen (das erste Blutwunder). Peter von Prag nahm dort an einem Gottesdienst teil, und als er die Hostien für das Abendmahl vorbereiten wollte, bemerkte er leuchtend rote Flecken auf den Oblaten (das zweite Blutwunder). Blutende Hostien! Das konnte nur als eindeutiges Zeichen für den Zweifler gedeutet werden, dass diese Hostien in der Tat keine einfachen Oblaten waren, sondern wahrhaftig der verwandelte Leib Christi! Zufällig weilte der Papst nur wenige Kilometer entfernt auf seinem Sommersitz, erfuhr von dem Blutwunder und war tief beeindruckt. Und so setzte Urban IV in Orvieto schließlich ein Jahr später Fronleichnam ein, das neue Fest für die ganze Kirche.

Oma als junge Frau

Dummerweise gibt sich das kleine Mädchen in mir immer noch nicht zufrieden. „Aber woher kommen die roten Flecken, Oma? Hostien können doch nicht bluten!“ Ich befrage das Internet und meinen Mann – und werde erstaunlich schnell fündig. Rückblickend geht man heute davon aus, dass es sich bei den Verursachern für das „Blut“ um bestimmte gramnegative Stäbchen (Serratia marcescens) handelte, die auf kohlehydrathaltigen Nährböden auffällige Flecken verursachen, die eindrucksvoll und markant rot leuchten. Offenbar waren diese Stäbchen damals ziemlich häufig, denn im Mittelalter gab es einen wahren Boom um blutende Hostien. An den Orten, wo sie gefunden wurden, entstanden gleich berühmte Wallfahrtsstätten, und es folgten Pilgerströme, Ablassbriefe und Wunderheilungen. Martin Luther ließ sich dadurch nicht beeindrucken, bezeichnete die Bluthostien schlichtweg als „Teufelsspuk“ und schaffte für sich das Fest wieder ab. Weihrauch mochte er leider auch nicht besonders, so dass er in der Evangelischen Kirche keine Rolle spielt. Jetzt weiß ich endlich auch, warum Protestanten Fronleichnam nicht feiern! Oma seufzt. Mein Wissensdurst ist jetzt  fast gestillt. Bleibt noch die letzte Frage. „Warum der Papst ausgerechnet dieses Datum gewählt? Gab es vielleicht ein heidnisches Fest, das man unbedingt christlich überlagern wollte? Vielleicht die Sommersonnenwende?“ Bisher habe ich dazu noch nichts gefunden.

Oma, wie ich sie kannte

Den schönen Erinnerungen können meine kritischen Fragen und ernüchternden Antworten übrigens nichts, aber auch gar nichts anhaben. Das Fest bleibt ein Highlight meiner Kindheit und erinnert mich zärtlich an Oma und unsere gemeinsamen Kirchenerlebnisse. Oma hätte das  alles gar nicht wissen wollen. Was sie wohl zu den Früchten meiner Recherche gesagt hätte? „Jetzt hat dat Kind mir dat schöne Fest so richtig verschangeliert!“ Vielleicht stimmt es ja: „Ignorance is Bliss“. Manchmal kann Unwissenheit ein Segen sein. Kritische Geister machen wirklich vor gar nichts Halt. Nicht mal vor Mysterien, Tabus und Blutwundern.

Tut mir leid, Oma. Aber jetzt habe ich den ganzen Tag an die sanfte alte Frau mit den abgearbeiteten Händen gedacht, die ich so geliebt und so früh verloren habe. Wie sehr ich um sie getrauert habe, wurde mir erst viel, viel später bewußt. Die Erinnerungen haben mir gut getan, und vielleicht kann sie es ja da, wo sie jetzt ist, irgendwie spüren? Auf diese Frage erwartet das kleine Mädchen in mir komischerweise ausnahmsweise mal keine Antwort. Vielleicht gehe ich noch kurz in den Garten und halte Ausschau nach einem Schmetterling. „Man kann ja nie wissen.“ Den Satz hab ich von Oma, und er hat mir schon oft geholfen.

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