Rooms and Stories – Dolomitenholz

Als ich zwölf Jahre alt war, nahm mich mein Vater zum ersten Mal mit in die Dolomiten. Da meine Mutter ihr Dorf nur höchst widerwillig verließ, fuhr mein Vater, der eigentlich gern verreiste, zunächst allein und später, als ich alt genug war, zusammen mit mir in Urlaub. An die Fahrt ins Grödnertal kann ich mich noch gut erinnern. Sie war aufregend, lang und dunkel, denn wir waren nachts unterwegs, weil die Autobahnen dann weniger voll waren. Ich saß vorn auf dem Beifahrersitz, war fest entschlossen, unbedingt wach zu bleiben, hatte eine knisternde Landkarte mit vielen Knickspuren auf dem Schoß und fühlte mich stolz und erwachsen. Ich hatte mir vorgenommen, meinem Vater Geschichten zu erzählen oder mich einfach nur mit ihm zu unterhalten, damit er nicht etwa am Steuer einschlief. Außerdem verfolgte ich regelmäßig mit dem Finger auf der Karte, wo wir gerade waren. Ich war überhaupt nicht müde, nur erwartungsvoll und gespannt. Mein Vater hatte mir schon viel von den Personen erzählt, die ich bald treffen sollte, und auch von den Orten mit den geheimnisvollen Namen, die wir besuchen würden. Seiseralm, Langkofel, Plattkofel, Karer See, Kalterer See, Wolkenstein, St. Christina. Und natürlich St. Ulrich, das gleich zwei Namen hatte und auch Ortisei hieß. Dort würden wir wohnen.

Die Dolomitenreise war ein Abenteuer, das nur mir und meinem Vater gehörte, und während wir uns immer weiter vom Dorf entfernten, fühlte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung immer freier. Angst hatte ich keine, denn in Gegenwart meines Vaters konnte mir schließlich nichts passieren. Auch mein Vater wirkte wie verwandelt, und seine entspannte Stimmung war genauso überraschend wie ansteckend. Sonst war er schließlich fast immer unruhig, nervös und reizbar, man musste extrem vorsichtig sein mit allem, was man sagte und wie man es sagte, aber allein mit mir verwandelte er sich schlagartig in einen gut gelaunten Mann, der gern lachte und mit dem man einfach über alles reden konnte. Er hörte jetzt sogar richtig zu, was er normalerweise nur sehr selten schaffte, weil ihn seine eigenen Probleme so sehr beschäftigten und stressten. Diese Metamorphose wiederholte sich bei jedem unserer gemeinsamen Urlaube. Diesmal fuhren auch meine Cousine, ihr Mann und meine Tante mit, meist waren sie auf der Autobahn vor uns und winkten ab und zu aus einem der Autofenster.  Gemeinsam machten wir Rast, aßen Butterbrote und tranken Kaffee, Cola und Limonade. Mein Vater hatte bei allen Reisen eine riesige Kühltasche dabei, die meine fürsorgliche Mutter bis zum Rand mit Delikatessen angefüllt hatte. Natürlich nur mit Sachen, die er gern aß, vor allem Wurstwaren. Nach ein paar Tagen roch die Riesentasche mit den weißen Henkeln für mich unangenehm und ich mochte daraus nichts mehr essen. Meinem Vater machte das offenbar nichts aus, aber er hatte den Proviant ohnehin rasend schnell verputzt. Er aß ausgesprochen gern, und bei diesem ersten Urlaub aß er meine Portionen immer gleich mit, denn ich tat mich mit unbekannten Gerichten schwer und hatte außerhalb meines Elternhauses ohnehin so gut wie keinen Appetit. Außerdem machte mir meine feine Nase Probleme. Die erste Pizza meines Lebens fand ich völlig ungenießbar, weil mich der Thunfischgeruch fatal an Topsis Katzenfutter erinnerte. Auch den geriebenen Parmesankäse rührte ich nicht an, denn er roch wie eine Mischung aus Schweißfüßen und Erbrochenem. Zum Glück liebe ich inzwischen italienisches Essen. Auch Parmesan.

Als ich die Dolomiten zum ersten Mal sah, war ich überwältigt. Die schiere Größe, die bizarren Formen, die ständig wechselnden Farben! Einige Märchen und Sagen aus der Region kannte ich bereits, ich wußte von Laurin und seinem Rosengarten und von den feinen Bergfräulein, den Vivane, die hoch oben in den Felsen leben. Meine Lieblingsgeschichte vom schönen Gordo, den unheimlichen Hexen und der Quelle des Vergessens las ich erst hier. Mein Vater war schon mehrfach in St. Ulrich gewesen und inzwischen mit der Familie, bei der wir wohnten, gut befreundet. Wir schliefen in einem Doppelzimmer, wohl weil es die preiswerteste Lösung war, vielleicht aber auch, damit ich mich allein nicht fürchtete oder weil mein Vater nachts nicht gern allein war. Leider schnarchte er und ich musste ihn regelmäßig anstupsen oder ihm die Nase zuhalten, damit er Ruhe gab. Aber er murmelte dann nur „Is‘ gut, Kind“ und schlief weiter. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte seine Fähigkeit geerbt, so tief und fest zu schlafen, aber leider bin ich genauso störanfällig wie meine Mutter. Bei der kleinsten Sorge oder Aufregung ist es aus mit der Nachtruhe. Bei späteren Urlauben war das unvermeidliche Doppelzimmer mir ziemlich peinlich, weil die anderen Gäste mich unweigerlich für seine junge Freundin oder Sekretärin hielten, was meinen Vater leider auch noch amüsierte. Bei unserem letzten Urlaub, im Schwarzwald, war ich immerhin schon dreiundzwanzig und wir waren der Skandal der Pension. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass meine Mutter ursprünglich ein Doppelzimmer für meine Schwester und mich und ein Einzelzimmer für meinen Vater gebucht hatte, doch meine Schwester verlor kurz vor der Reise die Lust, und zwei Zimmer waren offenbar zu teuer.

Das Besondere an dem großen Haus in St. Ulrich war der intensive Geruch nach Holz und verschiedenen Ölen und Lacken, denn der Vater und der älteste Sohn waren Herrgottschnitzer und im unteren Teil des Hauses gab es außer der übervollen Werkstatt noch einen riesigen hellen Raum mit zahlreichen Tischen, auf denen Figuren in allen Größen standen, die nur darauf warteten bemalt zu werden. Die meisten waren Heiligenstatuen, aber es gab auch Märchengestalten. Maria zeigte mir den Raum gleich am ersten Tag und ich war hingerissen. Sie war in der Familie für die Bemalung zuständig und ermunterte mich gleich, ihr zu helfen und die Figuren zuerst mit einem speziellen Öl und dann mit Lasurfarben zu behandeln. Ich hätte tagelang in diesem Raum bleiben können, denn ich liebte alles dort, die Atmosphäre, den Geruch, die Geräusche, aber vor allem die Versunkenheit und Konzentration, die Maria ausstrahlte. Der Raum machte mich schlagartig tiefenentspannt. In die abgetrennte Schnitzwerkstatt traute ich mich nur selten, weil ich die beiden Männer bei ihrer wichtigen Arbeit nicht stören wollte.

Ich durfte Zwerge und Zahnstocherfrauen mit riesigen offenen Mündern lasieren und winzige Püppchen mit Hüten lackieren. Die Zwerge waren detailliert gearbeitet und alle unterschiedlich, die Püppchen einfach und sahen alle gleich aus. Wir bemalten die Püppchen in einer ganz bestimmten Reihenfolge, zuerst die Hüte, dann die Gesichter und Körper, zum Schluss kamen Augen und Mund. Geduld war hier sehr wichtig. Zuerst musste alles gut trocknen, solange durfte man die Figuren nicht berühren. Manchmal erinnere ich mich beim Porzellanmalen an die Dolomitentage mit Maria, auch wenn ich nicht glaube, dass es in Marias Werkstatt auch so intensiv nach Nelkenöl roch wie beim Porzellanmalen. Nach jedem Einsatz in der Werkstatt schenkte Maria mir eine der von mir bemalten Figuren, und am Ende besaß ich zwei selbstlasierte Zwerge, eine Zahnstocherfrau und ein Püppchen, dessen Augen zwei exakt gleich große schwarze Pünktchen waren, der Mund war ein winziger roter Strich. Meine Hand hatte beim Malen kein bisschen gezittert, was Maria sehr gelobt hatte.

Auch die anderen Zimmer hatten einen ungewohnten, aber überaus angenehmen Geruch, wahrscheinlich war es auch hier das Holz, denn die Wände waren vertäfelt, möglicherweise auch spezielle Reinigungsmittel, die man hier benutzte. In einem der Zimmer roch es immer ein bisschen nach frischer, warmer Milch. Wenn man abends das Fenster öffnete, war die Bergluft kühl und klar und duftete nach Gras und Blumen. Der Raum, in dem wir auch die Mahlzeiten einnahmen, besaß einen riesigen Kachelofen, auf den man mit Hilfe einer Art Leiter hochklettern konnte. Wenn es regnete oder draußen dunkel wurde, legte ich mich mit Dolomitensagen und dicken Kissen oben auf den Ofen, war für alle unsichtbar und einfach nur glücklich. Es war mein Geheimversteck. So lange ich mich still verhielt, konnte ich alles sehen, aber keiner sah mich. Meine Tante hatte stapelweise Hefte mit Liebesromanen und Arztgeschichten dabei, die aber für mich so langweilig waren, dass ich schon beim zweiten aufgab und nicht verstand, wie man so etwas überhaupt lesen konnte. Doch ihr schien es Spaß zu machen.

Normalerweise wagte ich als Kind nie zu sagen, wenn ich etwas wirklich, wirklich schön fand und unbedingt haben wollte, doch allein mit meinem Vater traute ich mich gleich zweimal. Ich erinnere mich noch an das bange Herzklopfen. Hoffentlich findet er die Sachen nicht zu teuer! Hoffentlich sagt er nicht nein! Das erste Objekt meiner Begierde war ein Märchenbuch mit Dolomitensagen, erzählt von Auguste Lechner. Ich entdeckte es in der Auslage eines Buchladens und es zog mich an wie ein Magnet. Das zweite, weit begehrenswertere Objekt, war eine Hexe aus Holz, die auf einem Bänkchen hockt, eifrig in einem Topf rührt und ein Eichhörnchen auf der Schulter hat. Mein Vater, der Einkäufe jeder Art hasste, äußerst selten in Läden ging und freiwillig eigentlich nur in Gartenmärkte (meine Bandbreite ist bei ähnlicher Grundabneigung zum Glück etwas breiter), machte allerdings zur Bedingung, dass ich mir Buch und Hexe selbst kaufen musste, was mir ein bisschen Angst machte, denn ich verstand die Leute hier nicht wirklich gut und kam auch mit der fremden Währung nicht zurecht. Alles kostete unfaßbar viele hunderte und tausende Lira! Doch ich wollte Buch und Hexe so schrecklich gern, dass ich mich allein mit Papas Geld in den Laden traute und überglücklich mit meinen Trophäen zurückkehrte. Mein Vater blieb währenddessen vor dem Schaufenster stehen, beobachtete mich und rauchte. Damals rauchten fast alle Erwachsenen.

Zu schaffen machte mir nur, dass ich die Höhenluft nicht gut vertrug, denn mir war während der ganzen Zeit fast immer schwindelig und der kleine Finger an meiner linken Hand stach, als steckten ganz viele Nadeln darin. Oben auf der Seiseralm wurde es so schlimm, dass ich zuerst blaß wurde und dann sehr unsicher auf den Beinen. Mein Vater merkte es sofort, nahm mich in seine Arme, trug mich zum Sessellift und wir fuhren zurück ins Tal. Selten habe ich mich so beschützt gefühlt. Dabei war es wunderschön auf der Alm bei den Haflingern mit ihren hellen Mähnen.

Mein Vater tröstete mich und meinte, das würde sich bestimmt schon irgendwie verwachsen. Leider hat es sich nie richtig verwachsen, so sehr ich die Bergwelt auch liebe.

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Trees and Stories – Eichen

Herbsteiche (Peggychucair)

Diesmal sinkt der Erinnerungsanker noch tiefer in die Vergangenheit, es ist Ende der 1970er Jahre, mein zweiter Herbst in England. Das Laub leuchtet, meine Wimpern sind nebelfeucht und ich bin mit jemandem zusammen, der noch sehr jung ist und mir niemals wehtun wird. „He has an old soul“, sagt seine Mutter über ihn. „He was always like that, even as a baby.“ Es ist eine tiefe, telepathische Verbundenheit, die leider nur wenige Jahre währt, danach werden wir uns völlig aus den Augen verlieren. Trotzdem finde ich ihn jetzt sofort, höre seine Stimme und sein unbeschwertes Lachen, erkenne seinen besonderen Gang. Er ist sehr groß, sehr schlank, überaus schlaksig und geht ein wenig nach vorn gebeugt wie viele große Menschen. Ein bisschen wie ein Reiher. „You walk like a heron!“ Blaue Augen, schmale Hände, verwuscheltes Haar.

„I want to show you something really special”, sagt er und führt mich durchs Wäldchen am Dorfende. Vorbei am Haus des Schulleiters und dem flammenden Ahorn, vorbei an verwilderten und gepflegten Gärten mit verwitterten Holzschuppen und leeren Kinderschaukeln, vorbei an müden Katzen und kläffenden Hunden. Er leitet mich durch einen dornigen Tunnel aus Brombeerbüschen und wilden Rosenranken, die voller blank polierter Hagebutten hängen. Der Weg ist mühsam, doch dann sehe ich mehrere mächtige Kastanien. Die große Viehweide dahinter mündet in einen Eichenhain, der überraschend aus dem nebeligen Nichts auftaucht. Wie eine Fata Morgana, denke ich. Eben war er doch noch gar nicht da? Zwischen den Kastanien führt ein uralter Holztritt über den Weidezaun. Solche public footpaths durch Felder und Weiden findet man häufig hier in England, die kleinen Treppenstufen oder Leiterchen heißen stiles. Es gibt sie nicht nur aus Holz, sondern auch aus Stein, und gelegentlich führen sie in die Anderswelt. Wir steigen hinüber, er hilft mir, denn ich zaudere, weil mir die vielen Kühe Respekt einflößen. Hand in Hand gehen wir zwischen den Tieren hindurch, die sich nicht aus der Ruhe bringen lassen. Man muss nur aufpassen, wo man hintritt. „Mind the cowpats, darling.“ Ich mißtraue den Kühen immer noch, weil sie allzu groß und nah sind, doch sie blicken uns nur gelassen aus sanften Augen an.

Als wir uns den Eichen nähern, bleibt er stehen und sagt ein wenig verlegen: „That’s it. My secret place. Paradise.“ Die Bäume müssen uralt sein, knorrig und riesig wie sie sind, einige tragen imposante Mistelbüsche. Viscum album, mystischer Schmarotzer zwischen Himmel und Erde. Hexenbesen. Zaubertrank. Fruchtbarkeitsbringer. Beerenzweige zum Küssen. Fehlen nur noch feierliche weiß gekleideten Gestalten mit Silbersicheln.

Misteln (Cris Fry/unsplash)

Misteln (Chris Fry/unsplash)

Als wir weiter gehen, verändert sich mit einem Mal die Atmosphäre, es wird kühler und stiller, der Ort scheint kurz den Atem anzuhalten, und schließlich umfängt er uns mit unendlich wohltuender Ruhe. Wir haben einen gesegneten Ort betreten, ein geheimes Heiligtum, das uns wohlwollend aufnimmt, vor der Welt schützt und alle belastenden und beunruhigenden Gedanken verschwinden läßt. Mir fallen die „Four Quartets“ von  T.S. Eliot ein. At the still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. Where past and future are gathered. So muss sich die Ewigkeit anfühlen. Die Zeit ist aufgehoben.

Paradise ist der erste thin place, den ich je betreten habe. Ein Ort, an dem sich die Welten treffen. Die unsere und die jenseitige. Wir können nicht sehr oft dort sein, denn ich wohne nicht in seinem Dorf. Als ich viele Jahre später unser Paradise gesucht habe, war es verschwunden. Wahrscheinlich hat man die heiligen Bäume gefällt, um dort Häuser zu bauen. Oder hat es diesen Ort möglicherweise nie wirklich gegeben?

Nachdem ich nach Deutschland zurückgekehrt bin, besucht er die Bäume allein. Um Ruhe zu finden, wenn seine Sehnsucht zu stark wird. Weit weg in Köln spüre ich jedes Mal, wenn er dort ist. Doch jetzt macht ihn Paradise traurig. Weil ich nicht bei ihm bin. Was wäre wohl aus uns geworden, wenn wir damals die vielen Kontaktmöglichkeiten der heutigen Zeit gehabt hätten? Es war eine Zeit ohne Whatsapp, Facebook und Handys, ohne eMails und digitale Bilder, ohne Computer. Eine qualvolle Zeit für gewaltsam getrennte Liebende.

Wir können einander nur schreiben und in Gedanken und Träumen suchen. Telefonieren zwischen Deutschland und England ist so teuer, dass wir es uns nur selten leisten können, zudem wohnt er noch bei seinen Eltern und ich zunächst wieder im Studentinnenheim, ohne eigenes Telefon. Schließlich finde ich ein winziges Apartment in der Südstadt. Mit eigenem Telefon. Jeden Abend nehmen wir Kontakt auf, sind aufgeregt, schauen immer wieder auf die Uhr, weil wir wissen, dass der andere in der Ferne wartet. Zuerst läßt er bei mir das Telefon klingeln, dann lasse ich bei ihm das Telefon klingeln. Viermal. Unser Abendritual. Erst danach sind wir beruhigt. Alles ist gut. Er denkt noch an mich. Ich denke noch an ihn. Und unsere Gedanken verbinden sich miteinander. Ganz eng. Irgendwo. Hoch über uns in Raum und Zeit. Das machen wir tatsächlich täglich, vier Jahre lang, und schreiben einander auch täglich, nur kommen die Briefe nicht wie erhofft jeden Tag, sondern oft in der falschen Reihenfolge und als Stapel. Ich habe Hunderte seiner Briefe. Er hat genauso viele von mir, wenn er sie nicht längst fortgeworfen hat. Bestimmt hat er das. Sie waren mein Tagebuch damals, anderen Aufzeichnungen habe ich kaum aus unserer Zeit, daher würde ich sie heute gern noch einmal lesen.

Die feierliche Stille im Druidenhain erinnert mich an die kühle Stimmung in gotischen Kathedralen. Um uns herum wispert die Natur, unter unseren Füßen raschelt das Laub, der Wind schenkt uns Spinnwebfäden und lose Blätter, läßt sie nur für uns taumeln und tanzen. Manchmal greift er mitten ins Laub, wirft es lachend in die Luft und dreht sich glücklich im bunten Blätterwirbel. Manchmal steht er auch ganz still und versunken und schaut in die Ferne wie in die Zukunft. In der Nähe scheint es einen Bach zu geben, ich höre deutlich Wasser murmeln. Ihn freut, dass ich es ebenfalls wahrnehme. „Strange, isn’t it? Because there is no water here!“ Wirklich, weit und breit kein Wasser! Wie ist so etwas möglich? Vielleicht war hier einst eine Quelle? Vielleicht ist sie noch da? Unterirdisch? Der Geruch von Pilzen, Erde, feuchtem und trockenem Laub und die warme Gegenwart der großen Tierleiber. Heute trägt er seinen Norwegerpulli und ich meine weinrote Strickjacke.

Eichenlaub (phydc/pixabay)

Wie immer, wenn wir hier sind, spielen wir „Follow my voice“. Wie lange habe ich daran nicht mehr gedacht.

Ich schließe die Augen, höre ihn fortgehen, es schmerzt, dass er sich von mir entfernt, eine Weile höre ich noch seine Schritte, dann wird es immer stiller und ich bekomme Angst, würde am liebsten die Augen öffnen, weil ich fürchte, dass ihn der geheimnisvolle Ort mit Haut und Haaren verschluckt haben könnte. Denn unter all der Friedlichkeit liegt etwas Unheimliches, das Ehrfurcht gebietet. Ich fühle mich allein und verloren und gleichzeitig auf angenehme Weise aufgeregt, freue mich auf das Ende unseres Spiels, freue mich darauf, ihn zu finden.

Aber ich habe versprochen, die Augen geschlossen zu halten, also warte ich geduldig, bis ich seine Stimme höre, die leise meinen Namen ruft. Immer wieder. Von weither. Dann von sehr weither. Ich strecke die Arme aus wie eine Schlafwandlerin und folge seiner Stimme. Quer über die Weide, ein endloser Gang, keine Ahnung, wo ich gerade bin, ich folge nur seiner Stimme. Meine Füße bewegen sich vorsichtig, denn der Boden ist zwar weich und federnd, doch an einigen Stellen matschig und uneben. Ich könnte stolpern oder ausrutschen. Und überall liegen cowpats, in die ich nicht treten möchte. Merkwüdigerweise passiert das nie. Jetzt kommt seine Stimme aus einer anderen Richtig und ich drehe mich nach links, gehe weiter, bis die Stimme näher und näher klingt und ich mich endlich in seinen Armen wiederfinde. Sein Gesicht ist feucht und kühl vom Herbst und er nimmt mein Gesicht in beide Hände, küßt meine Stirn und meine Haare. Mit einem untrüglichen Sinn, den ich nicht benennen kann, spüre ich seinen Körper immer schon lange bevor ich ihn erreiche. Meine Schritte werden immer sicherer, finden mühelos ihren Weg, als würde mich ein starker Magnet anziehen. Als wir uns jetzt umarmen und halten, bin ich so glücklich, dass es mich fast zerreißt. Grenzenloses Vertrauen, perfect bliss, hier zwischen den Druidenbäumen im englischen Herbst, wo es außer uns keine Menschen mehr gibt, nicht hier und nirgendwo sonst auf der Welt. Der Nebel verwebt uns, bis wir uns in einander auflösen.

Jetzt schließt er die Augen und ich entferne mich, verlasse ihn widerstrebend, schreite zwischen den Tieren hindurch in die fernste Ecke der Weide, direkt unter die Eichen, lehne mich an einen der Stämme. Dort bleibe ich und beschließe, diesmal meine Position nicht zu verändern. Ich rufe ihn und sehe, wie er sich vorsichtig in meine Richtung aufmacht. Anders als sonst schließe auch ich jetzt die Augen, um blind zu rufen, in der absoluten Gewissheit, dass er mich finden wird. Ich möchte herausfinden, ob ich sein Näherkommen tatsächlich spüre, wenn ich ihn nicht sehe, und ja, auch diesmal verstärkt sich das Magnetgefühl, nur dass diesmal ich der Magnet bin und ihn anziehe. Endlich stehen wir einander gegenüber, beide mit geschlossenen Augen, und es passiert etwas überaus Merkwürdiges. Ich spüre, wie zu unseren Füßen Blumen aus dem Boden sprießen. „Can you feel that?“ frage ich verwundert. Seine Stimme lächelt. „Of course. Like a tiny island of blossoms.” Später finde ich eine Postkarte, auf der ein Liebespaar im Schnee steht, nur um ihre Füße herum ist der Schnee geschmolzen und es blühen lauter Frühlingsblumen. Das Bild hing viele Jahre neben meinem Schreibtisch.

Plötzlich meldet sich die Angst. „Do you think we will always stay together? Even after you have gone back to Germany?” Daran will ich jetzt mitten im Glück nicht denken. Dass wir schon bald weit weg voneinander sein werden, weil ich mein Studium noch abschließen muss. Wir werden in unterschiedlichen Ländern sein, ein furchtbarer Gedanke. Ich wehre mich gegen die Angst, will nur an die Liebe glauben, obwohl ich ahne, dass Ferne und Abwesenheit uns auseinander zwingen werden. Ich weiß sehr wohl, dass uns jeder Tag dem Abschied näher bringt, aber ich will auch daran nicht denken. „Don’t go. Please. Don’t go. Why don’t you just stay?“ Ich bin hin und her gerissen. Vielleicht sollte ich wirklich bleiben. Hier bei ihm. Im Glück. Mir hier eine Arbeit suchen. Doch dann verschwinden alle störenden Gedanken, denn uns schützt der Druidenhain. Paradise. Where the dance is. Where the worlds meet. Follow my voice.

Wir haben doch noch so viele Monate, versuchen wir einander zu trösten. Dann schwört er, dass er immer, so lange er lebt, an mich denken wird, wenn er diesen Ort besucht. „Cross my heart and hope to die.“ Heute bin ich mir sicher, dass ich bei jedem Besuch im heiligen Hain ein kleines Stückchen meiner Seele zurückgelassen habe, und dass sich dabei auch die Eichen tief in mir verwurzelt haben, so dass ich sie und ihn stets finden werde, wenn ich zurückblicke durch mein langes Leben fern von diesem ungewöhnlichen Jungen mit den blauen Augen und den verwuschelten Haaren. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Dass er glücklich ist. Dass er nicht allein ist. Dass er jetzt, in diesem Moment, nicht traurig ist.

The still point of the turning world. Where the dance is. And only the dance. I can only say, there we have been: but I cannot say where. And I cannot say, how long, for that is to place it in time. Der Druidenhain ist aus der Zeit gefallen. Vielleicht gab und gibt es ihn tatsächlich nur für uns. Er wird so lange existieren wie meine Erinnerungen. Ich wünsche mir, dass sie mir nicht genommen werden. Zweimal habe ich aus nächster Nähe mitansehen müssen, was passiert, wenn Erinnerungen ausgelöscht und geraubt werden, wenn Lebensgeschichten verdämmern und spurlos verschwinden. Wenn ein Mensch schon erloschen ist, obwohl er noch lebt.

In that open field, if you do not come too close, if you do not come too close.  Noch gibt es den Druidenhain. Doch jetzt verändert er sich. Der Junge verschwimmt, es wird Nacht, über den Bäumen hängt der Laternenmond. Zwischen den Mistelbüschen klebt schwarz wie ein Scherenschnitt ein leeres Nest, zerzaust von Jahrzehnten der Abwesenheit. The houses are all gone under the sea. The dancers are all gone under the hill. Die sanften Kühe sind fort und unsere Stimmen verweht. Oder doch nicht ganz? Unendlich leise höre ich ihn aus der Ferne meinen Namen rufen. Follow my voice! Die Schatten wachsen. Bald kommt der Herbst. Selbst der Winter hat sich schon längst auf den Weg gemacht.

Eiche (pixabay)

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Trees and Stories – Monterey Cypress

Das Bedürfnis zu schreiben kehrt langsam und zaghaft zurück, doch ich muss es irgendwo verankern, wo ich mich unbelastet fühle, damit mich die Traurigkeit nicht gleich wieder lähmt. Manchmal hilft es, zwischendurch in eine andere Zeit mit anderen Menschen abzutauchen, um den Mann, der mir so unendlich fehlt, zumindest für kurze Zeit zu vergessen. Heute denke ich mich zurück in die USA, in die meine Blicke ohnehin in letzter Zeit oft wandern. Mit zunehmender Hoffnung, denn ich mag Kamala Harris und Tim Walz. Ich glaube, sie hat die richtige Wahl getroffen, vielleicht schaffen sie es trotz des turbulenten, hastigen Wahlkampfs gemeinsam ins Weiße Haus.

Der Blick in die Vergangenheit trägt mich nach Kalifornien, es ist Ostern 1989. Ich bin mit jemandem hier, von dem ich mich längst getrennt habe und mit dem mich kaum noch etwas verbindet, aber diese Reise machen wir noch gemeinsam, damit wenigstens etwas Schönes bleibt. Wir sind in Inverness, das zur Point Reyes National Seashore gehört, einem eindrucksvollen Schutzgebiet an der Pazifikküste. Point Reyes ist eine höchst ungewöhnliche Halbinsel, die hier eigentlich gar nicht sein sollte, sondern südlich, auf der Höhe von Los Angeles, doch Erdbeben und die Verschiebungen der Erdkruste haben sie im Lauf der Zeit an der Westküste tatsächlich 500 km hoch nach Norden bewegt.

Point Reyes liegt auf der Pazifischen Platte, die sich hier unmittelbar an der Nordamerikanischen Platte reibt, verbunden durch die San-Andreas-Verwerfung, die aussieht wie eine riesige Narbe, auf der man auf dem Earthquake Trail sogar wandern und die schönen Wapiti Hirsche beobachten kann. Aber es ist ein seltsames Gefühl, und so ganz werde ich die Angst vor einem Erdbeben auch nicht los. Irgendwie ist diese Landschaft lebensgefährlich. Und schön.

Der März ist kühl und morgens und abends wehen dünne Nebellaken und Weißwolken durch die Luft. Wenn man nach draußen schaut, sieht alles unwirklich aus. Wir verbringen zusammen mit zwei amerikanischen Freunden die Feiertage in einem rustikalen Blockhaus, das auf Stelzen steht und so viele große Glasfenster hat, dass es mir unheimlich ist, weil ich mich unablässig beobachtet fühle. Besonders nachts. Ich meine, draußen in der Dunkelheit lauter schwach leuchtende gelbe und grüne Augenpaare zu sehen, und ganz sicher streifen hier auch zahlreiche Tiere vorbei, vor allem Waschbären, die nachts sogar direkt unter dem Haus rumoren. Zumindest hoffe ich, dass es nur Waschbären sind. Ich traue mich im Dunkeln kaum aus dem Bett. Schon gar nicht ins Bad, das ebenfalls ein riesiges Glasfenster ohne Vorhänge und eine große Glastüre hat. Ich wage nicht, das Licht anzumachen, damit man mich nur ja nicht sieht. Wer weiß, ob nicht auch Monster oder Mörder da draußen herumlungern und mit hungrigem Blick hereinstarren. Die Assoziationen sind höchst unangenehm, denn ich habe schließlich oft genug Alpträume, in denen Bäder oder Zimmer mit durchsichtigen Wänden vorkommen, daher läuft meine innere Alarmanlage auf Hochtouren.

Am Ostersonntag machen wir eine weite Wanderung bis hinunter zum Leuchtturm, wo man mit etwas Glück die riesigen Grauwale vorbeiziehen sehen kann. Doch wir begegnen an diesem Tag nur schnellen Wapitis, brüllenden kalifornischen Seelöwen und krächzenden Raben. Stundenlang sind wir hoch oben auf den Klippen, am Ende bin ich so müde, dass ich kaum noch gehen kann.

Die Bäume, zwischen denen das Blockhaus liegt, erinnern mich an die alten weisen Ents aus Tolkiens „Herr der Ringe“, und fast erwarte ich, dass sie sich bewegen und immer näher ans Haus heranrücken. Sie sehen aus wie magere greise Waldwesen und haben lange grüne Flechtenbärte, die im Wind flattern und fast bis auf den Boden reichen. Morgens hört man den Nebeltau schwer und laut heruntertropfen. Im Inneren des Stelzenhauses ist trotz der Osterkälte noch recht warm, denn wir haben einen riesigen offenen Kamin, in dem der amerikanische Freund abends das Holzfeuer anzündet. Trotzdem ist die Unterseite meiner Matratze, die auf dem Boden liegt, am Morgen so feucht, dass wir sie umdrehen und trocknen lassen müssen. Das Blockhaus erinnert mich an eine riesige offene Scheune, geräumig und lichtdurchflutet. Riechen kann ich selbst vom Feuerrauch nicht viel, denn meine Nase ist völlig zu. Ich habe mir im kalt klimatisierten Flugzeug eine Erkältung eingefangen, die kurze Zeit später in der trockenen Wüstenhitze spontan verschwinden wird, doch das ahne ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Einer der Gründe, warum ich die kalifornischen Wüsten so liebe. Besonders Death Valley, denn da vertrocknete die Erkältung.

Draußen vor dem Blockhaus hängen Wind Chimes, die beim leisesten Luftzug sanft und meditativ klingeln, und für mich ist ihre Musik so angenehm, dass mir dabei Schauern über den Rücken rieseln. Fast fühlt es sich an, als würden die Töne meine Haut zärtlich kitzeln. Es ist ein großes Windspiel, es hängt gleich vor dem Haus, und erst als ich es näher betrachte, entdecke ich den kleinen Grauwal-Anhänger aus Metall. Ach, hätte ich nur auch so ein Windspiel, denke ich und halte fortan in allen Läden Ausschau danach, doch ich werde nicht fündig. Inzwischen habe ich hier im Garten gleich mehrere Wind Chimes aus den USA, von einem Hersteller, der Woodstock heißt, leider alle ohne Wal, und auch ein kleines deutsches gleich vor dem Fenster. Es heißt „Elfenreigen“ und klingt auch so. Ich habe eine milde Synästhesie (Verknüpfung von mehreren Sinnen), was Töne und Musik betrifft, und nehme Klänge und Stimmen nicht nur mit dem Gehör, sondern auch mit dem Körper wahr, an sehr unterschiedlichen Stellen, meistens ist es eher lästig und unangenehm. Schlagzeuggewitter und Rap, Karnevalsschlager und jede Art von lauter oder aggressiver Musik können mein Herz gefährlich aus dem Takt und meine Laune zum Überkochen bringen und Opern und E-Gitarren machen mir mitunter migräneartige stechende Kopfschmerzen. Manche Stimmen bohren sich mir gar spitz und stechend ins Gehirn. Doch es gibt Ausnahmen. Wenn Mark Knopfler E-Gitarre spielt, fühlt es sich angenehm an, und das durchaus heftige Schlagzeug in „Bridge over Troubled Water“ und „In the Dutch Mountains“ versetzt mich geradezu in Entzücken. Richtig bemerkt habe ich meine Synästhesie erst, als ich durch Covid nicht mehr riechen und schmecken konnte und mich bewusst mehr auf meine anderen Sinne konzentriert habe. Ich habe damals sehr viel Musik gehört, und irgendwann fiel mir auf, dass ich offenbar gänzlich anders wahrnehme als die Menschen um mich herum. Heute genieße ich diese Eigenheit durchaus. Musik kann sehr heilsam sein, auch beim Trauern. Man muss nur die richtige Musik auswählen. Am besten die aus einer anderen, unbelasteten Zeit. Es gibt Stimmen und Lieder, die mich im Moment völlig aus der Fassung bringen würden. Ich kann sie ebensowenig ertragen wie den Blick auf den verlorenen Grabhügel. Aus der Point Reyes-Erinnerung höre ich den amerikanischen Freund klar und deutlich bis hierher Gitarre spielen und mit weicher Stimme „San Francisco“ singen. Und schmecke und rieche den frischen Koriander, den er in seiner weißen Küche in Oakland so großzügig in den Salat streut. Koriander habe ich in den letzten Monaten tatsächlich ziemlich häufig gegessen. Es ist offenbar eins meiner Trostkräuter.

Halfmoon Bay 89

An meinem letzten Tag in Point Reyes stehe ich endlich vor dem atemberaubenden Tunnel aus Zypressen. Monterey Cypresses, erklärt der amerikanischer Freund. Gepflanzt wurden sie um 1930 und sind die einzigen großen Bäume, die das raue, stürmische Ozeanklima hier aushalten. Ich betrachte die gebogenen Bäume und denke, dass ich noch nie so etwas Schönes gesehen habe. Aber das denke ich auch, als ich zum ersten Mal die Redwoods und die Sequoias sehe. Und den Grand Canyon und Death Valley. Die Landschaften und Bäume Nordamerikas gehören bis heute zum Eindrucksvollsten, an das ich mich erinnern kann. Selbst wenn ich jetzt nur leise die Namen sage, durchströmt mich ein Glücksgefühl. Seacove Cypress Trees. Moss Beach. Halfmoon Bay. Yosemite. Big Sur. Es gibt ein glückliches Foto von mir in der romantischen Half Moon Bay. Es ist der letzte Abend, es dämmert gerade und ich trage einen dicken warmen braungemusterten Pullover, den meine Mutter mir gestrickt hat. Lange war er mein Lieblingspullover. Bis meine Mutter ihn eines Tages aus Versehen zu heiß gewaschen hat. Danach war er untragbar klein und kratzig und ich hätte ihn am liebsten beweint. Nur auf den Fotos ist er noch so wie er sein sollte. Vielleicht hätte ich ihn selbst geschrumpft und struppig behalten sollen, dann könnte ich ihn jetzt hervorholen und ans Gesicht halten. Sicher würde er immer noch nach Kalifornien und Halfmoon Bay duften. Und nach Zypresse. Monterey Cypress.

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Trees and Stories – Linden

Lindenblätter (pixabay/Nennieinszweidrei)

Im Kirchengarten in meinem Viertel stehen viele große alte Linden. Sie haben längst aufgehört zu blühen, spenden an heißen Tagen aber immer noch ihren wohltuend luftigen „linden“ Schatten. Nach ihrem Duft habe ich mich besonders gesehnt, als ich durch Covid meinen Geruchssinn verloren hatte, und als ich sie zum ersten Mal wieder wahrnahm, habe ich so laut „Linden!“ gejubelt, dass mich anderen Passanten auf dem Bürgersteig verständnislos angestarrt haben. Wenn ich an der Kirche vorbeigehe und in die Wolke aus Lindenduft eintauche, bleibe ich immer stehen und genieße den Moment. Perfect Bliss, wie ich solche Zustände der Entrücktheit auf Englisch nenne.

Lindenblüten (pixabay/OllaPustovalova)

Vieles geht mir bei ihrem Anblick durch den Kopf. Linden, Tilia, sind besondere Bäume. Ihr weiches Holz lässt sich hervorragend bearbeiten und ist ideal für Bildhauer und Schnitzer, auch wenn es leider anfällig für Holzwurmbefall ist. Aus Lindenholz wurden die berühmten Statuen und Altäre von Tilman Riemenschneider und Veit Stoß geschaffen. Lindenholz diente zur Fertigung von Krippen, Spielwaren, Küchengeräten, Furnieren und Fässern, Streichhölzern, Gitarren und Harfen. Aus dem weichen, geschmeidigen Lindenbast wurden früher sogar Kleidung und Matten hergestellt sowie vielerlei Gebrauchsgüter geflochten, etwa Bienenkörbe, Schnüre, Seile und Sattelzeug. Bis heute macht man daraus Bindebast für Gärtner.

Bei den Germanen galt die Linde als heiliger Baum der Freya. Im Christentum wurde sie später zum Marienbaum, in dessen Nähe oft ein Schrein, eine Kapelle oder ein Wegkreuz stand. In Deutschland gab es vielerorts Dorf- und Friedenslinden. Linden wurden bald zum Baum des Volkes, zum beliebten Versammlungsplatz und wegen des Dufts und der hübschen herzförmigen Blätter auch zum Baum der Verliebten. Unter Linden wurden Urteile gesprochen und wichtige Bekanntmachungen verlesen. Luther soll über sie gesagt haben: „Unter den Linden pflegten wir zu singen, trinken und tanzen und fröhlich zu sein, denn die Linde ist uns ein Friede- und Freudebaum.“ Mich erinnert der Duft auch an meine Mutter, die ein Eau de Toilette von D’Orsay liebte, das „Tilleul“ hieß. Es duftete ganz zart und zum Schluß roch es nach Heu. Leider kann man es schon lange nicht mehr kaufen, sonst hätte ich bestimmt eine Flasche davon hier bei mir.

Linden sind außerdem heilkräftige und nährende Bäume, aus ihren Blüten werden der bewährte Lindenblütentee, das hautberuhigende Lindenblütenwasser und wohlschmeckender Honig und Sirup gemacht. Sie können sehr alt werden, manchmal sogar über 500 Jahre. Doch mit dem zunehmend heißen Klima kommen die Bäume nicht zurecht und werden immer anfälliger für Schädlinge und Krankheiten.

Bald tragen sie wieder ihr unauffälliges sanftgelbes Herbstlaub, doch jedes Jahr im Juni strömen ihre winzigen Blüten einen geradezu betörenden Duft aus, der Bienen und Hummeln magisch anzieht. Leider stellen sich dann gleich auch scharenweise die Blattläuse ein. Doch während sich die Anwohner und Parkplatzsucher wohl vor allem über den herabtropfenden klebrigen Honigtau ärgern, kann man auf der Bank im Gemeindegarten direkt an der lärmenden Aachener Straße den Lindenduft in vollen Zügen genießen und unbeschwert seinen Träumen und Erinnerungen nachhängen.

Kleiner Nachtrag zum letzten Post:

Übrigens hat sich die Telekom inzwischen in einem arg verspäteten Brief zu einer Erklärung für die Sperrung meines Handy-Anschlusses herabgelassen. Hätte ich diese Information gleich am Tag der Sperrung als Mail erhalten, wie sonst sämtliche Nachrichten der Telekom, wären mir Schreck und Panik erspart geblieben. Ich gebe übrigens jetzt auf und werde den Anschluss meines Mannes kündigen. Ich bin den Clinch mit der Telekom leid, auch wenn es mich stark an Erpressung erinnert. Kleiner (nicht von mir bearbeiteter!) Ausschnitt aus dem Brief:

„Unsere Anteilnahme zu Ihrem Verlust. Gern unterstützen wir Sie dabei, in dieser sicherlich schwierigen Zeit wenigstens dieses Thema gut zum Abschluss zu bringen. Vorher sind allerdings noch einige Schritte erforderlich – denn durch die Übernahme entsteht ein neuer Vertrag mit Ihnen. Lassen Sie sich ruhig Zeit dafür: Wir haben die Anschlüsse für 30 Tage stillgelegt.“ 

Ja, tatsächlich fett gedruckt und in einer Extrazeile, als wäre es für den Briefempfänger eine wunderbare, hilfreiche Nachricht. Wer in aller Welt kommt auf solche kundenfeindlichen, unsensiblen Ideen? Man sollte der Person und ihrem/seinem Partner (oder Partnerin) zur Belohnung auf jeden Falls sofort die Handy-Anschlüsse für 30 Tage sperren. Oder besser noch: für 60 Tage. 

Linde im Herbst (pixabay/Antranias)

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Rooms and Stories – Telefon und Hochzeitspuppe

Hochzeitspuppe

Wie findet man als Schriftstellerin nach monatelangem antriebslosem Verstummen zurück zum Schreiben? Greift man beherzt in seine Erinnerungen und betrachtet irgendein trauriges oder glückliches Erlebnis? Oder ein Zimmer? Meine „Rooms und Stories“ haben mir stets viel Freude und wenig Mühe gemacht. Aber welche Erinnerung und welchen Ort soll ich wählen? Vielleicht das Zimmer, in dem ich gerade sitze und nachdenke? Und welchen Trigger? Vielleicht irgendeinen Gegenstand, den ich gerade sehe und der mir viel bedeutet? So wie Wedding, meine Hochzeitspuppe?

Oder soll ich zuerst über das schreiben, was mir auf der Seele liegt und seit Mitte Februar viel Lebens- und Schreibkraft raubt, und mich auf diese Weise endlich davon befreien? Soll ich über die schier unüberwindbaren Hürden der deutschen Bürokratie schreiben, die sich jedes Mal auftürmen, wenn ich versuche, unser gemeinsames Leben zu entwirren und das, was zurückbleibt, neu zu ordnen? Warum sagt einem keiner, was einen alles Schreckliches erwartet, wenn man Verträge ändern, neu abschließen,  kündigen oder übernehmen will?  Seit dem Tod meines Mannes prasselt es nur so auf mich nieder und ich muss mich gefühlt täglich mit nervigen Computerstimmen herumschlagen, etwa der digitalen Elli, die ich regelmäßig beschimpfe. Oder mit endlosen Warteschleifen und kakophonisch bedudelten Leitungen. Meine Höchstleistung in dieser Woche waren 55 Minuten, bevor ich aufgab und eine halbe Packung Eis verzehren musste, um mich einigermaßen abzukühlen. Täglich Hotlines, die keine sind, weil eh keiner drangeht, die einen aber irgendwann mit einem Klack ins summende Nirvana schicken (Hallo? Ist da jemand? Oder ist der Akku leer?) oder nach heftiger Dudelei „Sie rufen außerhalb unserer Dienstzeiten an, bitte probieren Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal!“ sagen und hinausbefördern oder nach viel Tastendrückerei und Ja-Nein-Sagen ins Dauerpiepen schleudern. Durch Schweigen oder Brüllen des Zauberworts „Mitarbeiter!“ bekommt man einige Verbindungen zwar in den Griff, aber viele Computer wiederholen nur stur „Ich habe Sie nicht verstanden.“ Echte Menschenwesen in der Leitung sind echte Highlights.

Als ich mich vor zehn Jahren um den Nachlass meiner Eltern kümmerte, ist mir nichts dergleichen passiert, doch das lag wohl an meinen unvernetzten Eltern. Aber vielleicht waren es auch noch andere Zeiten, darüber habe ich ja auch schon früher geschrieben. Weniger digital, einfacher und irgendwie menschlicher. Heute geht so gut wie gar nichts mehr einfach. Nicht mal in Shops. „Das dürfen wir nicht mehr“, ertönt das Mantra. Liegt es an meinem Alter? Ich bin doch eigentlich recht interneterprobt und computerfreundlich. Nur Telefonieren fand ich schon immer lästig. Gab es da nicht früher immer einen kompetenten  Menschen mit Durchblick, den man anrief und der einem half? Heute gibt es tausende hektische Menschen, die keine Zeit haben, richtig zuzuhören, und einen nach einem halben Satz schon zum Nächsten durchstellen, bis man zum Schluss bei jemandem landet, der genauso verwirrt ist wie man selbst. „Welcher Tünnes hat Sie denn durchgestellt? Ich bin doch für Glasfaser zuständig!“ Ach, wie das alles nervt!

„Halten Sie Ihre zehnstellige Pin bereit, die vier letzten Ziffern Ihrer IBAN-Verbindung, Ihr Telefonkennwort, Ihre Mitgliedsnummer, Kundennummer, Kundenkontommer, Vertragsnummer, Beitragsnummer, Abonummer oder am besten alles gleichzeitig. Wie lautet die SIM-Karte Ihres Handys? Wie bitte? Sollte ich die auch noch im Kopf haben? Und welche will er hören? Die von mir? Die von meinem Mann? Photo Push, gescannte Vierecke und Token hasse ich auch. Und sie hassen mich und lassen es mich fühlen.

So gar nicht gerechnet hatte ich mit den bizarren Online-ID-Prozeduren. Bestimmt sind sie nützlich, nur bei mir geht natürlich mal wieder gar nichts. Ich versuche mein Glück im T-Punkt. „Sie bekommen jetzt einen Link und können sich dann von Zuhause aus bequem einloggen.“ Früher ging das doch alles im Laden? Ich frage nach. „Das dürfen wir leider nicht mehr. Datenschutz.“ Und ich dachte, wir wären inzwischen eh alle gläsern? Er füllt aus, sendet und man schickt mir den Link aufs Handy, ich setze mich an den Schreibtisch und wähle mich ein. Ein Fenster ploppt auf und da sitzt jemand mit Kopfhörern im Monitor und möchte meinen Perso sehen. Er duzt mich. Dann stutzt er. „Tut mir leid, der Mitarbeiter im Geschäft hat das Datum falsch abgeschrieben. Das kann ich nicht ändern. Du musst dir ’nen neuen Link holen. So können wir dich nicht identifizieren.“ Und ganz ohne mein Wissen und Wollen sperrt mir genau in diesem Moment irgendwer draußen im Internet, vielleicht ebendieser Fröhliche mit Kopfhörern oder gar ein feindseliger Computer, mein E-Mail-Konto, wie sich später herausstellt! Klar konnte sich das keiner erklären, als es schließlich aufflog. Es ergab ja auch keinen Sinn. Schließlich ging es um unsere Handys und nicht um meine Mails. „Warum sollten wir sowas tun? Der Vertrag ist doch gar nicht gekündigt. Das kann nicht sein!“ Und wie das sein kann! Ich habe es leider erst gemerkt, als mich Freunde anriefen, weil ihre Mails zurückkamen. Da war das Malheur mit der Paypal Lady bereits passiert. „Mit deinem Anschluss stimmt was nicht!“ sagte meine Freundin. Man hatte mich leider auf Freemail zurückgestuft, und dadurch war mein Postfach so voll, das nichts mehr ging.

Doch das wußte ich natürlich zunächst gar nicht. Nach dem mißglückten ID-Versuch also wieder hoffnungsvoll in den Shop. Ich erhielt einen neuen Link, der allerdings nie ankam, denn ich kriegte ja keine Mails. Nochmal zum Shop. „Der Link kommt nicht!“ „Das kann bis zu sechs Stunden dauern, da muss man geduldig sein“, meinte der junge Mann. Aber beim ersten Mal war er doch sofort da? „Dann probieren Sie doch den ersten Link nochmal.“ Tat ich, klappte nicht. „Ihr Link ist defekt.“  Inzwischen ging ich ihm sichtlich auf den Keks. Wieder nach Hause. Warten. Kein Link. Am nächsten Tag wieder zum Shop. Der junge Mann verzog schmerzlich das Gesicht. „Bei meinem Opa hat das gut geklappt. Mehr kann ich nicht tun. Am besten anrufen.“ Er gab mir eine Nummer. Anrufen brachte nichts. Auch nach mehrfachem Durchstellen bis zum einsamen Glasfasermann nicht. Das Online-Formular tat es auch nicht, ließ sich nicht verschicken. Irgendwann war klar, dass ich keine Mails mehr bekam. Und keine Hilfe. Ich musste selbst die Lösung finden, hatte ja ein ganzes Wochenende Zeit. Ohne Mails, dafür aber mit Internet und Panik. Dann der Geistesblitz. Im Kundenportal, das zum Glück noch für mich geöffnet war, sah ich, dass ich richtig lag, und buchte den Tarif einfach wieder auf gebührenpflichtig um. Es klappte! Schwupp! Entsperrt! Den Juni hatte ich jetzt zwar doppelt bezahlt, aber auch egal. Sekundenlang war ich stolz auf mich und schöpfte Hoffnung. Aber da hatten sie mir auch noch nicht komplett das Kundenkonto gesperrt.

Von den inkompetenten Menschen, bei denen man bei diesen Telefon-Odysseen häufig landet, und den zahlenstrotzenden Online-Formularen, die sich entweder nicht abschicken oder nicht gänzlich ausfüllen lassen (Ihre Adresse ist nicht korrekt! WAS?) oder zwischendurch wie von Geisterhand leeren, so dass man alles nochmal (und nochmal!) eingeben muss, bis man keinen Bock mehr hat, will ich lieber gar nicht erst reden. Oder doch. Schon ploppt es auf, meist mit kleinen Illustrationen: Error! Tut uns leid, das hat nicht geklappt! Oops! Probier es später nochmal! Erst vor kurzem kam endlich die Erklärung: „Das liegt an ihrem Browser, mit dem geht das nicht. Laden Sie sich lieber einen anderen runter.“ Hätte ich das nur vorher gewusst! Wie viel Zeit und vor allem Energie ist mir dadurch verloren gegangen! Wohlmeinende Sätze von Unbeteiligten geben mir den Rest. „Dann hast du wenigstens was zu tun und bist abgelenkt“. ABGELENKT? So langsam glaube ich, dass mich keiner, aber wirklich keiner, mehr versteht. Ablenken wäre wunderbar, aber dazu habe ich weder die Zeit noch die Kraft bei all dem sinnlosen Stress, der mich zur Verzweiflung treibt! Kann man sich mit Stress und Ärger überhaupt ablenken? Ich kann es nicht!

Offenbar ist es wirklich unmöglich, als Mitbenutzerin (26 Jahre lang!) den Handyvertrag eines verstorbenen Vertragsinhabers zu übernehmen. Man kennt mich als Kundin nicht mal, obwohl ich jeden Monat brav (vom eigenen Konto!) Geld für den erweiterten Mail Service überweise (s.o.). Aber wahrscheinlich sind meine Windmühlenkämpfe langweilig und nur für Leidensgenossen tröstlich. Sollte ich vielleicht einen Ratgeber verfassen?

Shelfie

Besonders verletztend finde ich, wenn das Gespräch beendet wird, nachdem ich gesagt habe, dass mein Mann verstorben ist. Die glauben mir offenbar nicht! Das ist mir bisher dreimal passiert und war jedes Mal richtig schlimm. Wird den Mitarbeiterinnen (bisher waren es merkwürdigerweise nur Frauen) etwa eingebläut, dass Anrufe, in denen Verstorbene vorkommen, grundsätzlich Fakes sind? „Mein Beileid“ klingt bereits irgendwie mißtrauisch, und wenn ich dann irgendeine Information erfrage, klinken sie regelrecht aus und kreischen „Ich darf Ihnen keine Auskunft geben, das ist Datenschutz!“ Alle drei hatten offenbar dieselbe Angst: „Woher soll ich wissen, dass Sie keine Testanruferin sind? Sie haben ja keine Ahnung, wie oft das hier passiert, eine Kollegin hat dadurch sogar ihren Job verloren!“ Lady Paypal und Lady Bausparkasse waren besonders grausam. Lady Paypal teilte mir vor dem Wegdrücken noch atemlos mit, dass sie das Konto meines Mannes gesperrt habe. „Tote müssen wir sofort sperren. Datenschutz. Das Konto dürfen Sie gar nicht selbst schließen!“ Dummerweise hatte ich sie nur angerufen, weil ich die Bestätigungsmail nicht bekam, nachdem ich eine Veränderung vorgenommen hatte. Kein Wunder, es war ja genau das Wochenende, an dem mir die Telekom die Mails gesperrt hatte. Vor meinen Augen versank das Paypal Konto meines Mannes, ich konnte nicht mal mehr einen Blick in den Verlauf werfen. Dass ich eine Vollmacht und ein Testament besaß, scherte Lady Paypal nicht.

„Ich darf Ihnen keine Auskunft“ schrie auch Lady Bausparkasse und drückte mich weg. Das „geben“ war schon nicht mehr zu hören. Vorher machte sie sich sogar noch über mich lustig. Ich hatte offenbar herzzerreißend geseufzt. „Ja, da können Sie seufzen, so viel Sie wollen!“ rief sie und ahmte meinen Seufzer nach. „Aber von mir erfahren Sie gar nichts. Datenschutz! Probieren Sie mal diese Nummer!“ Sie leierte in Windeseile eine Nummer herunter. Nachdem ich so hart abgeschnitten worden war, kauerte ich am Schreibtisch wie eine begossene Pudelin. Die Nummer wusste auch nicht weiter, der mir bekannte Sachbearbeiter war im Urlaub, also Brief schreiben. Ich wollte doch nur wissen, was ich tun muss, damit das Geld in Zukunft von MEINEM Konto abgebucht wird! Sepa-Mandat und so. Sonst nichts!! Ich erlaube immer, dass Gespräche aufgenommen werden dürfen, fällt mir gerade ein, dadurch wird man nämlich schneller durchgestellt, aber vielleicht ist ja genau das mein Fehler. Vielleicht halten sie mich für eine Testanruferin, weil da noch jemand mithört?

Bis heute (diesmal von der Tageszeitung, zum vierten Mal) bekomme ich Mahnungen von Abos, die gekündigt sind oder gar unnötig abgebucht wurden. „Eigentlich hätten Sie das e-Paper gar nicht zusätzlich zu bezahlen brauchen, denn Sie haben ja das Komplettpaket gebucht.“ Trotzdem bekommt man das Geld nicht zurück! Angeblich geht das nicht. Die Computer sind so eingestellt. Auch dass man jahrelang veraltete überteuerte Tarife bezahlt hat, stellt sich plötzlich heraus. Mein Mann hat das offenbar nie überprüft und die Versicherungen haben natürlich die Klappe gehalten, weil es für sie besser war. Die KVB drückt am Telefon ihr Mitgefühl aus und versichert mir, ich brauche mit all meinem Stress die Karte meines Mannes nicht zurückzuschicken, nur um mir dann eine Woche später eine Mahnung zu schicken, weil ich genau das nicht getan hatte. Das ließ sich aber schnell und kundenfreundlich wieder in Ordnung bringen. Der Computer ist schuld. „Der macht das automatisch.“

Als Sahnehäubchen hat mir letzten Dienstag, nachmittags um Punkt drei, irgendein Idiot (daher die 55 Minuten Warteschleife, spätabends, vom Festnetz) nach dem Abbuchen der Gebühren für beide Handys von meinem Konto (erstmals richtig!) ohne Vorwarnung und völlig grundlos das Handy gesperrt! Das Handy meines Mannes auch. Die Meldung „Kein Netz“ mitten in Köln fand ich zwar leicht befremdlich, alle anderen hatten schließlich eins, vielleicht nur neu starten, dachte ich und tat es. Nichts. Aber abends kam dann Gedudel und „Dieser Service steht Ihnen nicht zur Verfügung“, als ich versuchte, erst eine Freundin und dann das inzwischen stumme Handy meines Mannes anzurufen. Das versetzte mich dann doch in Unruhe. Abgeschnitten! Offenbar derselbe Übeltäter, der neulich mein Mailkonto geblockt hat. Immerhin hat mich der geduldige Mensch, den sie mir nach dem üblichen „Dürfen wir Sie innerhalb der nächsten zwei Stunden zurückrufen?“ ans Ohr schickten, flugs wieder frei geschaltet. In Sekundenschnelle, und er hat sich auch sehr nett entschuldigt. „Warum haben die das bloß gemacht?“ rätselte er. Weiß der Teufel! Das Handy meines Mann war ja ebenfalls gesperrt. Obwohl ich für beide bezahlt hatte. Zugegeben, selber schuld. Ich habe seinen Anschluss ja aus rein sentimentalen Gründen immer noch nicht gekündigt. Weil ich es tröstlich finde, seine Stimme bei der Ansage zu hören, sein buntes Hintergrundbild aufleuchten zu sehen und seinen Klingelton („Am Strand“) zu hören. Es fühlt sich dann an, als wäre er noch hier. Ich rufe ihn tatsächlich täglich an. Mehrfach. Und lade sein Handy jede Nacht neben meinem auf. Mails bekommt er auch noch, natürlich auch von mir, doch ich habe seine Adresse inzwischen aus fast allen Mailing-Listen entfernt. Nur nicht aus der Orkney Archeological Society-Liste, weil er Orkney so liebte. Vielleicht kommt ja auch irgendwann noch eine richtig wichtige Mail? Die darf ich auf keinen Fall verpassen. Abbuchen geht allerdings bloß noch von meinem Konto, seins musste ich leider schließen.

Es gibt übrigens auch Firmen, Versicherungen und Anbieter von whatever, die während der Umstellungszeit doppelt abgebucht haben. Sogar abgebucht, zurückgebucht, wieder abgebucht. Irre. Einmal bin ich ausgeklinkt, denn es war ein richtig hoher Versicherungsbetrag, der aus beiden Konten verschwand. Die Box-Versicherung für alles zusammen, Haus, Auto, Haftpflicht. Der Versicherungsmann schwor, er habe alles richtig gemacht. „Ich hab das korrekt umgetragen. Das Abbuchen macht der Computer, der ist voreingestellt.“ Ist das jetzt KI? Komischerweise dauert das Zurückbuchen ewig. Vielleicht sollte man den Computer da auch voreinstellen?

Nun sitze ich also hier in meinem geliebten Zimmer zwischen übervollen Regalen mit Büchern und Staubfängern aller Art, denn ich bin Sachensammlerin wie Pippi Langstrumpf, und mein Blick kehrt zurück zu meiner balinesischen Hochzeitspuppe. Wenige Monate, bevor ich damals meinen Mann kennenlernte, hatte ich die glorreiche Idee, mir eine komplizierte Übersetzung (Architektur, sauschwer) für einen balinesischen Bekannten nicht mit einem Honorar, sondern mit einer antiken Stabpuppe seiner Wahl bezahlen zu lassen. Offenbar meinte er es echt gut mit mir, denn als er kurz darauf nach Bali flog, brachte er mir schön verpackt die Hochzeitspuppe mit. Davon hatte ich noch nie gehört. „Die funktioniert“, versicherte er mir. „Todsicher. Du wirst schon sehen!“ Kein Wort habe ich ihm geglaubt, aber die etwas düster aussehende ernste Puppe mit den hochgezogenen Schultern gefiel mir. Dass ihre Wirkung bereits nach kaum zwei Monaten eintreten würde, hätte ich nie im Leben für möglich gehalten, zumal ich damals auch noch äußerst ehefeindlich eingestellt war, aber Wedding veränderte mein Leben unbeirrt und nachhaltig. Inzwischen ist sie arg staubig, das Gewand zerfällt ihr am Leib und ich muss sie regelmäßig von Katzenhaaren befreien, aber sie liegt mir sehr am Herzen und ich werde ihr immer dankbar sein. Auch dafür, dass sie mich heute wieder zum Schreiben gebracht hat.

Shelfie

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