Toys and Stories – Mausland

Lille und Bror aus der Ukraine

Da im September in der Zeitschrift „1001Miniatur“ ein langer Artikel über meine Mäuse erscheint, ist es wohl an der Zeit, dass ich auch auf meiner Homepage ein wenig mehr über meine große Liebe zur kleinen Welt schreibe.

Puppenstuben und Puppenhäuser haben mich schon als Kind fasziniert, auch wenn ich selbst nur eine einfache Roombox mit zwei Zimmern und ein paar einfachen Möbeln hatte, die meine Mutter zu meinem Kummer irgendwann verschenkte, weil ich angeblich „zu groß“ dafür war. Was für ein Irrtum! Eine meiner Cousinen hatte zum Glück ein antikes Puppenhaus, das mich natürlich wie ein Magnet anzog, wenn wir dort zu Besuch waren. Leider durfte ich es nur bewundernd ansehen und nichts darin anrühren, aber als Erwachsene war ich endlich frei und irgendwann nicht mehr zu halten. Ich habe mein Leben lang „Sächelchen“ gesammelt, wie mein Mann es liebevoll nannte. Ohne Grund, nur weil ich sie schön fand, gern ansah und das Sammeln so viel Spaß machte. Auch kleine Häuser gehörten dazu, aus Holz, Pappe oder Papier, sogar aus Plastik, solange sie schön bemalt oder beklebt waren. Dass ich eines Tages eine umfangreiche, raumgreifende Miniwelt für Mäuse, Hexen und andere Wesen erschaffen würde, habe ich allerdings lange nicht geahnt.

Mein Mann hat meine Neigung stets gefördert, denn er mochte Spielzeug. Wenn wir Weihnachtsbazare, Flohmärkte oder Spielzeugmuseen besuchten, kaufte er mir ausgefallene Miniaturen, am liebsten winzige Weihnachtsdekorationen. Einmal hat mir die nette Dame im Spielzeugmuseum in Rothenburg ob der Tauber sogar einen Minikuchen mit toller Obstgarnitur geschenkt, nachdem mein Mann mir mehrere kleine Kuchen und allerlei andere Schätze gekauft hatte. Bei den Kuchen war ich so entzückt gewesen, dass ich sie am liebsten alle ausgewählt hätte. Das war der Verkäuferin nicht entgangen, und an der Kasse sagte sie: „Und jetzt dürfen Sie sich noch einen Kuchen aussuchen! Weil Sie so viel Spaß an den Sachen haben!“ Dass man mir meine Begeisterung so deutlich anmerkte, hat mich sehr gefreut, denn als Kind konnte ich meine Gefühle leider schlecht bis überhaupt nicht zeigen, schon gar nicht Freude und Begeisterung. Ich stand einfach nur stocksteif da, hatte ein verlegenes kindliches Pokerface und stammelte leise: „Das ist aber schön, Mama!“ Das reichte leider nicht, um meiner extrovertierten, emotional überbordenden  Mutter klarzumachen, dass ich den Gegenstand, den ich gerade fixierte, extrem begehrenswert fand. Und so blieben meine Wünsche fast immer unerfüllt. Meine Schwester dagegen schrie vor Begeisterung laut los „Mama, Mama, das will ich haben! Kaufst du mir das? Bitte, bitte, Mama!“ und bekam prompt, was ihr Herz begehrte. Ich dagegen konnte nicht mal einen ordentlichen Wunschzettel schreiben, weil ich mir immer Sorgen machte, ob das, was ich mir wünschte, nicht vielleicht doch viel zu teuer oder zu schwer zu beschaffen war.

die schüchterne Mimolette aus den Niederlanden

Mein Mann merkte zum Glück immer, wenn ich etwas schön fand und mir wünschte. Er besaß zudem selbst einiges an Spielzeug, als wir uns kennenlernten, was in meinen Augen schon ziemlich ungewöhnlich war. Er hatte nicht nur zwei antike Porzellanpuppen, die einst seiner Großmutter und seiner Mutter gehört hatten, eine umfangreiche Blechspielzeugsammlung sowie eine riesige unvollendete Eisenbahnanlage im Keller, sondern auch einen gut mit winzigen Lebensmitteln bestückten hübschen kleinen Maggi-Laden aus Holz und verschiedene kleine Tiere und Möbel, die er mir alle sofort strahlend überließ. Irgendwann zu Weihnachten überraschte ich ihn mit einem selbstgebauten Marktstand voller Weihnachtsminiaturen, der monatelang  im Wohnzimmer auf einem Regal stand und von den antiken Biegepüppchen bewohnt wurde, die mir mein Mann geschenkt hatte. Jedes Jahr im Advent baute ich zudem unsere Santon-Krippe auf, mit wachsender Hingabe und immer mehr Häusern, Laternen, Bäumen und klitzekleinen Details. Die Mäuse kamen erst später.

Mausland (der Name klingt nicht von ungefähr wie Ausland) wurde 2015 ganz spontan geboren, nachdem ich im Internet die Mäuse der chilenischen Künstlerin Johana Molina entdeckt hatte, einer echten Pionierin der Filzkunst. Cheddar und Mozzarella waren mein Erstkauf in den von mir gerade entdeckten globalen Marktplatz Etsy und brauchten ziemlich lange, bis sie bei uns ankamen, aber Johana hatte ihnen Proviant und Lesestoff mitgegeben, so dass sie die lange Reise gut überstanden. Kurz danach schickte Johana mir meine erste Maushexe, die schwarz gekleidete Caerphilly, die sofort ein Halloweenzimmer in einem Schuhkarton bekam.

Cheddar und Mozzarella aus Chile

Da Mäuse sich bekanntlich rasend schnell vermehren, hatten Cheddar und Mozzarella schon bald etliche Kinder (die ersten waren Tina/Fontina, Parmi/Parmesan, Pecorino und Mimolette), die aus den Niederlanden stammen und von Mireille Booth (bearytalesbymireille), einer anderen Pionierin der Nadelfilzkunst, erschaffen wurden. Mireille ist genau wie ich Übersetzerin und im Laufe der Zeit sind wir gute Internetfreundinnen geworden und haben auch außerhalb der Miniwelt Kontakt. Manchmal überrascht sie mich sogar mit unerwarteten Mauspäckchen! Am Anfang waren  ihre Mäuse noch alle „ooak“ (one of a kind), also Unikate. Dass es sie nur einmal gab, machte sie für mich besonders kostbar. Ich versuche immer noch, ausgefallene Einzelmäuse zu finden, und freue mich, dass Mireille  inzwischen außer dem Etsy Shop auch eine eigene Seite mit ooak-Kreationen hat. Über Mireilles Mäuse könnte ich viele Geschichten erzählen!

Ziemlich schnell entstand eine kleine Welt, in der Mäuse (meist „hochsensibel“, mit individuellen Stärken und Schwächen, Macken, Ängsten und anderen Problemen)  aus aller Herren Länder friedlich zusammenleben und sich liebevoll und humorvoll umeinander kümmern, ganz so, wie man sich die „echte“ Welt wünschen würde. Welche Sprache der andere spricht, welche Farbe er hat und woher er oder sie kommt, ist völlig egal. In Mausland ist für alle Platz. Bis vor kurzem hatten alle meine Mäuse Käsenamen, was damit zusammenhängt, dass ich vor vielen Jahren mit großer Freude ein umfangreiches Käsebuch übersetzt habe. Ich liebe Käse und kenne mich daher ganz gut damit aus. In letzter Zeit habe ich aber auch ungewöhnliche Namen gewählt, die mir die internationalen Mausfans auf meiner Insta-Seite vorgeschlagen haben, einfach weil sie so gut zu der jeweiligen Maus passen. Ich liebe dieses gemeinsame Brainstorming!

Caerphilly aus Chile

Veröffentlicht unter Cheddar & Mozzarella | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Rooms and Stories – Dolomitenholz

Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit in die Dolomiten. Da meine Mutter ihr Dorf nur höchst widerwillig verließ, fuhr mein Vater, der eigentlich gern verreiste, zunächst allein und später, als ich alt genug war, zusammen mit mir in Urlaub. An die Fahrt ins Grödnertal kann ich mich noch gut erinnern. Sie war aufregend, lang und dunkel, denn wir waren nachts unterwegs, weil die Autobahnen dann weniger voll waren. Ich saß vorn auf dem Beifahrersitz, war fest entschlossen, unbedingt wach zu bleiben, hatte eine knisternde Landkarte mit vielen Knickspuren auf dem Schoß und fühlte mich stolz und erwachsen. Ich hatte mir vorgenommen, meinem Vater Geschichten zu erzählen oder mich einfach nur mit ihm zu unterhalten, damit er nicht etwa am Steuer einschlief. Außerdem verfolgte ich regelmäßig mit dem Finger auf der Karte, wo wir gerade waren. Ich war überhaupt nicht müde, nur erwartungsvoll und gespannt. Mein Vater hatte mir schon viel von den Personen erzählt, die ich bald treffen sollte, und auch von den Orten mit den geheimnisvollen Namen, die wir besuchen würden. Seiseralm, Langkofel, Plattkofel, Karer See, Kalterer See, Wolkenstein, St. Christina. Und natürlich St. Ulrich, das gleich zwei Namen hatte und auch Ortisei hieß. Dort würden wir wohnen.

Die Dolomitenreise war ein Abenteuer, das nur mir und meinem Vater gehörte, und während wir uns immer weiter vom Dorf entfernten, fühlte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung immer freier. Angst hatte ich keine, denn in Gegenwart meines Vaters konnte mir schließlich nichts passieren. Auch mein Vater wirkte wie verwandelt, und seine entspannte Stimmung war genauso überraschend wie ansteckend. Sonst war er schließlich fast immer unruhig, nervös und reizbar, man musste extrem vorsichtig sein mit allem, was man sagte und wie man es sagte, aber allein mit mir verwandelte er sich schlagartig in einen gut gelaunten Mann, der gern lachte und mit dem man einfach über alles reden konnte. Er hörte jetzt sogar richtig zu, was er normalerweise nur sehr selten schaffte, weil ihn seine eigenen Probleme so sehr beschäftigten und stressten. Diese Metamorphose wiederholte sich bei jedem unserer gemeinsamen Urlaube. Diesmal fuhren auch meine Cousine, ihr Mann und meine Tante mit, meist waren sie auf der Autobahn vor uns und winkten ab und zu aus einem der Autofenster.  Gemeinsam machten wir Rast, aßen Butterbrote und tranken Kaffee, Cola und Limonade. Mein Vater hatte bei allen Reisen eine riesige Kühltasche dabei, die meine fürsorgliche Mutter bis zum Rand mit Delikatessen angefüllt hatte. Natürlich nur mit Sachen, die er gern aß, vor allem Wurstwaren. Nach ein paar Tagen roch die Riesentasche mit den weißen Henkeln für mich unangenehm und ich mochte daraus nichts mehr essen. Meinem Vater machte das offenbar nichts aus, aber er hatte den Proviant ohnehin rasend schnell verputzt. Er aß ausgesprochen gern, und bei diesem ersten Urlaub aß er meine Portionen immer gleich mit, denn ich tat mich mit unbekannten Gerichten schwer und hatte außerhalb meines Elternhauses ohnehin so gut wie keinen Appetit. Außerdem machte mir meine feine Nase Probleme. Die erste Pizza meines Lebens fand ich völlig ungenießbar, weil mich der Thunfischgeruch fatal an Topsis Katzenfutter erinnerte. Auch den geriebenen Parmesankäse rührte ich nicht an, denn er roch wie eine Mischung aus Schweißfüßen und Erbrochenem. Zum Glück liebe ich inzwischen italienisches Essen. Auch Parmesan.

Als ich die Dolomiten zum ersten Mal sah, war ich überwältigt. Die schiere Größe, die bizarren Formen, die ständig wechselnden Farben! Einige Märchen und Sagen aus der Region kannte ich bereits, ich wußte von Laurin und seinem Rosengarten und von den feinen Bergfräulein, den Vivane, die hoch oben in den Felsen leben. Meine Lieblingsgeschichte vom schönen Gordo, den unheimlichen Hexen und der Quelle des Vergessens las ich erst hier. Mein Vater war schon mehrfach in St. Ulrich gewesen und inzwischen mit der Familie, bei der wir wohnten, gut befreundet. Wir schliefen in einem Doppelzimmer, wohl weil es die preiswerteste Lösung war, vielleicht aber auch, damit ich mich allein nicht fürchtete oder weil mein Vater nachts nicht gern allein war. Leider schnarchte er und ich musste ihn regelmäßig anstupsen oder ihm die Nase zuhalten, damit er Ruhe gab. Aber er murmelte dann nur „Is‘ gut, Kind“ und schlief weiter. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte seine Fähigkeit geerbt, so tief und fest zu schlafen, aber leider bin ich genauso störanfällig wie meine Mutter. Bei der kleinsten Sorge oder Aufregung ist es aus mit der Nachtruhe. Bei späteren Urlauben war das unvermeidliche Doppelzimmer mir ziemlich peinlich, weil die anderen Gäste mich unweigerlich für seine junge Freundin oder Sekretärin hielten, was meinen Vater leider auch noch amüsierte. Bei unserem letzten Urlaub, im Schwarzwald, war ich immerhin schon dreiundzwanzig und wir waren der Skandal der Pension. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass meine Mutter ursprünglich ein Doppelzimmer für meine Schwester und mich und ein Einzelzimmer für meinen Vater gebucht hatte, doch meine Schwester verlor kurz vor der Reise die Lust, und zwei Zimmer waren offenbar zu teuer.

Das Besondere an dem großen Haus in St. Ulrich war der intensive Geruch nach Holz und verschiedenen Ölen und Lacken, denn der Vater und der älteste Sohn waren Herrgottschnitzer und im unteren Teil des Hauses gab es außer der übervollen Werkstatt noch einen riesigen hellen Raum mit zahlreichen Tischen, auf denen Figuren in allen Größen standen, die nur darauf warteten bemalt zu werden. Die meisten waren Heiligenstatuen, aber es gab auch Märchengestalten. Maria zeigte mir den Raum gleich am ersten Tag und ich war hingerissen. Sie war in der Familie für die Bemalung zuständig und ermunterte mich gleich, ihr zu helfen und die Figuren zuerst mit einem speziellen Öl und dann mit Lasurfarben zu behandeln. Ich hätte tagelang in diesem Raum bleiben können, denn ich liebte alles dort, die Atmosphäre, den Geruch, die Geräusche, aber vor allem die Versunkenheit und Konzentration, die Maria ausstrahlte. Der Raum machte mich schlagartig tiefenentspannt. In die abgetrennte Schnitzwerkstatt traute ich mich nur selten, weil ich die beiden Männer bei ihrer wichtigen Arbeit nicht stören wollte.

Ich durfte Zwerge und Zahnstocherfrauen mit riesigen offenen Mündern lasieren und winzige Püppchen mit Hüten lackieren. Die Zwerge waren detailliert gearbeitet und alle unterschiedlich, die Püppchen einfach und sahen alle gleich aus. Wir bemalten die Püppchen in einer ganz bestimmten Reihenfolge, zuerst die Hüte, dann die Gesichter und Körper, zum Schluss kamen Augen und Mund. Geduld war hier sehr wichtig. Zuerst musste alles gut trocknen, solange durfte man die Figuren nicht berühren. Manchmal erinnere ich mich beim Porzellanmalen an die Dolomitentage mit Maria, auch wenn ich nicht glaube, dass es in Marias Werkstatt auch so intensiv nach Nelkenöl roch wie beim Porzellanmalen. Nach jedem Einsatz in der Werkstatt schenkte Maria mir eine der von mir bemalten Figuren, und am Ende besaß ich zwei selbstlasierte Zwerge, eine Zahnstocherfrau und ein Püppchen, dessen Augen zwei exakt gleich große schwarze Pünktchen waren, der Mund war ein winziger roter Strich. Meine Hand hatte beim Malen kein bisschen gezittert, was Maria sehr gelobt hatte.

Auch die anderen Zimmer hatten einen ungewohnten, aber überaus angenehmen Geruch, wahrscheinlich war es auch hier das Holz, denn die Wände waren vertäfelt, möglicherweise auch spezielle Reinigungsmittel, die man hier benutzte. In einem der Zimmer roch es immer ein bisschen nach frischer, warmer Milch. Wenn man abends das Fenster öffnete, war die Bergluft kühl und klar und duftete nach Gras und Blumen. Der Raum, in dem wir auch die Mahlzeiten einnahmen, besaß einen riesigen Kachelofen, auf den man mit Hilfe einer Art Leiter hochklettern konnte. Wenn es regnete oder draußen dunkel wurde, legte ich mich mit Dolomitensagen und dicken Kissen oben auf den Ofen, war für alle unsichtbar und einfach nur glücklich. Es war mein Geheimversteck. So lange ich mich still verhielt, konnte ich alles sehen, aber keiner sah mich. Meine Tante hatte stapelweise Hefte mit Liebesromanen und Arztgeschichten dabei, die aber für mich so langweilig waren, dass ich schon beim zweiten aufgab und nicht verstand, wie man so etwas überhaupt lesen konnte. Doch ihr schien es Spaß zu machen.

Normalerweise wagte ich als Kind nie zu sagen, wenn ich etwas wirklich, wirklich schön fand und unbedingt haben wollte, doch allein mit meinem Vater traute ich mich gleich zweimal. Ich erinnere mich noch an das bange Herzklopfen. Hoffentlich findet er die Sachen nicht zu teuer! Hoffentlich sagt er nicht nein! Das erste Objekt meiner Begierde war ein Märchenbuch mit Dolomitensagen, erzählt von Auguste Lechner. Ich entdeckte es in der Auslage eines Buchladens und es zog mich an wie ein Magnet. Das zweite, weit begehrenswertere Objekt, war eine Hexe aus Holz, die auf einem Bänkchen hockt, eifrig in einem Topf rührt und ein Eichhörnchen auf der Schulter hat. Mein Vater, der Einkäufe jeder Art hasste, äußerst selten in Läden ging und freiwillig eigentlich nur in Gartenmärkte (meine Bandbreite ist bei ähnlicher Grundabneigung zum Glück etwas breiter), machte allerdings zur Bedingung, dass ich mir Buch und Hexe selbst kaufen musste, was mir ein bisschen Angst machte, denn ich verstand die Leute hier nicht wirklich gut und kam auch mit der fremden Währung nicht zurecht. Alles kostete unfaßbar viele hunderte und tausende Lira! Doch ich wollte Buch und Hexe so schrecklich gern, dass ich mich allein mit Papas Geld in den Laden traute und überglücklich mit meinen Trophäen zurückkehrte. Mein Vater blieb währenddessen vor dem Schaufenster stehen, beobachtete mich und rauchte. Damals rauchten fast alle Erwachsenen.

Zu schaffen machte mir nur, dass ich die Höhenluft nicht gut vertrug, denn mir war während der ganzen Zeit fast immer schwindelig und der kleine Finger an meiner linken Hand stach, als steckten ganz viele Nadeln darin. Oben auf der Seiseralm wurde es so schlimm, dass ich zuerst blaß wurde und dann sehr unsicher auf den Beinen. Mein Vater merkte es sofort, nahm mich in seine Arme, trug mich zum Sessellift und wir fuhren zurück ins Tal. Selten habe ich mich so beschützt gefühlt. Dabei war es wunderschön auf der Alm bei den Haflingern mit ihren hellen Mähnen.

Mein Vater tröstete mich und meinte, das würde sich bestimmt schon irgendwie verwachsen. Leider hat es sich nie richtig verwachsen, so sehr ich die Bergwelt auch liebe.

Veröffentlicht unter Erzählungen | Verschlagwortet mit , , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Trees and Stories – Eichen

Herbsteiche (Peggychucair)

Diesmal sinkt der Erinnerungsanker noch tiefer in die Vergangenheit, es ist Ende der 1970er Jahre, mein zweiter Herbst in England. Das Laub leuchtet, meine Wimpern sind nebelfeucht und ich bin mit jemandem zusammen, der noch sehr jung ist und mir niemals wehtun wird. „He has an old soul“, sagt seine Mutter über ihn. „He was always like that, even as a baby.“ Es ist eine tiefe, telepathische Verbundenheit, die leider nur wenige Jahre währt, danach werden wir uns völlig aus den Augen verlieren. Trotzdem finde ich ihn jetzt sofort, höre seine Stimme und sein unbeschwertes Lachen, erkenne seinen besonderen Gang. Er ist sehr groß, sehr schlank, überaus schlaksig und geht ein wenig nach vorn gebeugt wie viele große Menschen. Ein bisschen wie ein Reiher. „You walk like a heron!“ Blaue Augen, schmale Hände, verwuscheltes Haar.

„I want to show you something really special”, sagt er und führt mich durchs Wäldchen am Dorfende. Vorbei am Haus des Schulleiters und dem flammenden Ahorn, vorbei an verwilderten und gepflegten Gärten mit verwitterten Holzschuppen und leeren Kinderschaukeln, vorbei an müden Katzen und kläffenden Hunden. Er leitet mich durch einen dornigen Tunnel aus Brombeerbüschen und wilden Rosenranken, die voller blank polierter Hagebutten hängen. Der Weg ist mühsam, doch dann sehe ich mehrere mächtige Kastanien. Die große Viehweide dahinter mündet in einen Eichenhain, der überraschend aus dem nebeligen Nichts auftaucht. Wie eine Fata Morgana, denke ich. Eben war er doch noch gar nicht da? Zwischen den Kastanien führt ein uralter Holztritt über den Weidezaun. Solche public footpaths durch Felder und Weiden findet man häufig hier in England, die kleinen Treppenstufen oder Leiterchen heißen stiles. Es gibt sie nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein, und gelegentlich führen sie in die Anderswelt. Wir steigen hinüber, er hilft mir, denn ich zaudere, weil mir die vielen Kühe Respekt einflößen. Hand in Hand gehen wir zwischen den Tieren hindurch, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Man muss nur aufpassen, wo man hintritt. „Mind the cowpats, darling.“ Ich mißtraue den Kühen immer noch, weil sie allzu groß und nah sind, doch sie blicken uns nur gelassen aus sanften Augen an.

Als wir uns den Eichen nähern, bleibt er stehen und sagt ein wenig verlegen: „That’s it. My secret place. Paradise.“ Die Bäume müssen uralt sein, knorrig und riesig wie sie sind, einige tragen imposante Mistelbüsche. Viscum album, mystischer Schmarotzer zwischen Himmel und Erde. Hexenbesen. Zaubertrank. Fruchtbarkeitsbringer. Beerenzweige zum Küssen. Fehlen nur noch feierliche weiß gekleideten Gestalten mit Silbersicheln.

Misteln (Cris Fry/unsplash)

Misteln (Chris Fry/unsplash)

Als wir weiter gehen, verändert sich mit einem Mal die Atmosphäre, es wird kühler und stiller, der Ort scheint kurz den Atem anzuhalten, und schließlich umfängt er uns mit unendlich wohltuender Ruhe. Wir haben einen gesegneten Ort betreten, ein geheimes Heiligtum, das uns wohlwollend aufnimmt, vor der Welt schützt und alle belastenden und beunruhigenden Gedanken verschwinden läßt. Mir fallen die „Four Quartets“ von  T.S. Eliot ein. At the still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. Where past and future are gathered. So muss sich die Ewigkeit anfühlen. Die Zeit ist aufgehoben.

Paradise ist der erste thin place, den ich je betreten habe. Ein Ort, an dem sich die Welten treffen. Die unsere und die jenseitige. Wir können nicht sehr oft dort sein, denn ich wohne nicht in seinem Dorf. Als ich viele Jahre später unser Paradise gesucht habe, war es verschwunden. Wahrscheinlich hat man die heiligen Bäume gefällt, um dort Häuser zu bauen. Oder hat es diesen Ort möglicherweise nie wirklich gegeben?

Nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt bin, besucht er die Bäume allein. Um Ruhe zu finden, wenn seine Sehnsucht zu stark wird. Weit weg in Köln spüre ich jedes Mal, wenn er dort ist. Doch jetzt macht ihn Paradise traurig. Weil ich nicht bei ihm bin. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn wir damals die vielen Kontaktmöglichkeiten der heutigen Zeit gehabt hätten? Es war eine Zeit ohne Whatsapp, Facebook und Handys, ohne eMails und digitale Bilder, ohne Computer. Eine qualvolle Zeit für gewaltsam getrennte Liebende.

Wir können einander nur schreiben und in Gedanken und Träumen suchen. Telefonieren zwischen Deutschland und England ist so teuer, dass wir es uns nur selten leisten können, zudem wohnt er noch bei seinen Eltern und ich zunächst wieder im Studentinnenheim, ohne eigenes Telefon. Schließlich finde ich ein winziges Apartment in der Südstadt. Mit eigenem Telefon. Jeden Abend nehmen wir Kontakt auf, sind aufgeregt, schauen immer wieder auf die Uhr, weil wir wissen, dass der andere in der Ferne wartet. Zuerst läßt er bei mir das Telefon klingeln, dann lasse ich bei ihm das Telefon klingeln. Viermal. Unser Abendritual. Erst danach sind wir beruhigt. Alles ist gut. Er denkt noch an mich. Ich denke noch an ihn. Und unsere Gedanken verbinden sich miteinander. Ganz eng. Irgendwo. Hoch über uns in Raum und Zeit. Das machen wir tatsächlich täglich, vier Jahre lang, und schreiben einander auch täglich, nur kommen die Briefe nicht wie erhofft jeden Tag, sondern oft in der falschen Reihenfolge und als Stapel. Ich habe Hunderte seiner Briefe. Er hat genauso viele von mir, wenn er sie nicht längst fortgeworfen hat. Bestimmt hat er das. Sie waren mein Tagebuch damals, anderen Aufzeichnungen habe ich kaum aus unserer Zeit, daher würde ich sie heute gern noch einmal lesen.

Die feierliche Stille im Druidenhain erinnert mich an die kühle Stimmung in gotischen Kathedralen. Um uns herum wispert die Natur, unter unseren Füßen raschelt das Laub, der Wind schenkt uns Spinnwebfäden und lose Blätter, läßt sie nur für uns taumeln und tanzen. Manchmal greift er mitten ins Laub, wirft es lachend in die Luft und dreht sich glücklich im bunten Blätterwirbel. Manchmal steht er auch ganz still und versunken und schaut in die Ferne wie in die Zukunft. In der Nähe scheint es einen Bach zu geben, ich höre deutlich Wasser murmeln. Ihn freut, dass ich es ebenfalls wahrnehme. „Strange, isn’t it? Because there is no water here!“ Wirklich, weit und breit kein Wasser! Wie ist so etwas möglich? Vielleicht war hier einst eine Quelle? Vielleicht ist sie noch da? Unterirdisch? Der Geruch von Pilzen, Erde, feuchtem und trockenem Laub und die warme Gegenwart der großen Tierleiber. Heute trägt er seinen Norwegerpulli und ich meine weinrote Strickjacke.

Eichenlaub (phydc/pixabay)

Wie immer, wenn wir hier sind, spielen wir „Follow my voice“. Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht.

Ich schließe die Augen, höre ihn fortgehen, es schmerzt, dass er sich von mir entfernt, eine Weile höre ich noch seine Schritte, dann wird es immer stiller und ich bekomme Angst, würde am liebsten die Augen öffnen, weil ich fürchte, dass ihn der geheimnisvolle Ort mit Haut und Haaren verschluckt haben könnte. Denn unter all der Friedlichkeit liegt etwas Unheimliches, das Ehrfurcht gebietet. Ich fühle mich allein und verloren und gleichzeitig auf angenehme Weise aufgeregt, freue mich auf das Ende unseres Spiels, freue mich darauf, ihn zu finden.

Aber ich habe versprochen, die Augen geschlossen zu halten, also warte ich geduldig, bis ich seine Stimme höre, die leise meinen Namen ruft. Immer wieder. Von weither. Dann von sehr weither. Ich strecke die Arme aus wie eine Schlafwandlerin und folge seiner Stimme. Quer über die Weide, ein endloser Gang, keine Ahnung, wo ich gerade bin, ich folge nur seiner Stimme. Meine Füße bewegen sich vorsichtig, denn der Boden ist zwar weich und federnd, doch an einigen Stellen matschig und uneben. Ich könnte stolpern oder ausrutschen. Und überall liegen cowpats, in die ich nicht treten möchte. Merkwüdigerweise passiert das nie. Jetzt kommt seine Stimme aus einer anderen Richtig und ich drehe mich nach links, gehe weiter, bis die Stimme näher und näher klingt und ich mich endlich in seinen Armen wiederfinde. Sein Gesicht ist feucht und kühl vom Herbst und er nimmt mein Gesicht in beide Hände, küßt meine Stirn und meine Haare. Mit einem untrüglichen Sinn, den ich nicht benennen kann, spüre ich seinen Körper immer schon lange bevor ich ihn erreiche. Meine Schritte werden immer sicherer, finden mühelos ihren Weg, als würde mich ein starker Magnet anziehen. Als wir uns jetzt umarmen und halten, bin ich so glücklich, dass es mich fast zerreißt. Grenzenloses Vertrauen, perfect bliss, hier zwischen den Druidenbäumen im englischen Herbst, wo es außer uns keine Menschen mehr gibt, nicht hier und nirgendwo sonst auf der Welt. Der Nebel verwebt uns, bis wir uns in einander auflösen.

Jetzt schließt er die Augen und ich entferne mich, verlasse ihn widerstrebend, schreite zwischen den Tieren hindurch in die fernste Ecke der Weide, direkt unter die Eichen, lehne mich an einen der Stämme. Dort bleibe ich und beschließe, diesmal meine Position nicht zu verändern. Ich rufe ihn und sehe, wie er sich vorsichtig in meine Richtung aufmacht. Anders als sonst schließe auch ich jetzt die Augen, um blind zu rufen, in der absoluten Gewissheit, dass er mich finden wird. Ich möchte herausfinden, ob ich sein Näherkommen tatsächlich spüre, wenn ich ihn nicht sehe, und ja, auch diesmal verstärkt sich das Magnetgefühl, nur dass diesmal ich der Magnet bin und ihn anziehe. Endlich stehen wir einander gegenüber, beide mit geschlossenen Augen, und es passiert etwas überaus Merkwürdiges. Ich spüre, wie zu unseren Füßen Blumen aus dem Boden sprießen. „Can you feel that?“ frage ich verwundert. Seine Stimme lächelt. „Of course. Like a tiny island of blossoms.” Später finde ich eine Postkarte, auf der ein Liebespaar im Schnee steht, nur um ihre Füße herum ist der Schnee geschmolzen und es blühen lauter Frühlingsblumen. Das Bild hing viele Jahre neben meinem Schreibtisch.

Plötzlich meldet sich die Angst. „Do you think we will always stay together? Even after you have gone back to Germany?” Daran will ich jetzt mitten im Glück nicht denken. Dass wir schon bald weit weg voneinander sein werden, weil ich mein Studium noch abschließen muss. Wir werden in unterschiedlichen Ländern sein, ein furchtbarer Gedanke. Ich wehre mich gegen die Angst, will nur an die Liebe glauben, obwohl ich ahne, dass Ferne und Abwesenheit uns auseinander zwingen werden. Ich weiß sehr wohl, dass uns jeder Tag dem Abschied näher bringt, aber ich will auch daran nicht denken. „Don’t go. Please. Don’t go. Why don’t you just stay?“ Ich bin hin und her gerissen. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Hier bei ihm. Im Glück. Mir hier eine Arbeit suchen. Doch dann verschwinden alle störenden Gedanken, denn uns schützt der Druidenhain. Paradise. Where the dance is. Where the worlds meet. Follow my voice.

Wir haben doch noch so viele Monate, versuchen wir einander zu trösten. Dann schwört er, dass er immer, so lange er lebt, an mich denken wird, wenn er diesen Ort besucht. „Cross my heart and hope to die.“ Heute bin ich mir sicher, dass ich bei jedem Besuch im heiligen Hain ein kleines Stückchen meiner Seele zurückgelassen habe, und dass sich dabei auch die Eichen tief in mir verwurzelt haben, so dass ich sie und ihn stets finden werde, wenn ich zurückblicke durch mein langes Leben fern von diesem ungewöhnlichen Jungen mit den blauen Augen und den verwuschelten Haaren. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Dass er glücklich ist. Dass er nicht allein ist. Dass er jetzt, in diesem Moment, nicht traurig ist.

The still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. I can only say, there we have been: but I cannot say where. And I cannot say, how long, for that is to place it in time. Der Druidenhain ist aus der Zeit gefallen. Vielleicht gab und gibt es ihn tatsächlich nur für uns. Er wird so lange existieren wie meine Erinnerungen. Ich wünsche mir, dass sie mir nicht genommen werden. Zweimal habe ich aus nächster Nähe mitansehen müssen, was passiert, wenn Erinnerungen ausgelöscht und geraubt werden, wenn Lebensgeschichten verdämmern und spurlos verschwinden. Wenn ein Mensch schon erloschen ist, obwohl er noch lebt.

In that open field, if you do not come too close, if you do not come too close.  Noch gibt es den Druidenhain. Doch jetzt verändert er sich. Der Junge verschwimmt, es wird Nacht, über den Bäumen hängt der Laternenmond. Zwischen den Mistelbüschen klebt schwarz wie ein Scherenschnitt ein leeres Nest, zerzaust von Jahrzehnten der Abwesenheit. The houses are all gone under the sea. The dancers are all gone under the hill. Die sanften Kühe sind fort und unsere Stimmen verweht. Oder doch nicht ganz? Unendlich leise höre ich ihn aus der Ferne meinen Namen rufen. Follow my voice! Die Schatten wachsen. Bald kommt der Herbst. Selbst der Winter hat sich schon längst auf den Weg gemacht.

Eiche (pixabay)

Veröffentlicht unter Erzählungen | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Trees and Stories – Monterey Cypress

Das Bedürfnis zu schreiben kehrt langsam und zaghaft zurück, doch ich muss es irgendwo verankern, wo ich mich unbelastet fühle, damit mich die Traurigkeit nicht gleich wieder lähmt. Manchmal hilft es, zwischendurch in eine andere Zeit mit anderen Menschen abzutauchen, um den Mann, der mir so unendlich fehlt, zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Heute denke ich mich zurück in die USA, in die meine Blicke ohnehin in letzter Zeit oft wandern. Mit zunehmender Hoffnung, denn ich mag Kamala Harris und Tim Walz. Ich glaube, sie hat die richtige Wahl getroffen, vielleicht schaffen sie es trotz des turbulenten, hastigen Wahlkampfs gemeinsam ins Weiße Haus.

Der Blick in die Vergangenheit trägt mich nach Kalifornien, es ist Ostern 1989. Ich bin mit jemandem hier, von dem ich mich längst getrennt habe und mit dem mich kaum noch etwas verbindet, aber diese Reise machen wir noch gemeinsam, damit wenigstens etwas Schönes bleibt. Wir sind in Inverness, das zur Point Reyes National Seashore gehört, einem eindrucksvollen Schutzgebiet an der Pazifikküste. Point Reyes ist eine höchst ungewöhnliche Halbinsel, die hier eigentlich gar nicht sein sollte, sondern südlich, auf der Höhe von Los Angeles, doch Erdbeben und die Verschiebungen der Erdkruste haben sie im Lauf der Zeit an der Westküste tatsächlich 500 km hoch nach Norden bewegt.

Point Reyes liegt auf der Pazifischen Platte, die sich hier unmittelbar an der Nordamerikanischen Platte reibt, verbunden durch die San-Andreas-Verwerfung, die aussieht wie eine riesige Narbe, auf der man auf dem Earthquake Trail sogar wandern und die schönen Wapiti Hirsche beobachten kann. Aber es ist ein seltsames Gefühl, und so ganz werde ich die Angst vor einem Erdbeben auch nicht los. Irgendwie ist diese Landschaft lebensgefährlich. Und schön.

Der März ist kühl und morgens und abends wehen dünne Nebellaken und Weißwolken durch die Luft. Wenn man nach draußen schaut, sieht alles unwirklich aus. Wir verbringen zusammen mit zwei amerikanischen Freunden die Feiertage in einem rustikalen Blockhaus, das auf Stelzen steht und so viele große Glasfenster hat, dass es mir unheimlich ist, weil ich mich unablässig beobachtet fühle. Besonders nachts. Ich meine, draußen in der Dunkelheit lauter schwach leuchtende gelbe und grüne Augenpaare zu sehen, und ganz sicher streifen hier auch zahlreiche Tiere vorbei, vor allem Waschbären, die nachts sogar direkt unter dem Haus rumoren. Zumindest hoffe ich, dass es nur Waschbären sind. Ich traue mich im Dunkeln kaum aus dem Bett. Schon gar nicht ins Bad, das ebenfalls ein riesiges Glasfenster ohne Vorhänge und eine große Glastüre hat. Ich wage nicht, das Licht anzumachen, damit man mich nur ja nicht sieht. Wer weiß, ob nicht auch Monster oder Mörder da draußen herumlungern und mit hungrigem Blick hereinstarren. Die Assoziationen sind höchst unangenehm, denn ich habe schließlich oft genug Alpträume, in denen Bäder oder Zimmer mit durchsichtigen Wänden vorkommen, daher läuft meine innere Alarmanlage auf Hochtouren.

Am Ostersonntag machen wir eine weite Wanderung bis hinunter zum Leuchtturm, wo man mit etwas Glück die riesigen Grauwale vorbeiziehen sehen kann. Doch wir begegnen an diesem Tag nur schnellen Wapitis, brüllenden kalifornischen Seelöwen und krächzenden Raben. Stundenlang sind wir hoch oben auf den Klippen, am Ende bin ich so müde, dass ich kaum noch gehen kann.

Die Bäume, zwischen denen das Blockhaus liegt, erinnern mich an die alten weisen Ents aus Tolkiens „Herr der Ringe“, und fast erwarte ich, dass sie sich bewegen und immer näher ans Haus heranrücken. Sie sehen aus wie magere greise Waldwesen und haben lange grüne Flechtenbärte, die im Wind flattern und fast bis auf den Boden reichen. Morgens hört man den Nebeltau schwer und laut heruntertropfen. Im Inneren des Stelzenhauses ist trotz der Osterkälte noch recht warm, denn wir haben einen riesigen offenen Kamin, in dem der amerikanische Freund abends das Holzfeuer anzündet. Trotzdem ist die Unterseite meiner Matratze, die auf dem Boden liegt, am Morgen so feucht, dass wir sie umdrehen und trocknen lassen müssen. Das Blockhaus erinnert mich an eine riesige offene Scheune, geräumig und lichtdurchflutet. Riechen kann ich selbst vom Feuerrauch nicht viel, denn meine Nase ist völlig zu. Ich habe mir im kalt klimatisierten Flugzeug eine Erkältung eingefangen, die kurze Zeit später in der trockenen Wüstenhitze spontan verschwinden wird, doch das ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Einer der Gründe, warum ich die kalifornischen Wüsten so liebe. Besonders Death Valley, denn da vertrocknete die Erkältung.

Draußen vor dem Blockhaus hängen Wind Chimes, die beim leisesten Luftzug sanft und meditativ klingeln, und für mich ist ihre Musik so angenehm, dass mir dabei Schauern über den Rücken rieseln. Fast fühlt es sich an, als würden die Töne meine Haut zärtlich kitzeln. Es ist ein großes Windspiel, es hängt gleich vor dem Haus, und erst als ich es näher betrachte, entdecke ich den kleinen Grauwal-Anhänger aus Metall. Ach, hätte ich nur auch so ein Windspiel, denke ich und halte fortan in allen Läden Ausschau danach, doch ich werde nicht fündig. Inzwischen habe ich hier im Garten gleich mehrere Wind Chimes aus den USA, von einem Hersteller, der Woodstock heißt, leider alle ohne Wal, und auch ein kleines deutsches gleich vor dem Fenster. Es heißt „Elfenreigen“ und klingt auch so. Ich habe eine milde Synästhesie (Verknüpfung von mehreren Sinnen), was Töne und Musik betrifft, und nehme Klänge und Stimmen nicht nur mit dem Gehör, sondern auch mit dem Körper wahr, an sehr unterschiedlichen Stellen, meistens ist es eher lästig und unangenehm. Schlagzeuggewitter und Rap, Karnevalsschlager und jede Art von lauter oder aggressiver Musik können mein Herz gefährlich aus dem Takt und meine Laune zum Überkochen bringen und Opern und E-Gitarren machen mir mitunter migräneartige stechende Kopfschmerzen. Manche Stimmen bohren sich mir gar spitz und stechend ins Gehirn. Doch es gibt Ausnahmen. Wenn Mark Knopfler E-Gitarre spielt, fühlt es sich angenehm an, und das durchaus heftige Schlagzeug in „Bridge over Troubled Water“ und „In the Dutch Mountains“ versetzt mich geradezu in Entzücken. Richtig bemerkt habe ich meine Synästhesie erst, als ich durch Covid nicht mehr riechen und schmecken konnte und mich bewusst mehr auf meine anderen Sinne konzentriert habe. Ich habe damals sehr viel Musik gehört, und irgendwann fiel mir auf, dass ich offenbar gänzlich anders wahrnehme als die Menschen um mich herum. Heute genieße ich diese Eigenheit durchaus. Musik kann sehr heilsam sein, auch beim Trauern. Man muss nur die richtige Musik auswählen. Am besten die aus einer anderen, unbelasteten Zeit. Es gibt Stimmen und Lieder, die mich im Moment völlig aus der Fassung bringen würden. Ich kann sie ebensowenig ertragen wie den Blick auf den verlorenen Grabhügel. Aus der Point Reyes-Erinnerung höre ich den amerikanischen Freund klar und deutlich bis hierher Gitarre spielen und mit weicher Stimme „San Francisco“ singen. Und schmecke und rieche den frischen Koriander, den er in seiner weißen Küche in Oakland so großzügig in den Salat streut. Koriander habe ich in den letzten Monaten tatsächlich ziemlich häufig gegessen. Es ist offenbar eins meiner Trostkräuter.

Halfmoon Bay 89

An meinem letzten Tag in Point Reyes stehe ich endlich vor dem atemberaubenden Tunnel aus Zypressen. Monterey Cypresses, erklärt der amerikanischer Freund. Gepflanzt wurden sie um 1930 und sind die einzigen großen Bäume, die das raue, stürmische Ozeanklima hier aushalten. Ich betrachte die gebogenen Bäume und denke, dass ich noch nie so etwas Schönes gesehen habe. Aber das denke ich auch, als ich zum ersten Mal die Redwoods und die Sequoias sehe. Und den Grand Canyon und Death Valley. Die Landschaften und Bäume Nordamerikas gehören bis heute zum Eindrucksvollsten, an das ich mich erinnern kann. Selbst wenn ich jetzt nur leise die Namen sage, durchströmt mich ein Glücksgefühl. Seacove Cypress Trees. Moss Beach. Halfmoon Bay. Yosemite. Big Sur. Es gibt ein glückliches Foto von mir in der romantischen Half Moon Bay. Es ist der letzte Abend, es dämmert gerade und ich trage einen dicken warmen braungemusterten Pullover, den meine Mutter mir gestrickt hat. Lange war er mein Lieblingspullover. Bis meine Mutter ihn eines Tages aus Versehen zu heiß gewaschen hat. Danach war er untragbar klein und kratzig und ich hätte ihn am liebsten beweint. Nur auf den Fotos ist er noch so wie er sein sollte. Vielleicht hätte ich ihn selbst geschrumpft und struppig behalten sollen, dann könnte ich ihn jetzt hervorholen und ans Gesicht halten. Sicher würde er immer noch nach Kalifornien und Halfmoon Bay duften. Und nach Zypresse. Monterey Cypress.

Veröffentlicht unter Erzählungen | Verschlagwortet mit , , , , , , | Schreib einen Kommentar

Trees and Stories – Linden

Lindenblätter (pixabay/Nennieinszweidrei)

Im Kirchengarten in meinem Viertel stehen viele große alte Linden. Sie haben längst aufgehört zu blühen, spenden an heißen Tagen aber immer noch ihren wohltuend luftigen „linden“ Schatten. Nach ihrem Duft habe ich mich besonders gesehnt, als ich durch Covid meinen Geruchssinn verloren hatte, und als ich sie zum ersten Mal wieder wahrnahm, habe ich so laut „Linden!“ gejubelt, dass mich anderen Passanten auf dem Bürgersteig verständnislos angestarrt haben. Wenn ich an der Kirche vorbeigehe und in die Wolke aus Lindenduft eintauche, bleibe ich immer stehen und genieße den Moment. Perfect Bliss, wie ich solche Zustände der Entrücktheit auf Englisch nenne.

Lindenblüten (pixabay/OllaPustovalova)

Vieles geht mir bei ihrem Anblick durch den Kopf. Linden, Tilia, sind besondere Bäume. Ihr weiches Holz lässt sich hervorragend bearbeiten und ist ideal für Bildhauer und Schnitzer, auch wenn es leider anfällig für Holzwurmbefall ist. Aus Lindenholz wurden die berühmten Statuen und Altäre von Tilman Riemenschneider und Veit Stoß geschaffen. Lindenholz diente zur Fertigung von Krippen, Spielwaren, Küchengeräten, Furnieren und Fässern, Streichhölzern, Gitarren und Harfen. Aus dem weichen, geschmeidigen Lindenbast wurden früher sogar Kleidung und Matten hergestellt sowie vielerlei Gebrauchsgüter geflochten, etwa Bienenkörbe, Schnüre, Seile und Sattelzeug. Bis heute macht man daraus Bindebast für Gärtner.

Bei den Germanen galt die Linde als heiliger Baum der Freya. Im Christentum wurde sie später zum Marienbaum, in dessen Nähe oft ein Schrein, eine Kapelle oder ein Wegkreuz stand. In Deutschland gab es vielerorts Dorf- und Friedenslinden. Linden wurden bald zum Baum des Volkes, zum beliebten Versammlungsplatz und wegen des Dufts und der hübschen herzförmigen Blätter auch zum Baum der Verliebten. Unter Linden wurden Urteile gesprochen und wichtige Bekanntmachungen verlesen. Luther soll über sie gesagt haben: „Unter den Linden pflegten wir zu singen, trinken und tanzen und fröhlich zu sein, denn die Linde ist uns ein Friede- und Freudebaum.“ Mich erinnert der Duft auch an meine Mutter, die ein Eau de Toilette von D’Orsay liebte, das „Tilleul“ hieß. Es duftete ganz zart und zum Schluß roch es nach Heu. Leider kann man es schon lange nicht mehr kaufen, sonst hätte ich bestimmt eine Flasche davon hier bei mir.

Linden sind außerdem heilkräftige und nährende Bäume, aus ihren Blüten werden der bewährte Lindenblütentee, das hautberuhigende Lindenblütenwasser und wohlschmeckender Honig und Sirup gemacht. Sie können sehr alt werden, manchmal sogar über 500 Jahre. Doch mit dem zunehmend heißen Klima kommen die Bäume nicht zurecht und werden immer anfälliger für Schädlinge und Krankheiten.

Bald tragen sie wieder ihr unauffälliges sanftgelbes Herbstlaub, doch jedes Jahr im Juni strömen ihre winzigen Blüten einen geradezu betörenden Duft aus, der Bienen und Hummeln magisch anzieht. Leider stellen sich dann gleich auch scharenweise die Blattläuse ein. Doch während sich die Anwohner und Parkplatzsucher wohl vor allem über den herabtropfenden klebrigen Honigtau ärgern, kann man auf der Bank im Gemeindegarten direkt an der lärmenden Aachener Straße den Lindenduft in vollen Zügen genießen und unbeschwert seinen Träumen und Erinnerungen nachhängen.

Kleiner Nachtrag zum letzten Post:

Übrigens hat sich die Telekom inzwischen in einem arg verspäteten Brief zu einer Erklärung für die Sperrung meines Handy-Anschlusses herabgelassen. Hätte ich diese Information gleich am Tag der Sperrung als Mail erhalten, wie sonst sämtliche Nachrichten der Telekom, wären mir Schreck und Panik erspart geblieben. Ich gebe übrigens jetzt auf und werde den Anschluss meines Mannes kündigen. Ich bin den Clinch mit der Telekom leid, auch wenn es mich stark an Erpressung erinnert. Kleiner (nicht von mir bearbeiteter!) Ausschnitt aus dem Brief:

„Unsere Anteilnahme zu Ihrem Verlust. Gern unterstützen wir Sie dabei, in dieser sicherlich schwierigen Zeit wenigstens dieses Thema gut zum Abschluss zu bringen. Vorher sind allerdings noch einige Schritte erforderlich – denn durch die Übernahme entsteht ein neuer Vertrag mit Ihnen. Lassen Sie sich ruhig Zeit dafür: Wir haben die Anschlüsse für 30 Tage stillgelegt.“ 

Ja, tatsächlich fett gedruckt und in einer Extrazeile, als wäre es für den Briefempfänger eine wunderbare, hilfreiche Nachricht. Wer in aller Welt kommt auf solche kundenfeindlichen, unsensiblen Ideen? Man sollte der Person und ihrem/seinem Partner (oder Partnerin) zur Belohnung auf jeden Falls sofort die Handy-Anschlüsse für 30 Tage sperren. Oder besser noch: für 60 Tage. 

Linde im Herbst (pixabay/Antranias)

Veröffentlicht unter Erzählungen | Verschlagwortet mit , , , | Schreib einen Kommentar